Aus meinem Leben.1
(Nr. 6. E.K.2)

Eine vollständige Biographie zu schreiben, ist mir bei der kurzen Zeit von einer Stunde nicht möglich. Darum will ich das Wenige, [137] das ich schnell mitteilen kann, dazu benützen, einen Einblick in mein Leben zu gestatten.

Für meine erste Pflicht halte ich es, meiner Darstellung eine Bemerkung vorauszuschicken. Es könnten nämlich die Herren, die diese Zeilen zu lesen haben, auch bei mir denken, wie bei manch anderen, wo es berechtigt ist: »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm!« Da möchte ich nun sagen: »Keine Regel ohne Ausnahme!« Der Apfel fiel in meinem Falle sehr weit vom Stamme! Mit anderen Worten: Meine Eltern haben an meiner schlechten, lasterhaften Lebensweise keine Schuld. Mein seliger Vater war ein deutscher, frommer Mann, wie es heutzutage nur noch wenige gibt, und meine Mutter war die idealste, beste Mutter, die es nur geben kann.

Woher nun aber – wird man mit Recht fragen – diese Entartung? Sie rührt daher, daß ich seit meiner Kindheit das Gebot stets übertrat, das Verheißung hat, und darum traf mich der Fluch, der den Übertretern des 4. Gebotes angedroht ist. So sank ich von Stufe zu Stufe, so tief, wie ein Mensch überhaupt nur sinken kann. Ich verließ das Elternhaus nach des Vaters Tod, um ungestörter meinen Lüsten und Begierden nachleben zu können. Hierzu brauchte ich aber Geld. Arbeiten mochte ich nicht, wie ich gekonnt hatte, und zu betteln schämte ich mich; so log, betrog und stahl ich! Wiederholt bat mich die gute Mutter, nach Hause zu kommen, wiederholt folgte ich. Sie verschaffte mir jedesmal wieder eine angenehme Stellung und gab mir immer wieder die nötige Kleidung und was ich gerade bedurfte. Aber ich hielt immer nur einige Wochen aus. Dann begann wieder das alte leichtsinnige, liederliche Leben, und ich entfernte mich abermals. So tat ich seit dem Tode meines Vaters (1887) bis 1892 viermal. Während dieser Zeit erlitt ich auch mehrere kleine Gefängnisstrafen, wovon aber meine Mutter nichts erfuhr, ausgenommen eine, die ich in meiner Vaterstadt E. selbst abbüßte – 2 Monate! Endlich, am 14. Juli 1892 verließ ich wieder das Haus meiner Mutter und ging mit einer Dirne nach Straßburg, lebte dort mit derselben, besuchte die Schweiz und Tirol in ihrer Begleitung. In Innsbruck wurde ich am 8. September 1892 verhaftet und erhielt wegen Betrugs eine Strafe von 15 Monaten, die ich in Garsten bei Steyer in Oberösterreich verbüßte. Auch dort trat ich wieder in Verbindung mit meiner Mutter und zwar durch Vermittlung des evangelischen Anstaltsgeistlichen und – meine Mutter gewährte mir, daß ich wieder nach Hause kommen durfte. Ja, sie hatte im Verein mit einem Geistlichen meiner Vaterstadt für mich [138] eine Stelle ermittelt und sandte mir reichlich Geld zur direkten Heimreise. Ich wurde am 9. Februar 1894 in Garsten entlassen, und – ist's möglich? – am 18. Februar 1894 saß ich in Aschaffenburg schon wieder in Untersuchung. Ja, es war möglich! Weil ich in Garsten kein anderer Mensch geworden bin. Ich hatte es zu gut in dieser Strafanstalt und empfand nicht die geringste Reue über mein verfehltes, bisheriges Leben, die eine Petrusreue, und nicht eine Judasreue gewesen wäre. Judasreue ergriff mich oft. In solchen Anwandlungen schrieb ich auch meine Briefe an die Mutter mit dem heiligsten Versprechen, mich zu bessern. Mit dieser Judasreue verbüßte ich die 15 Monate Gefängnis. Und als ich aus der Strafanstalt entlassen wurde, brachen sofort wieder die alten Leidenschaften und Laster hervor und rissen mich aufs neue zu geschlechtlichen Ausschweifungen. In Augsburg unterbrach ich meine Heimreise und suchte die Lasterhöhlen und Dirnen auf. In wenigen Tagen war ich wieder der alte schlechte Mensch. Wenige Mark waren noch in meinem Besitze. Ich kaufte mir ein Billet bis Aschaffenburg, um wenigstens über Bayern hinaus zu kommen. Weiter reichten meine Mittel nicht mehr. In Aschaffenburg beging ich ein Verbrechen, um mir Mittel zur Weiterreise zu verschaffen. Aber mein Versuch mißlang, und ich wurde verhaftet. In der Isolierhaft traten mir wieder die vielen Guttaten meiner lieben Mutter vor die Seele, und ich gedachte der Schmach und der Schande, die ich meiner Familie aufs neue antat, meiner Wortbrüchigkeit gegenüber der Mutter. Das Schauerliche und Schändliche, das Verwerfliche und Gemeine meines neuen Verbrechens stand im grellsten Lichte vor meinen Augen! Was ich in den 2 Monaten meiner Untersuchungshaft seelisch durchmachte, welche Seelenkämpfe in meiner Einsamkeit von mir durchgekämpft wurden, weiß der liebe Gott. Dazu meine in erschreckender Weise zunehmenden epileptischen Anfälle. Ich litt entsetzlich während dieser Zeit. Das Urteil, das über mich gefällt wurde, betrübte mich nicht so sehr, obwohl es auf 3 Jahre Zuchthaus lautete; denn ich war bereits in meiner Erkenntnis so weit, daß ich mir sagte: Du hast 10 Jahre verdient. Aber Ruhe und Frieden fand ich nicht, noch immer nicht! Zweimal schrieb ich, Verzeihung bittend, nach Hause an meine vor Sorgen schier vergehende Mutter – ohne eine Antwort zu erhalten. In meiner Verzweiflung betete ich; dann verfluchte ich mich und die ganze Welt. Ich war dem Wahnsinn nahe. – In diesem Zustand kam ich in die hiesige Strafanstalt. Nun ging – während ich im Spital krank lag – etwas in mir vor. Ich hörte in der Kirche Worte, die ich seit meiner Kindheit [139] nicht mehr gehört hatte. Der Aufenthalt im Spital unter zum Teil schwer leidenden, an Schwindsucht dahinsiechenden Mitgefangenen, das Hören des göttlichen Wortes in einer ganz eigenartigen Weise, in gesetzlicher Drohung und evangelischer Verheißung, mit strafenden und werbenden Worten, und meine epileptischen Anfälle, die anfänglich jeden Tag 3–4mal sich einstellten und in mir ein großes Angstgefühl erzeugten – alles dies zusammen bewirkte in mir eine ganz eigene Wandlung. Ich wurde aus einem total leichtsinnigen Namenchristen, aus einem modernen gleichgültigen, atheistisch gesinnten Materialisten ein recht armer, hilfsbedürftiger Mensch, der nun anfing, auf dem gezeigten Wege Gottes Gnade in Christo Jesu und Vergebung der Sünden zu suchen. Mit jedem Tage lernte ich mich selber mehr erkennen, meine Unwürdigkeit ganz verstehen. Mein Schandleben wurde oft vom Prediger beleuchtet, wenn er mich besuchte, und ich erkenne heute: Ich bin wirklich nicht mehr wert, auf Gottes Erde zu leben! Nun bin ich in der Einzelhaft. Ich habe Zeit genug, über meine Vergangenheit nachzudenken, die Gegenwart religiös-sittlich recht zu benützen und für die Zukunft recht zu überlegen.

Nie vergesse ich den Blick, den mir der Herr Geistliche bei seinem ersten Zellenbesuche zuwarf. Ich war vorher bei einem epileptischen Anfalle zu Boden gestürzt und hatte mich dabei im Gesicht und am Kopfe aufgeschlagen. Das sah der Herr Geistliche. Wie milde, treuherzig, aber auch wie ernst hat er mich angeblickt! Dieser mitleidige Blick hat mein Herz getroffen, daß ich mir sagte: der meint's gut mit dir, dem folge, von dem laß dich leiten!

Das will ich tun. Ich will lernen in Kirche und Schule, ich will alle böse Gedanken vertreiben durchs Gebet, ich will gewissenhaft die Bestimmungen der Haus- und Zellenordnung beobachten. Ich will an mir arbeiten lassen und selber an mir innerlich arbeiten in gewisser Selbstzucht. Dazu wolle mir der liebe Gott helfen! –[140]

1

4. S.J. von A., ehelich geboren 1874 prot., lediger Kaufmann. Nicht tätowiert. Vorstrafen seit 1892: einmal Haft und 7mal Gefängnis (in mehreren Anstalten) wegen Betrugs, Diebstahls, Erpressungsversuche, Beleidigung. Zuletzt wegen Zuhälterei 3 Jahre 9 Monate Gefängnis und Arbeitshaus. Buchmacher bei Rennen. Bewegte Vergangenhelt, Spieler und Zuhälter. Als Schreiber wiederholt beschäftigt in der Gefangenenbibliothek. Nierenleidend. Gute Führung. Wollte wieder in die Höhe kommen. Gute Volksschulbildung und ein paar Jahre bessere Bürgerschule.

Kriminalschutzmann.

2

Kriminalschutzmann.

Quelle:
Jaeger, Johannes: Hinter Kerkermauern. Berlin 1906, S. 11-12,137-141.
Lizenz:

Buchempfehlung

Holz, Arno

Die Familie Selicke

Die Familie Selicke

Das bahnbrechende Stück für das naturalistische Drama soll den Zuschauer »in ein Stück Leben wie durch ein Fenster« blicken lassen. Arno Holz, der »die Familie Selicke« 1889 gemeinsam mit seinem Freund Johannes Schlaf geschrieben hat, beschreibt konsequent naturalistisch, durchgehend im Dialekt der Nordberliner Arbeiterviertel, der Holz aus eigener Erfahrung sehr vertraut ist, einen Weihnachtsabend der 1890er Jahre im kleinbürgerlich-proletarischen Milieu.

58 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon