[54] Mein Bruder, der als Zigarrenarbeiter in einem kleinen Ladengeschäft angestellt war, ließ die Arbeit drei Tage ruhen und führte mich durch Hamburg herum. Wir besahen die Stadt und den gewaltigen Hafen. Abends gingen wir ins Konzert und ins Theater. Es war zum erstenmal im Leben, daß ich vor den weltbedeutenden Brettern saß. Man gab »Wilhelm Tell« von Schiller. Ein ganzer Himmel ungeahnter Empfindungen erschloß sich mir.
»Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,
wenn unerträglich wird die Last, greift er
hinauf getrosten Mutes in den Himmel
und holt herunter seine ewigen Rechte ....
Der Güter Höchstes dürfen wir verteidigen
gegen Gewalt .....«
Wenn ich auch nicht alles an der Dichtung verstand, diese ehernen und ewigen Sturmglockenverse griffen mir ans Herz und läuteten meine Begeisterung mächtig wach.
Nach einer Woche ungewohnten, freien Glückes begann ich meine Lehrzeit bei demselben Zigarrenfabrikanten, bei dem auch mein Bruder gelernt hatte. Das Zigarrenmachen ist eher ein freies Gewerbe; es wurden recht gute Lehrbedingungen gewährt. Die Lehrzeit sollte 2 Jahre dauern. Der Meister beköstigte und beherbergte mich.
Meine Ersparnisse vertraute ich meinem Bruder an. Er zahlte mir wöchentlich ein kleines Taschengeld, von dem ich mir das Notwendigste kaufte. Im Laufe der Lehrzeit gab er mir die fünfzig Mark wohl doppelt wieder. Aber noch mehr, er erzog mich zu einem selbständigen Menschen. Dank einer guten Lehrweise machte ich rasche Fortschritte. Schimpfworte oder gar Schläge waren ganz unbekannt. Ich wurde wie ein Kind vom Hause behandelt. Um 71/2 Uhr begann der Feierabend, ein Wort, das in E. für mich überhaupt nicht im Wörterbuch stand.[55]
Die Zeitung ward über der Arbeit laut vorgelesen. Die Arbeiter lösten sich hinter dem Vorlesestuhl ab. Daneben kamen auch Bücher wissenschaftlichen Inhalts zu ihrem Recht. An das Lesen knüpften sich Besprechungen und ein Meinungsaustausch, der mich ungemein fesselte. Ich bereicherte dabei mühelos meine Einsicht in die mannigfachsten Verhältnisse des Lebens. Diese Männer, die so klar und warm zum Herzen sprachen und mich so rücksichtsvoll behandelten, waren Sozialdemokraten.
Ich ward trotz meiner Jugend wie ein junger Mann geachtet. Drei Wochen nach meinem Eintritt führte mich mein Meister, Metzler hieß er, in eine große Versammlung von Zigarrenarbeitern in Tütjes Salon. An die 2000 waren zugegen. Zum ersten Male war, seit dem Jahre 1878 mit seinen Verhetzungen gegen die Sozialdemokratie, eine unpolitische, reine Gewerkschaftsversammlung von dem hamburgischen Senate freigegeben worden. Mein Bruder sollte als Hauptredner über die Lage der Tabakarbeiter und über die Abschaffung der Heimarbeit sprechen. Er war mit einem scharfen Verstand und einer natürlichen Rednergabe ausgerüstet und entledigte sich, trotz seiner 21 Jahre, seiner Aufgabe in einem zweistündigen Vortrag, der eine große Wirkung erzielte.
Mein Lehrherr bewog mich, dem Hamburger Bildungsverein beizutreten; er selbst bezahlte den Monatsbeitrag. Der Bildungsverein war eine Art Volksschule. Außer den freien Wahlfächern hörte man jeden Donnerstag bei gediegenen Fachmännern Vorträge über alle wichtigen Fragen der wirtschaftlichen Gegenwart, über Entwicklungslehre, Geschichte, Länder- und Völkerkunde, Himmels- und Wetterkunde, Wind- und Meeresströmungen; die Darbietung war gewöhnlich klar, gemeinverständlich und gründlich. Die meisten Hörer und Mitglieder gehörten zur Sozialdemokratie. Trotzdem hatte der Verein seinen unpolitischen Charakter stets zu wahren gewußt und war auch nicht dem Ausnahmegesetz von 1878 verfallen.[56]
Zu Hause besaß Metzler eine kleine gewählte Bibliothek, in der auch nicht eine sozialistische Zeile aufzutreiben war. Ich las in meiner freien Zeit fleißig die Klassiker, studierte Beckers Weltgeschichte und nahm das Konversationslexikon emsig zu Hilfe. Meinen Bedarf an Humor deckte ich bei Fritz Reuter und Daniel Barthels. Mein geistiger Gesichtskreis erweiterte sich rasch. Mein Gehirn war aufnahmefähig wie ein trockener Schwamm. Ich schwelgte in seelischer Wollust.
An den Erörterungen in der Werkstatt nahm ich nur als Zuhörer teil. Manchmal stellte ich Fragen, die bewiesen, daß ich von Natur nicht beschränkt, sondern mit einem recht guten Aufnahme- und Verständnisvermögen ausgerüstet war. Auch zeugten meine Fragen für die Selbständigkeit der Denkkraft und für den Umfang, womit ich mir das Gelesene oder Gehörte zu eigen gemacht hatte.
Im Theater suchte ich lieber das Schauspiel und die Tragödie, als das Lustspiel und die Posse. Der Besuch der Museen und der Kunsthalle, in Begleitung kunstverständiger Personen, das Lesen der Besprechungen über Kunst und Theater in Zeitungen, der Verkehr mit meinem Bruder, das alles gab meinem Leben eine innere Wendung und führte mich allmählich einer festen Weltanschauung entgegen.
Ein Buch über die altgriechisch-römische Götterlehre machte mich vertraut mit den Sitten und dem Geiste ferner Zeiten, wie sie ihren Ausdruck fanden in den Staatsverfassungen von Lykurg, Solon, Servius Tullius, Perikles. Meine Kenntnis der antiken Welt erweiterte sich am Studium der antiken Plastik in der Kunsthalle, an den Übersetzungen von Homer und Sophokles, an Schillers und Goethes Dichtungen, an Shakespeares »Antonius und Kleopatra«. Ich durchkostete in der Vergangenheit Stunden des stärksten Lebensgefühls. Eine unbeschreibliche Sehnsucht erfaßte mich, die Länder zu sehen, wo Prometheus geboren ward, der größte Wohltäter und Befreier der Menschen,[57] der sich diesen zulieb an den Kaukasus schmieden ließ; wo Herkules am Scheideweg die Tugend als Führerin wählte; wo Aphrodite den Wogen entstieg und im Schönheitsstreite über Pallas und Here siegte; wo Achilles kämpfte und Odysseus wachte und Iphigenie im Dienste der Götter reine Opfer darbrachte.
Es ging von dieser versunkenen Welt ein solcher Glanz aus, daß er meine Seele blendete, daß ich die wirkliche Welt um mich her fast ganz vergaß, daß ich mir erdfern in den Wolken Inseln und Burgen der Seligen erbaute.
Dieser Zustand setzte sich ungefähr ein Jahr lang fort. Da entdeckte ich unvermutet und ganz von selbst eine andere Welt, die mir erst die rechte Heimat werden sollte.
Die Tabaksrippen, die seit Jahr und Tag auf dem Boden aufgestapelt wurden, schwollen zu bedrohlicher Masse an. Deshalb ließ sie der Meister eines Tages ausräumen. Über der Arbeit stieß ich in einem Winkel des Speichers auf Kisten voll Bücher. Ich griff zu und las die Aufschriften: es waren Schriften von Karl Marx, Friedrich Engels, Lassalle, Liebknecht, Bebel, Dietz und anderen sozialistischen Schriftstellern. Augenscheinlich hatte mit dem Inkrafttreten des Sozialistengesetzes von 1878, das die gesamte sozialistische Literatur verbot, Meister Metzler seinen ganzen gefährlichen Bücherbestand auf den Boden geflüchtet, was mir die so zahme Zusammensetzung seiner Hausbücherei verständlich machte. Jetzt hatte ich nach vier Jahren den geheimen Schatz aufgestöbert und machte mich gierig darüber her.
Vorerst nahm ich Lassalle vor. Ich verschlang den »Franz von Sickingen« und einige Broschüren, wie: »An die Arbeiter Berlins«, »Julian Schmidt« usw. Mich ergriff eine richtige Lesewut, die sich auch die Nächte dienstbar machte. Ich las oft bis morgens durch, ohne geschlafen zu haben, und begab mich frisch und munter an die Arbeit. Natürlich hüllte ich mich dem Meister gegenüber in Schweigen. Die Kiste auf dem Speicher ward zur unerschöpflichen[58] Leihbibliothek, wo ich meinem stets wachsenden Hunger Nahrung suchte.
Lassalle folgten die übrigen, alle die »berüchtigten Feinde« der Gesellschaft und ihrer heiligen Einrichtungen, eine stolze Verschwörerschar. Ich widmete mich ihrem Dienste mit einem Eifer, daß ich gegen Ende meiner Lehrzeit mit der sozialistischen Literatur so ziemlich vertraut war. Endlich hatte sich mir die reale Welt entschleiert, die Welt der Wirklichkeit, die dem Volke stets verborgen gehalten ward. Der Sozialismus ging meiner Seele auf als das Morgenrot der Zukunft. Von seinem warmen Glanze angelächelt, erfüllte mich die edle Begeisterung, meinerseits mitzukämpfen für die Aufrichtung der geistig und körperlich unterdrückten Menschheit, mitzuhelfen an ihrer politischen Befreiung, und damit dem armen Proletarier seine Ideale wiederzugeben.
Unter den Verhältnissen ging meine Lehrzeit vorüber wie ein angenehmer Traum, der mir die schönsten Überraschungen bereitete. Es wuchsen mir Flügel. Einmal vom Atem der Freiheit angehaucht, wollte ich diese Flügel zu stets höherem Aufstieg einüben, um so der Freiheit des Ganzen, der Wahrheit im Ganzen von Tag zu Tag näher zu kommen.
Alle Quellen und Bäche der Erkenntnis auf allen übrigen Gebieten der Wissenschaft, der Geschichte, der Literatur und Kunst, der Philosophie mündeten mir nun wie von selbst, fortgerissen durch ihre eigene Schwerkraft, in den allumfassenden Hauptstrom des Sozialismus. Von diesem Strome mußten sich dann tausend Kanäle abzweigen, um mit Millionen von Adern der unter allen Himmelsstrichen dürstenden Menschheit die erquickende Frucht zu spenden.
Um jene Zeit, im Jahre 1883, ward bei einer Reichstagsnachwahl Bebel an Stelle eines Fortschrittlers im ersten hamburgischen Wahlkreis gewählt. In der Volksmasse war der Jubel ungeheuer. Der wichtige Sieg tat kund, daß auch ein bedeutender Teil des Bürgertums zu den Bestrebungen[59] der Sozialdemokratie hinneigte. Ein paarmal war ich Augenzeuge, wie die unter dem Ausnahmegesetz Ausgewiesenen sich nach Amerika einschifften. Es kam dabei zu herzzerreißenden Abschiedsszenen. Tausende standen auf den Landungsbrücken, um den scheidenden Märtyrern, vom Vaterland ausgestoßenen Heimatlosen, ein wunschstarkes Lebewohl zuzurufen.
Überdem ging meine Lehrzeit zu Ende. Mit ihr die »Sturm- und Drangperiode«, in die ich mich hineingelesen und hineingewühlt hatte. Ich verließ Metzler und trat als Arbeiter in dasselbe Geschäft, wo mein Bruder tätig war. Es war dies eine kleine Zigarrenfabrik, die zehn Arbeiter nebst einigen Frauen und Mädchen beschäftigte. Auch hier wurde über der Arbeit vorgelesen und der Vorleser entschädigt. Dem Unterstützungsverein deutscher Tabakarbeiter war ich ebenfalls beigetreten. Bei Besprechungen über Gelesenes und Gehörtes übte ich mich im Denken und im Ausdruck; in öffentlichen Versammlungen das Wort zu ergreifen, wagte ich noch nicht.
Aber an den im November 1884 stattgefundenen Reichstagswahlen half ich mit lebhafter Werbearbeit aus. Ich verbreitete im II. Wahlkreis Flugblätter und Stimmzettel für den Arbeiterkandidaten Dietz. Am Wahltag trug ich stolz eine Standarte durch die Straßen des Bezirks, worauf in großen Buchstaben zu lesen stand: »Wähler, wählt den Arbeiterkandidaten J.H.W. Dietz, Buchdrucker – Stuttgart.« Das Auszählen der Stimmen am Abend ergab in meinem Bezirk ein Mehr von einigen hundert Stimmen über den Gegner. Nach etwa einer Stunde waren sämtliche Wahlergebnisse aus dem Kreis bekannt und zusammengestellt. Dietz war gewählt mit 2000 Stimmen Mehrheit. Der Jubel der Arbeiter war unbeschreiblich. Man fiel sich in die Arme und küßte sich. Das Parteihaus ward illuminiert. Die rote Fahne flatterte für eine Sekunde in den Nebel der Nacht hinaus und warf im grellen Schein der Beleuchtung wirkungsvolle Falten. Nach ein paar Stunden[60] liefen Nachrichten aus den übrigen Wahlkreisen ein. Am andern Tage wurden die Meldungen aus allen Teilen Deutschlands mit leidenschaftlicher Spannung empfangen. Die Sozialdemokratie war mit 24 Namen aus den Schicksalsurnen hervorgegangen. Wir durften zufrieden sein.
Nun litt es mich noch über ein halbes Jahr in Hamburg. Dann stürmte mir der Wanderwind in den Nacken. Die Sehnsucht nach den Ländern der alten Dichter ward wach. Ich wollte mich in den unbekannten Weiten umsehen und hinauswachsen über mich, Hamburg und Preußen. Ich wollte geistig erstarken durch eigene Kraft, dank zweier offenen Augen und eines wagefrohen Sinns. Genossen, die von der Wanderschaft kamen, standen in besonderer Achtung bei mir. Heimlich beneidete ich sie. Auch nahm ich wahr, wie andere Leute ihnen vor nicht gereisten Kameraden den Vorzug gaben.
Schließlich konnte ich das Drängen des Blutes nicht mehr zügeln. Ich gab meinem Bruder Bücherei und Schloßkorb in Verwahr, steckte einige Taler und mein Reiseunterstützungsbuch in die Tasche, griff zum Stab und machte mich anfangs Sommer, gegen Mitte Juni 1885, auf die Sohlen zum Weg in die weite Welt.
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