4. Brief.

[22] Du wirst es in der Welt noch oft erfahren, lieber Wilhelm, daß es bey den meisten Sachen nicht allein darauf ankommt, daß sie geschehen, sondern auch wie sie geschehen. Die beste Sache verliert oft ihren ganzen Werth, wenn sie nicht auf eine gute Art verrichtet wird. Daher ist es ein sehr schönes Talent, diese gute Art in allen Dingen, die man sagt und thut, zu besitzen. So ist es auch mit der Höflichkeit.

Soll Deine Höflichkeit gefallen und alle die guten Wirkungen hervorbringen, die Du wünschest, so muß sie folgende wesentliche Eigenschaften und nähere Bestimmungen haben.

[22] Erstlich muß sie natürlich, leicht und kurz seyn.

Alle Höflichkeitsbezeigungen müssen mit jener leichten, ungesuchten kurzen Art, mit jener natürlichen Gelassenheit und Ruhe geschehen, die das Gepräge der Gesinnungen des Wohlwollens, der Hochachtung, der Ehrerbietung sind, welche sie ausdrücken sollen. Weitschweifigkeit, Affectation, Uebertreibungen, auffallend ängstliches und studirtes Bestreben zu gefallen, sichtbare Anstrengungen sich angenehm zu machen, wie die von Philint im Moliere, ermüden, erregen Unwillen, erwecken Ekel, setzen Andere in Verlegenheit, machen die Gesinnungen verdächtig und verfehlen nicht nur gemeiniglich des Zwecks, sondern bewirken oft das Gegentheil und beleidigen. Diese Fehler haben immer die Höflichkeitsbezeigungen derer, welche selten in guter Gesellschaft sind, derer, welche nicht überall, in jeder Gesellschaft, gegen Jedermann, gegen Gleiche und Niedere sowohl als gegen Höhere, sondern nur gegen diese, oder etwa nur in großen feierlichen Gesellschaften, höflich seyn zu müssen glauben, wenn sie in ihren Feyerkleidern [23] erscheinen, daher denn ihre Höflichkeit eben so schwerfällig und prunkvoll, so steif und gesucht und so umständlich ist, als ihr ganzes Aeußere, und endlich derer, welche keinen Geschmack für die einfache Wahrheit, für das natürlich Schöne haben, sondern gerne alles übertreiben, alles entstellen. Die wahre Höflichkeit zeigt sich da am meisten, wo ein gemeines ungeübtes Auge sie am wenigsten findet. Ich habe so manche Personen gesehen, welche, wenn sie aus der guten Gesellschaft, besonders Höherer kamen, wo sie mit ihrem umständlichen, ceremoniösen Wesen nicht fortkommen, und ihre studirten, weitläuftigen Complimente nicht an den Mann bringen konnten, sich in diese Art gar nicht zu finden wußten, und ihre große Verwunderung zu erkennen gaben, daß da alles, wie sie sich ausdrückten, so ohne alle Umstände zugehe. Sie bildeten sich ein, daß zur Höflichkeit große Umstände, ein steifes ceremoniöses Wesen gehören, kannten aber jene Ceremonie nicht, die in jeder guten Gesellschaft herrscht, als eine Schutzwehr für die guten Sitten, die aber für Leute von guten Sitten keine Ceremonie ist, weil gegen sie diese Schutzwehr nicht nöthig ist.

[24] Zweytens muß die Höflichkeit frey und zwanglos seyn. Höflich kann, darf und muß man überall seyn. Der höfliche Mann äußert daher überall gegen Jedermann, zu jeder Zeit, die angenehmen Eigenschaften seines gebildeten Geistes und Herzens, seine Talente und Kenntnisse, Gefühle und Gesinnungen der Achtung und des Wohlwollens, mit Freymüthigkeit und Unbefangenheit, mit einer gewissen Behaglichkeit, ohne ängstlichen Zwang und sclavische Furcht, ohne alle Verlegenheit. Er ist überall seiner Sache gewiß. Mit seiner gewohnten, immer gespannten Aufmerksamkeit und richtigen Beurtheilung wird er diese Freymüthigkeit und Zwanglosigkeit richtig zu leiten und zu modifiziren und die Gränzlinien zu ziehen wissen, daß dieselbe nicht in Anmaßung ausarte; allein er wird diese Wachsamkeit, diese Zurückhaltung nicht merken lassen, er wird immer ganz offen, ganz sorglos und unbekümmert handeln; er wird, z.B., alles zu sagen scheinen, was er denkt und fühlt, und wird nur das sagen, was er für gut und schicklich halt; er wird in einer Gesellschaft sich der Unterhaltung nie bemächtigen, sondern immer Andere unmerklich zu veranlassen wissen, das Ihrige nach ihrer[25] Art, wie sie es wünschen können, zu derselben beyzutragen.

Drittens muß Deine Höflichkeit würdevoll seyn, das heißt, nicht etwa mit einer steifen, kalten Erhabenheit, mit abgemessenen Mienen, Worten, Bewegungen und Stellungen verbunden; nein, sondern alle und jede Aeußerungen Deiner Höflichkeit mußt Du mit einer vernünftigen richtigen Selbstschätzung, die den Weg der klugen, edlen Bescheidenheit führt, begleiten und im Gefühle Deiner Menschenwürde, Deiner Rechtschaffenheit, Deiner guten Grundsätze, Deiner wahren Ehre, Deiner Unfähigkeit, schlecht und niederträchtig zu handeln, Dir nichts vergeben und Dich nie zur kriechenden Schmeicheley, zu einem verächtlichen, blos leidenden Nachgeben, oder zu einer erniedrigenden Theilnahme an unschicklichen Dingen, aus übel verstandener Gefälligkeit oder falscher Scham herabwürdigen. Den Fehlern Anderer, und wenn es die höchsten Personen wären, schmeicheln und huldigen, der Verleumdung, der Medisance, den Lügen, den Thorheiten, dem Unsinne seinen Beifall zulächeln, den bloßen Nachhall von Andern machen,[26] das heißt nicht höflich seyn, das ist Schwachheit, Niederträchtigkeit, bey welcher man in jedem Falle mehr verliert als gewinnt. So wirst Du, lieber Wilhelm, in Deinem ganzen Betragen dasjenige, was Du jedem Andern zu leisten hast, mit demjenigen, was Du Dir selbst schuldig bist, mit Stärke und Muth, mit Festigkeit und Zuversicht zu vereinigen, obgleich diese Stärke und Festigkeit auf eine sanfte Art zu mildern und mit einer klugen Bescheidenheit unbemerkbar zu machen wissen. Du wirst es nie an der, einem Höhern gebührenden Ehrerbietung ermangeln lassen, aber nie in sein thörichtes, ungerechtes Verlangen mit einer niedrigen, furchtsamen, leidenden Gefälligkeit einwilligen; Du wirst einem Niedern die größte Güte und Freundlichkeit beweisen, ihm aber nie erlauben, daß er sich mit Dir auf einen gleichen Fuß setze. Es ist nicht leicht, hier die richtige Gränzlinie zu ziehen. Es gibt Leute, welche immer daran denken, daß sie sich nichts vergeben dürfen. Sie wollen Ernst, männliche Freymüthigkeit und Offenheit zeigen, und fallen in Rohheit und Härte, in plumpe Dreistigkeit und beleidigende Unverschämtheit.

[27] Endlich müssen viertens die Formen Deiner Höflichkeit den Personen, der Zeit und dem Orte jedesmal vollkommen angemessen seyn. Es ist ein eigenes, höchst wichtiges Geschäft, lieber Wilhelm, die Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft genau kennen zu lernen. Du wirst Dir die Fertigkeit zu erwerben suchen, die verschiedenen Personen, die Zeiten, die Orte jedesmal wohl zu unterscheiden, um zu wissen, wie Du Höhere, Deines Gleichen, Niedere in ihren verschiedenen Lagen und Verhältnissen, nach allen Eigenheiten ihres Standes, Alters und Geschlechts behandeln, wie Du Dich in kleinen und großen Gesellschaften, in engen, vertrauten und in großen vermischten Cirkeln, mit mehr oder weniger Bekannten und Fremden, bey freudigen und traurigen Ereignissen benehmen, wie Du überall besonders jenen Theil der Höflichkeit, welchen man Wohlstand nennt, beobachten sollest; denn dieser bestehet eben darin, daß man einem Jeden nach seinen besondern Verhältnissen und nach der jedesmaligen. Lage, in der er sich befindet, zu jeder besondern Zeit und an jedem besondern Orte dasjenige leistet, was er fordern und wünschen [28] kann. Ein Höherer, mit welchem Du nähern Umgang, tägliche Geschäfte hast, erläßt Dir in seinem Cabinette eine Menge jener Formalitäten, wodurch Du Deine Ehrerbietung gegen ihn zu erkennen gibst; sein Ton ist vertraulich, der Deinige soll es, weil er es will, auch seyn, er siehet oft, wenn Du mit ihm Geschäfte hast, Du mußt sitzen bleiben etc. Wenn Du nun diesen Höhern am dritten Orte in Gesellschaft siehst, wolltest Du wohl da eine einzige von jenen Formen des ehrerbietigen Bettagens gegen ihn unterlassen, die er Dir in seinem Cabinette erlassen hat? So lerne überall Zeit, Ort, Personen richtig unterscheiden und Du wirst nie etwas thun, was gegen den Wohlstand ist, die Formen Deiner Höflichkeit werden jederzeit passend, schicklich und gefällig seyn. –


[29] ** den 29. Junii 1802.


Quelle:
[Anonym]: Briefe über die Höflichkeit und den Anstand oder die feine Lebensart. Leipzig 1804, S. 22-30.
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