1.

[153] Ich kehrte nach Hamburg zurück, das ich als meine wahre Vaterstadt hatte lieben lernen. Ich nahm wieder Arbeit als Zigarrenarbeiter.

Ich enthielt mich aller geistigen Getränke und führte ein sehr ordentliches Leben.

In meiner freien Zeit bildete ich mich in der Stenographie aus und machte unter einem tüchtigen Lehrer einen regelrechten Unterricht durch.

Innerhalb eines Jahres brachte ich es bei einer Prüfung auf 180 Silben in der Minute.

Inzwischen war ich noch in anderer Hinsicht auf dem besten Wege, mich mit meinem harten Geschick zu versöhnen.

An dem Stenographieunterricht nahm auch ein junges Mädchen teil, dem der Zufall an meiner Seite seinen Platz anwies. Sie war mittelgroß, voll und frisch; ihre Augen blickten Frohsinn; ihr ganzes Wesen atmete Lebhaftigkeit und Mut. Wir kamen ins Gespräch. Sie wollte sich als Stenographin auf eine Buchhalterstelle vorbereiten.

Sie wohnte bei ihren Eltern, die einen kleinen Kramladen in der Nähe des Spielbudenplatzes führten. Sie hieß Marie und war neunzehn Jahre alt. Das alles erfuhr ich am ersten Abend.

Wir trafen uns regelmäßig im Unterricht. Ich begleitete sie nach Haus. Ich erzählte auch viel von mir. Es machte besonderen Eindruck, daß ich ein so weit gereister Mensch sei. Daß ich im Gefängnis gesessen, verschwieg ich[153] natürlich. Maries Fortschritte in der Stenographie waren nicht die besten. Ihre Aufmerksamkeit während des Unterrichts verzettelte sich. Vielleicht war daran auch meine Nähe schuld. Ich faßte es aber als Nachlässigkeit auf und fühlte mich verpflichtet, ihr ernste Vorstellungen zu machen. Das kränkte sie nicht; im Gegenteil. Wenn meine Vorstellungen zum Vorwurf und zur Rüge wurden, lächelte sie mich schelmisch an und meinte mehr als einmal: »Sie zwingen sich, böse zu sein, Franz! Aber es gelingt Ihnen nicht. Sie meinen es brav, und der Ärger steht Ihnen gut.«

Was konnte ich da viel predigen und schulmeistern! Sie blieb eben ein herziges Ding.

Und es kam, wie es kommen mußte und sollte.

Wir wurden Kameraden. Wir fanden uns an den Sonntagnachmittagen zu längeren Spaziergängen. Wir wandelten abends, statt in den Unterricht zu gehen, Arm in Arm durch entlegene Straßen, freuten uns der erleuchteten Schaufenster, lachten, daß wir so unbekannt durch die vielen Leute schlüpfen konnten, von denen nicht einer wußte, wie uns heimlich zumute war, verloren uns in eine Konditorei, in einen Konzertsaal. Ich machte den artigen Kavalier; ich kaufte ihr Blumen und Süßigkeiten; Schokoladeknusperchen naschte Marie für ihr Leben gern.

Eines Abends, wo ich sie wieder nach Hause führte, hielt ich beim Abschied ihre Händchen fest, zog das ganze Mädchen an mich und küßte sie. Sie lachte und küßte mich wieder.

Den nächsten Abend bot sie mir gleich das Mäulchen zum Gruße. Wir duzten uns.

Und wieder eines Abends ging sie mit auf mein Zimmer. Ich hatte die kleine Kammer ordentlich herausgeschmückt. Ein Kuchen stand auf dem Tisch. Daneben Blumen und die Teemaschine.

Wir machten Tee. Wir aßen Kuchen. Ich zog sie in die Arme. Und als sie an dem Abend von mir ging, war Marie mein geworden.[154]

Sie weinte nicht, als sie sich von ihrer ersten Verlegenheit erholte. Sie sagte, über und über rot, indem sie sich die Haare über den Schläfen zurechttupfte: »Ich wußte ja, daß es so kommen würde. Du hast mich heute gehabt als Mädchen! So halte mich als dein Weib!«

War das nicht tapfer! Nicht himmlisch schlicht und groß! Ich war wieder einmal ein richtiger Mensch geworden. Ich besaß ein Glück, das bei mir einkehrte, wenn ich wollte, das meine Armut vergoldete und meine Zukunft verklärte.

Zukunft? Ich dachte kaum daran, zwang mich, so wenig als möglich daran zu denken. Die Gegenwart war mein alles. Die Gegenwart war zu schön!

Was aber sollte und durfte aus unserem Liebesspiel werden? Marie war arm und ich war arm.

Konnte unsere Liebe überhaupt dauern? Ich war nur ein Zigarrenarbeiter, dazu noch keiner der besten. Was ist das überhaupt, ein Arbeiter? Um eines jungen feurigen Weibes Liebe zu erhalten, bedarf es der Eigenschaften mehr, bedarf es vor allem der Mittel, ihre weiblichen Wünsche zu befriedigen.

Ich suchte meine Einkünfte zu steigern. Ich richtete in Arbeiterkreisen billige Abendkurse für Stenographie ein. Ich hatte Erfolg. Viele Lernbegierige fanden sich. Ich bildete kleine Vereine, die sich nach einem Jahr zusammenschlossen und eine eigene Fachschrift, »Der Arbeiterstenograph« benannt, herausgaben; ich ward, als Vorsteher des Verbandes, Mitleiter der Redaktion.

So mehrten sich meine kleinen Einnahmen. Den Reichtum brachten sie allerdings nicht. Aber ich konnte meiner Braut einige Spitzen mehr kaufen. Ich konnte daran denken, sie zu heiraten.

Inzwischen hatten ihre Eltern von unserem Verhältnis erfahren. Mutter und Schwester waren von dem zukünftigen Schwiegersohn und Schwager nicht entzückt. Ein Zigarrenarbeiter! Pah, da hätte sich Marie aber etwas Feineres zulegen[155] können. Und heiraten? Um Gottes willen! Ob sie denn nach der ersten Woche hungern und nach dem ersten Monat auf der Straße sitzen wolle? Nun, das seien schließlich ihre Sachen. Aber wenn sie es nicht anders wolle, jedenfalls in das elterliche Haus brauche sie nicht zurückzukommen; sie habe mit ihrem Zigarrenarbeiter draußen zu bleiben.

Marie verteidigte mich. Sie lobte meine Eigenschaften. Sagte, daß wir uns liebten, und das sei doch die Hauptsache. Man lachte sie aus.

Sie brach mit der Familie und suchte sich eine Wohnung in der Stadt. In einem großen Warenhause fand sie eine Stelle als Verkäuferin. So verdienten wir beide.

Noch aber wollten wir unseren Verdienst weiter steigern, bevor wir uns vor dem Standesamt stellten.

Ich machte mich selbständig, kaufte Rohtabak und arbeitete auf meinem Zimmer. Ich kannte einige Wirte; die nahmen mir meine Zigarren ab. Ich stellte bald fest, daß ich bei geringerer Arbeitszeit mehr verdiente.

Wir waren nun öfters zusammen. Sogar die Nächte gehörten uns. Ich suchte die Geliebte auch an meinen geistigen Freuden teilnehmen zu lassen; ich wollte ihre Erziehung, meinem Ideal entsprechend, vervollständigen.

Wir besuchten das Theater. Ich führte sie in das Schauspielhaus. Wir sahen: »Romeo und Julia«, »Hamlet«, »Maria Stuart« und andere Meisterwerke des klassischen Geistes.

Aber ich merkte bald, daß Maries Aufmerksamkeit nicht lange mitging; sie gewann dem erschütternden Spiele des Schicksals kein dauerndes Verständnis ab; sie langweilte sich.

Sie verlangte nach leichterer Kost. Ich tat ihr den Gefallen und führte sie in die Possenbuden: »Doktor Klaus«, »Krieg im Frieden« usw.; das war nach ihrem Geschmack. Da konnte man wenigstens lachen und es ging nicht gerade so feierlich, so furchtbar anständig zu.[156]

Mich schmerzte die Entdeckung. Der Charakter des Mädchens litt in meinen Augen. Ich hätte mir meine Lebensgefährtin anders gewünscht. Aber schließlich, es waren doch nur Kleinigkeiten. Über Geschmacksachen ist einmal nicht zu streiten, und wenn man sich kennt, so richtet man sich eben aufeinander ein.

Unserer Liebe taten diese Erfahrungen keinen Eintrag. Marie entfaltete sich immer blühender. Ich durfte mich mit meiner Braut sehen und beneiden lassen.

Der köstliche Frühling! der herrliche Sommer, die nun folgten! Und die hundert Ausflüge, die wir unternahmen, wir zwei allein, zu Fuß und im Kahn. Unser Hauptspaß war, an einem Sommersonntagnachmittag im gemieteten Nachen die Elbe zu befahren, über Blankenese hinunter oder nach Harburg hinaus!

Marie saß am Steuer. Ich ruderte ... Wie beflügelt glitten wir über die Spiegelfläche. Hinter uns versank die große Stadt. Uns umfing die Frische des Wassers und der Inseln. Von den befahrenen Flußstraßen, wo besonders an Feiertagen Tausende seliger Menschen in Schiff und Kahn vorüberglitten und winkten, bogen wir in schmale Seitenarme ab und verloren uns in grüner Einsamkeit. Vor einem Dörfchen legten wir gerne den Nachen an, ließen uns in einem Bauernhause Milch und Brot und Schinken auftischen und freuten uns des prächtigen Hungers.

Oder aber wir wandten uns umbuschten Einbuchtungen zu, die sich wie friedevolle Teiche schwangen und wo uns niemand sah, als der Wind, der uns Kühlung fächelte, als die Sonne, die über dem Wolkengekräusel spielte, als das Wasser, das sein lockendes Lied sang, als die Fische, die mit runden Augen und breiten Mäulern zu uns herstarrten oder im Übermut den Sprung in die Sonne versuchten. Dann konnte ich der Versuchung nicht immer widerstehen. Ich warf die Kleider ab und versank in der Flut. Marie hütete meine Kleider und kühlte ihre weißen Füße.[157]

Und einmal – an einem besonders schwülen Mittwochnachmittag im Juli war's – das Wasser lockte und ich lockte mit. Alles ringsum frei von Menschen, weit und breit. Marie hatte Schuhe und Strümpfe abgelegt und wühlte mit den Füßen das Wasser auf. Wie weiße Blumendolden, so hingen die kleinen Zehen in der Flut. Da schwamm ich heran. Ich sang das Lied der Nixe aus Goethes Fischer:


O wüßtest du, wie's Fischlein ist,

So wohlig auf dem Grund,

Du stiegst herunter wie du bist,

Und würdest erst gesund.


Sie sträubte sich, über und über ängstlich. Ich schmeichelte. Furchtsame Scham wollte sich bergen und fliehen. Ich hielt fest. Ich flüsterte und bat. Da glitt auch der letzte Schleier. Ich kniete im Grase. Vor mir blühte schimmernd auf eine schlanke Menschenlilie! Die Nymphe des Stroms, die Göttin des Sommers, die verkörperte Einsamkeit der Marsch! O Blüte, o Weib, o Schönheit! Sie entglitt meinen Händen und rutschte in das Wasser. Ein leichter Schrei, ein rasches Untertauchen, das ganze Wasser war davon durchschimmert. Der feuchte Leib lächelte mit allen seinen Gliedern. Ich wollte sie haschen. Aber schon hüpfte sie wieder zum Rand empor, raffte ihre Kleider auf und entsprang ins Gebüsch. Ihren weißen Füßen folgte eine Spur wie von niederperlenden Sternen.

Als wir am Abend auf rotübergossener Flut langsam, seligmüde in die große Stadt zurückschwammen, waren Arkadiens Wonnen uns kein Geheimnis mehr. Und keinem Gendarm war es eingefallen, uns dabei zu stören.

Einige Monate später tat das Leben mir die Möglichkeit zu neuem Wissen und neuen Freuden auf. Marie fühlte sich Mutter. Ich jubelte vor Stolz und Glück. Nun war die Zukunft mein.

Marie ließ die Mutter ihre Hoffnungen wissen. Bis[158] dahin hatte die kaltberechnende Matrone immer noch erwartet, ihre Tochter könne meiner müde werden und zu ihr zurückkehren.

Diese unerwartete Entwicklung schien sie milder zu stimmen. Sie gab ihren Widerstand auf und erklärte sich mit einer Heirat einverstanden. Wir vereinbarten die Bedingungen. Das zum Haushalt Nötigste sollte Marie mitgegeben werden; ich hatte gar nichts verlangt, aber Marie bestand auf einer Mitgift als ihrem Recht. Die beiden Schwestern zeigten wenig Gefühl. Sie hätten die Familienschande am liebsten übersehen. Schließlich einigte sich die Familie auf das Unentbehrlichste; auch der neue Schwager durfte seine Aufwartung machen. Ich hätte im Zylinderhut und Frack und weißen Handschuhen den herzlosen Weibern vielleicht imponiert. Ich brachte ihnen aber ins Haus nur den Zigarrenarbeiter in anständigem Gewand; das schien gewöhnlich. Ich brachte ihnen mit den durchdringenden Geruch des Tabaks; da rümpften sie die Nasen. Ich duldete und schwieg. Ich hatte neue Pflichten.

Maries Zustand machte eine Lebensänderung notwendig. Ich bestand darauf, daß sie sich schone. Sie gab ihre Stelle als Verkäuferin, die ihr sechzig Mark monatlich eingebracht hatte, auf und kehrte in das Haus der Mutter zurück. Hier sollte sie bis zum Tage unserer Heirat wohnen; so allein sei es anständig, wie mir die Mutter erklärte. Ich willigte ein. Ich war sogar im stillen froh, daß sich ein erträgliches Verhältnis zu den nächsten Verwandten anzubahnen schien.

Ich ahnungsloser Tor, nie hätte ich dies gestatten dürfen!

Bevor ich an die näheren Vorbereitungen zur Einrichtung des Haushalts denken konnte, mußte ich meiner Pflicht gegen das deutsche Vaterland wieder einmal genügen. Im Bockstedter Lager machte ich eine vierzehntägige Übung als Arbeitssoldat mit. Ich führte den Besen in den Baracken und Pferdeställen und hatte bei der Beförderung der Roßäpfel[159] Gelegenheit genug, über die Unbeständigkeiten des Lebens und über den Urgrund der Liebe nachzudenken.

Am Vorabend meiner Entlassung kam mir der Befehl, mich bei dem Untersuchungsrichter in Altona zu stellen. Ich war angeklagt, einen Gendarm in Ausübung seines Amtes beleidigt und gestoßen zu haben.

Vor drei Wochen hatte nämlich eine sehr rege besuchte Arbeiterversammlung stattgefunden. Die Verhandlungen gingen einen ruhigen Gang; nach Schluß entleerte sich der Saal ebenfalls in aller Ordnung. Plötzlich entstand ein Gedränge und ein Tumult. Was geschehen war, wußte ich nicht. Aber Gendarm Lenke, der als Hetzhund der Ordnung berüchtigt war, zog blank und schwang den Säbel. Ich hin und falle ihm in den Arm. Er läßt die Waffe sinken und wendet sich verblüfft dem kecken Störer zu. An dem Abend wußte er mich nicht zu stellen. Die Menschenflut warf uns auseinander.

Einige Tage später war es ihm gelungen, seinen Mann ausfindig zu machen, und ich sollte mich verantworten. Ich leugnete jede böse Absicht und erzählte den Hergang. Die Aussagen des Gendarmen widersprachen und waren sehr belastend. Ich blieb in Haft.

Meine Braut benachrichtigte ich schriftlich. Sie kam mich besuchen, lieb und vertrauend wie früher. Aber in ihrer Familie ging der Krakeel um so lauter los: ein Arbeiter und dazu noch ein Verbrecher!

Ich tröstete und erstattete Bericht. Sie glaubte mir und hoffte.

Wir täuschten uns beide.

Die gerichtliche Verhandlung kam heran. Der Gendarm brachte einen Kollegen als Zeugen. Der Staatsanwalt verlas die Liste meiner Vorstrafen. Das Gespenst meiner Schande reckte sich riesengroß zur Decke des Gerichtssaales empor und ließ seine Knochenfäuste auf mich niederfallen. Ich ward zu Wochen Gefängnis verurteilt und mußte die Strafe auf der Stelle antreten.[160]

Ich brachte diese Hiobspost meiner geliebten Marie in einem Briefe schonend zur Kenntnis. Sie antwortete nicht und besuchte mich nicht. Was war geschehen? War sie krank? War sie vielleicht schon ...? Ihr ewigen Mächte, erbarmt euch!

Ich schrieb ein andermal und bettelte um Aufklärung. Dasselbe furchtbare Schweigen.

Ich bat einen Freund, bei meiner Braut vorzusprechen. Auch er ließ mich ohne Antwort! Endlich, nach langen Wochen, kam der Freund. Er war verreist gewesen; mein Brief hatte ihn eben erst getroffen. Da war er gleich zur Mutter meiner Braut gegangen.

Marie hatte sich vor einigen Tagen, auf eigenen Wunsch, in eine Entbindungsanstalt begeben und harrte dort ihrer schweren Stunde.

Zwei Tage später hatte ich meine Strafe verbüßt. Mein erster Gang war nach der Entbindungsanstalt.

Die Oberhebamme empfing mich mit der Nachricht, daß meine Braut vor zwei Tagen von einem Mädchen entbunden worden war; doch sei das Kind schon gestern von einer fremden Frau fortgetragen worden, und zwar im Auftrag von Maries Familie; die junge Mutter habe sehr geweint, als man ihr den Säugling genommen.

Ich war Vater.

Doch ich stand bestürzt und unglücklich.

Ich zweifelte keinen Augenblick, daß Marie an diesem Gewaltstreich unschuldig sei; dahinter, so sagte ich mir, müsse ihre Mutter stecken.

Es ward mir erlaubt, meine Braut zu sehen. Ich hielt mit meiner Aufregung zurück, denn ihr Zustand erforderte Schonung. Ich küßte sie liebevoll und brachte mit aller Vorsicht die Rede auf den überraschenden Vorfall. Sie klagte: »Ich bin nicht schuld, Franz. Sei mir nicht böse. Man hat mir das Kind genommen!«

»Willst du das Kind wieder haben?«

»O ja! Wie gern!«[161]

Das sagte sie mit der ganzen Inbrunst ihres Mutterherzens.

Die Hebamme nannte mir die Wohnung der Frau, die das Kind abgeholt hatte. Ich lief spornstreichs hin, fand die Frau aber nicht.

Verzweifelnd kehrte ich zur Anstalt zurück.

»Es wird wohl,« erklärte die Oberhebamme, »ein Irrtum vorliegen; vielleicht ist die Nummer oder der Straßenname verwechselt worden. Aber, seien Sie morgen um 2 Uhr hier. Die Frau kommt dann mit dem Kind zur Taufe.«

Ich fand mich ein. Die Fremde war nicht wenig überrascht, wie ich mich als Vater des Kindes vorstellte, ihr die Kleine aus den Armen nahm und selbst über die Taufe hielt. Ich gab ihr die Namen Franziska Maria. Die Frau entlohnte ich mit einem Doppelmarkstück und brachte mein Töchterchen zur Mutter zurück.

Maries Freude war aufrichtig groß. Sie bedeckte das kleine rote Gesichtchen mit Küssen. Dann legte sie es an die Brust.

Ich saß da still und getrost. Nun erst hatte ich Augen und Gefühl für die Weihe des Ortes, wo ich mich befand.

In dem Saale waren acht Mütter untergebracht, die von Schwestern gepflegt wurden. Alles in dem Zimmer schimmerte von Sauberkeit und verbreitete heitern Frieden.

An jedem Bett stand eine Wiege.

Um Mütter und Säuglinge lag ein eigener Hauch ausgebreitet, aus dem der Atem der reinen Natur zu spüren war, der reinen Natur, deren Heiligtum ich hier betreten durfte.

Männern ist in der Regel der Besuch in diesen Räumen nicht gestattet. Aber meine gemessene Haltung, meine Sorge um Mutter und Kind machten so guten Eindruck, daß mir gestattet wurde, an dieser hehren Stätte zu verweilen.

Ich saß in Ehrfurcht und Andacht.[162]

In jeder dieser jungen Frauen ehrte ich die Heldin, die mit Einsetzung des eigenen Lebens einem neuen Leben zum Siege verhalf. Das sind die wahren Krieger, die wirklichen Mehrer des Vaterlandes, die opfermutigen Hohepriesterinnen der Menschheit.

Hier waltet Ruhe und Reinheit. Die Stimme der Sinnlichkeit schweigt. Jeder Brust, die sich einem schmatzenden Mündchen entgegendrängt, möchte man einen Kuß aufdrücken, wie er sich nur auf die Füße des Gekreuzigten senkt. Mutterschaft! Des Lebens erhabenstes Wort heißt Mutterschaft!

Franziska Maria schien ein gesundes Kindchen zu sein. Mein Auge ruhte selig auf den arbeitenden Säuglingswangen. Dann wandte sich mein Blick dem gesenkten Antlitz der Mutter zu. Welch neues Wesen lag in den geliebten, wohlbekannten Zügen ausgeprägt! Das Mädchenhafte war gewichen, frauenhafte Würde verklärte die Stirne. Den Mund umspielte der ganze Zauber mütterlichen Stolzes.

Als ich fortging, wagte ich nicht, Mariens Mund zu küssen. Ich neigte mich über ihre Stirne und berührte sie mit unsichtbar bebenden Lippen der Inbrunst und der Dankbarkeit.

Ich kam öfters. Mein Erscheinen ward auch von den übrigen Müttern mit Wohlgefallen begrüßt. Die Vaterwürde adelte mich in ihren Augen und flößte ihnen alles Vertrauen ein. Die zärtliche Zuneigung, die mich mit meinem Weibe verband, ward von ihnen als eine jeder Mutter dargebrachte Huldigung mitempfunden.

Aber vielleicht täuschte ich mich. Vielleicht zitterte auf dem Bilde unserer Zärtlichkeit mehr als ein Blick schmerzvoller Entsagung oder wehmütiger Eifersucht. Auch diese Frauen hatten jungfräulich geliebt, sich im bräutlichen Kusse hingegeben! Bald aber ward ihr schöner Glückstraum zerstört, ihre Mädchensehnsucht erdrosselt. Nun liegen sie hier, verlassen, vielleicht in doppelter Furcht vor der Zukunft, und werden durch meine Anwesenheit an die Öde ihrer[163] Einsamkeit, an all den Reichtum grausam erinnert, den sie sich in Unschuld gewünscht und in Wirklichkeit niemals besessen haben!

Inzwischen hatte ich für Mutter und Kind ein passendes Zimmer gemietet. Und zwar bei einer jungen Frau, deren Mann als Matrose auf See war und die meine kleine Familie mit um so größerer Bereitwilligkeit bei sich aufnahm, als dadurch ihr eigenes Leben von jedem Verdacht behütet blieb.

Sobald es der Arzt gestattete, holte ich Mutter und Kind ab und führte sie in das neue Heim. Ich ließ es mir nicht nehmen, die kleine Franziska selbst in ein großes türkisches Tuch zu wickeln und in den Wagen zu tragen.

Die neue Wohnung gefiel. Marie richtete sich ein und fühlte sich heimisch. Wir besprachen unsere baldige Heirat. Und doch, so ganz behaglich war mir nicht zumute. In Maries Wesen kam etwas zum Durchbruch, das mir in der Anstalt drüben nicht aufgefallen war. Überströmende Zärtlichkeit hatte sie nicht geäußert; mich selbst hatte die Weihe des Ortes daran gehindert. Nun mochte ihr die Mütterlichkeit immer noch eine Zurückhaltung auferlegen, die unter dem Anhauch neu erwachender Liebessehnsucht wieder verwehen dürfte.

Aber es war nicht Zurückhaltung. Es war eher bewußtes Sichzurückziehen, das sich nicht zu plötzlich und zu schroff äußern wollte. Manchmal, wenn wir abends um die Lampe saßen und ich mich mit dem Kinde beschäftigte, spürte ich ganz deutlich ihren Blick, der mich forschend maß, der mich in den Falten meines Gesichts studierte. Dann und wann war es, als ob auf ihren Lippen eine Frage stocke, die sich nicht herauswagte. Fragte ich dann meinerseits, so gab sie eine ausweichende Antwort und wandte das Gesicht blutüberlaufen zur Seite. Zog ich in jäher Aufwallung des Gemüts ihren Kopf in meine Arme, so bog er sich unwillkürlich zurück, und selten konnten meine Lippen ihren Mund berühren.[164]

Von meiner Verurteilung sprach sie niemals. Nach meinen Erlebnissen im Gefängnis fragte sie ebenso wenig. Sollte sie sich meiner doch heimlich schämen? Sollte sie das Schlimmste annehmen und mich für schuldig, für schuldiger halten, als es die Anklage selbst hinstellte?

Und das beunruhigende Schweigen auf meine bettelnden Briefe aus dem Gefängnis! Ihr unerklärlich plötzliches Fernbleiben! Dieser Abbruch jeder Beziehungen! Gewiß, da war etwas nicht richtig. Mir droht ein Unglück. Ich muß Klarheit haben. Wir müssen uns aussprechen, dann soll sie bekennen. Ich bin ihr mit Vertrauen begegnet, ich darf Vertrauen beanspruchen! So sprach ich zu mir, so rüstete ich mich. Und setzte die Stunde der Aussprache im stillen fest.

Am Nachmittag des nächsten Sonntags wünschte Marie, ihrer Familie einen Besuch abzustatten. Unsere Wohnung lag nur zehn Minuten vom Hause ihrer Mutter entfernt. Ich fand nichts dagegen einzuwenden. Im Gegenteil, ihre Abwesenheit war mir erwünscht; ich konnte mich und unsere Kammer vorbereiten auf die Stunde des Bekenntnisses und auf die Feststunde des neuerstandenen Vertrauens.

Auf den Tisch stellte ich, wie an unsern früheren Liebesabenden, Obst, Kuchen und eine Flasche Rheinwein; eine Tüte Schokoladeknusperchen fehlte auch nicht.

Dann setzte ich mich an die Wiege des schlafenden Fränzchens, studierte die Züge der Kleinen, spann Zukunftsträume und wartete.

Eine Stunde verging. Das Kind rührte sich und schrie. Draußen setzte ein heftiger Regen ein. Ich rief das Stubenmädchen unserer Hauswirtin, gab ihr einen Schirm und einen Zettel, worauf ich die Worte schrieb: »Franziska weint, sie übersendet Dir diesen Schirm, damit sie des Regens wegen nicht länger warten muß. Dein Dich liebender Franz.« Das Mädchen trug Schirm und Zettel zu ihr hinaus.[165]

Das Kind schrie heftiger. Ich nahm es auf. Es beruhigte sich nicht. Unsere freundliche Wirtin kam und löste mich ab. Das Mädchen kehrte zurück. Brief und Schirm hatte es übergeben, Bescheid brachte es keinen.

Wieder verging eine Stunde. Die Wirtin mußte an ihre Arbeit zurück. Ich blieb allein mit dem Kinde, das sich inzwischen hatte beschwichtigen lassen, allein mit meiner Unruhe, die stets größer ward und sich mit der Dämmerung im Zimmer ins Ungeheuerliche auszog.

Endlich, nach vier Stunden, hörte ich Mariens Schritt. Ich blieb unbeweglich auf dem Stuhle sitzen und hielt die Türe im Auge.

Die Türe öffnete sich. Mein Weib trat ein. Ohne Gruß. Mir klopfte das Herz jäh zum Hals empor. Sie schritt mitten ins Zimmer, zog mit schroffem Ruck ihren Mantel aus und hing ihn an den Haken. Hierauf streifte sie den Tisch mit flüchtigem Blick und wollte zur Küche. Nun zwang ich mich nicht länger.

»Aber, Marie,« rief ich halb flehend, halb vorwurfsvoll, »du siehst dein Kind nicht einmal an und bist vier Stunden fortgewesen.«

Mein Wort trieb sie in die Höhe wie ein Geißelhieb. »Mach mir keine Vorwürfe, du,« zischte sie mir zu, »oder ich kehre auf der Stelle zu meiner Mutter zurück.«

Mir war, als rührte mich der Schlag. Ein Abgrund tat sich vor mir auf. Aber ich erholte mich rasch. Was ich solange gefürchtet hatte, ward Tatsache. Nun, ich wollte dem Unbekannten ins Auge sehen, so oder so. Ich trat ruhig an die Lampe und zündete sie an. Jetzt ward mir die ganze Veränderung ihres Wesens sichtbar. Ihre Gesichtszüge kündeten Verachtung und Trotz.

»Wie soll ich deine Worte verstehen?« fragte ich, indem ich Flasche und Süßigkeiten, die unsere Abendstunde verschönern sollten, aufs Fensterbrett räumte.

»Wie du willst.«

Messerscharf klang es zurück.[166]

Der Ton ging mir an den Stolz. »Wie redest du zu mir?« Und trat hart auf sie zu. »Was soll das alles bedeuten?«

Da brach es los, in allen Tonlagen, im lang zurückgedämmten Überschwall.

»So einer wie du! Lügner! Betrüger! Du hast im Zuchthaus gesessen. Ich bin einem Verbrecher zum Opfer gefallen! Welche Schande! Ich unglückliches Weib! Ich verratenes Mädchen!«

Ich stand erstarrt. Auf diesen Sturm war ich nicht vorbereitet. Die Gewalt der Wahrheiten, die auf mich niederprasselten, schlug mir alle Kraft aus dem Willen.

Durch meine Schuld! Durch meine größte Schuld! Ich hatte geschwiegen, wo ich reden sollte! Hatte verheimlicht, wo ich vertrauen mußte! Meine Schande stand wider mich auf und meine Heimlichkeit fiel auf mein schuldiges Haupt zurück.

Jetzt also war es heraus! Und ich begriff. Die letzten Gerichtsverhandlungen hatten von meinem ängstlich versteckten Geheimnis die Hülle gelüftet. Ich war wegen Unterschlagung zu Gefängnis verurteilt worden. Ich war ein Ehrloser!

O leichte Schuld! O bittre Strafe! O blutige Schande in ihren Augen, die mir blindlings geglaubt, die ich in der Angst meiner Liebe so feige betrogen hatte.

Nun verstand ich, o ja!

Wie mußten Mutter und Schwestern auf sie einreden, in ihrer verletzten Ehre herumbohren, an ihrem Willen zerren, ihren Stolz aufpeitschen!

Aus, aus, alles aus! O diese zürnende Richterin! Aber ich muß sie entschuldigen, muß ihr recht geben!

Vielleicht, wenn ich um Verzeihung bitte, ihr bedeute, erkläre! Mit den bluttränenden Augen meiner gemarterten Liebe flehe! Vielleicht, vielleicht! Doch nein! Diese Frau ist auch Mutter. Das kleine Wesen, das unser beider Fleisch ist, kann nicht für die Sünden seines Vaters. Warum[167] läßt sie das hilflose Würmchen entgelten, was ich, der erwachsene Mann, verbrochen habe?

In dem Augenblick hebt die kleine Franziska wieder mit krähender Klage an. Ihre Mutter steht ungerührt. Keine Miene zuckt. Die Augen stechen kalt. Das Gesicht bleibt marmorne Verachtung.

Mich treibt eine unbekannte Macht, zu tun, was ich für unmöglich hielt, was mir heute noch unerklärlich ist, was ich nie hätte tun dürfen.

Angesichts dieser Herzlosigkeit – so deutete ich es damals – gehe ich zur Türe, öffne sie langsam und ganz und weise mit ausgestrecktem Arm auf die schwarze Höhlung, die mir entgegengähnt wie das Grab meines Glücks.

Die Gestalt der Frau erbebt bei diesem stummen Befehl. Aber sie weicht nicht von der Stelle.

»Geh!«

Da löst sich ihre Starrheit. Sie tritt mit einigen großen Schritten an die Wiege heran, beugt sich nieder – ich erwarte, daß sie das Kind heraus nimmt, in ihre Arme, an ihre Brust – beugt sich nieder und – will es küssen.

Ich springe hin und reiße sie zurück.

»Laß die Komödie! Eine Mutter, die ihr Kindlein hungern läßt und verlassen kann, hat keinen Anteil mehr an ihm.«

Ich dränge sie zur Türe, hänge ihr den Mantel über den Arm, stoße sie hinaus und werfe die Türe ins Schloß.

Dann falle ich auf einen Stuhl und weine laut auf. Einen Augenblick später öffnet sich die Türe und Marie steht im Rahmen.

»Franz, verzeih' mir!«

Sie fleht weich, sie schlingt mir die Arme um die Schultern, küßt mich, kniet vor mir.

»Verzeih'. Halte mich bei dir, Franz. Um unserer Liebe willen.«

Ich lache hart auf.

»Um unseres Fränzchens willen!«[168]

Ich knirsche vor Jammer und schüttle den Kopf. »Nein, nein, nein! Geh!«

Sie stöhnt wie ein wundes Tier, richtet sich auf, umfaßt das Zimmer mit irrem Blick, tritt noch einmal zur Wiege hin, läßt die Arme mutlos sinken und wimmert hilflos hinaus.

In mir dröhnt es und warnt: »Rufe sie zurück! Halte sie hier!«

Ich rühre nicht die Lippen und keinen Fuß. Und nun jammert noch heute meine wunde Seele: »Hätte ich's getan! Hätte ich's getan!«

In jener Stunde habe ich mein Leben verspielt. Mit unheimlicher Ruhe, mit verbissenem Trotz. Aus falschem Stolz, aus grimmiger Scham, daß ich nicht als aufrichtig von ihr befunden ward. Verspielt, als ich Marie nicht zurückrief, als sie ein andermal nicht wiederkam.

Nach ihrem Fortgang klagte ich unserer freundlichen Wirtin meine Not. Sie stillte das Kind, so gut es eben ging.

Ich verbrachte eine schlaflose Nacht.

Des andern Tages suchte ich eine Pflegefrau. Ich brachte ihr mein Kind, mit dem ausdrücklichen Verbot, keinen Menschen, auch keine Frau, an die Kleine heranzulassen. Fast täglich besuchte ich mein Töchterchen.

Aber ich hatte eine unglückliche Wahl getroffen. Die Frau war gewissenlos in jeder Hinsicht.

Eines Tages traf ich Marie in ihrem Hause. Sie hatte mir also doch aufgelauert. Ihr Mutterherz trieb sie zu der Frucht ihres Leibes. Ich zog mich unauffällig zurück. Zu einem Auftritt wollte ich es nicht kommen lassen.

Am nächsten Morgen in der Frühe war ich wieder da. Die Frau erschrak fast, als sie mich sah.

Ich trat an die Wiege und wollte die Kleine herausnehmen. Ein eigentümlich saurer Geruch schlug mir entgegen. Ich ließ das Kindchen bloß legen. Die Haut an Rücken und Unterleib zeigte eine verdächtige Röte.[169]

Es war klar: das pflichtvergessene Weib ließ es an der elementarsten Sauberkeit fehlen.

Ich zahlte ihr entrüstet das Monatsgeld, 25 M., nahm das Kind mit mir, ging zu einem Arzt und ließ es untersuchen.

»Mangel an Reinlichkeit,« lautete sein Spruch. »Suchen Sie der Kleinen eine andere Pflegemutter.«

Ich tat es um so lieber, als ich meine Tochter vor den Besuchen ihrer Mutter sicherstellen konnte. Meine Wirtin half mir treulich. Diesmal trafen wir es richtig. Die neue Pflegerin ließ in nichts zu wünschen. Bald war die Röte verschwunden. Fränzchen blieb immer frisch und rein. Sie gedieh zusehends unter der vorzüglichen Wartung. Ich arbeitete mit nie empfundenem Schwung. In dem Kinde war mir ein hoher und süßer Lebenszweck geworden, der sich mein ganzes Sein dienstbar machte. In diesem Kinde würde mir der Mensch erwachsen, bei dem ich für alles Verzeihung und Liebe finden dürfte.

Ganze fünf Wochen dauert mein Vaterglück. Da wird die Kleine unwohl. Ich rufe den Arzt. Er untersucht und macht ein ernstes Gesicht. Auf meine bange Frage zuckt er die Achsel. Am dritten Tage heißt es: Diphtheritis!

Ich will schreien, finde aber keinen Ton; fast erstickt mich die Angst. Ich greife mit den Händen in die Luft, um mich an den Sonnenstrahlen zu halten, die schräg durchs niedrige Fenster fallen.

Sterben! Mein Fränzchen darf nicht sterben! Mein Kind! Mein einziger Trost!

Umsonst! Der Vernichter ließ sich keinen Stillstand gebieten!

Unter meinen Augen durchlief das arme Wesen sämtliche Schauer des Werdens und Vergehens.

Wie es im Mutterschoße neun Monde alle Entwicklungsdurchgänge erlebte, von den frühesten Anfängen organischer Bildung auf bis zur menschlichen Gestalt, so wechselte auf seinem todgezeichneten Antlitz der Widerschein[170] sämtlicher Sonnen, die den verschiedenen Menschenaltern leuchten, und das innerhalb einer Stunde.

Eben noch blühte es wie eine Knospe, die sich zum Aufbrechen rüstet; nun breitet sich darüber schwermütiger Ernst; jetzt zieht sich das Unschuldsgesichtchen runzlich zusammen, fahl und grau erschlafft es, greisenhaft und hilflos starrt es zur Decke.

Und stets und immer ein heiseres Röcheln, ein lallendes Wimmern, ein Aufbäumen der Nerven und Muskeln. Seine dünnen Fingerchen umkrampfen meinen Daumen. Plötzlich lost sich ihr Druck, der kleine Körper streckt sich – Röcheln und Klagen verstummen.

Ich bin wieder allein.

Ich benachrichtige die Mutter von Fränzchens Tode. Als Marie zur Leiche kam, ging ich aus dem Zimmer.

Vor ihrem Grabe standen wir Seite an Seite. Marie schluchzte zum Steinerbarmen. Ich hatte keine Tränen mehr.

Wir schritten beide zum Kirchhof hinaus. Vor der Pforte wandte ich mich ihr zu und reichte ihr beide Hände.

»Lebe wohl, Marie. Verzeih' mir und sei bedankt. Werde glücklich, wenn du kannst.«

Sie klagte von neuem und packte meine Hände, als ob sie mich nicht lassen wollte.

Ich riß mich los und ging.

Quelle:
Bergg, Franz: Ein Proletarierleben. Zweite Auflage, Frankfurt a. M. 1913, S. 153-171.
Lizenz:

Buchempfehlung

Gellert, Christian Fürchtegott

Geistliche Oden und Lieder

Geistliche Oden und Lieder

Diese »Oden für das Herz« mögen erbaulich auf den Leser wirken und den »Geschmack an der Religion mehren« und die »Herzen in fromme Empfindung« versetzen, wünscht sich der Autor. Gellerts lyrisches Hauptwerk war 1757 ein beachtlicher Publikumserfolg.

88 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon