3.

[179] Die Familienverhältnisse, die ich in Berlin traf, waren nicht die besten.

Meine Mutter allerdings begrüßte mich mit besonderer Rührung. Die gute Frau war in den dreizehn Jahren, seitdem ich sie nicht gesehen, viel gealtert. Mich drängte an ihr Herz das Schuldbewußtsein, als Sohn meine Pflicht doch nicht so getan zu haben, wie ich hätte sollen. Die Kinder, vor allem die Söhne, sind in der Hinsicht eben sehr leichtsinnig. Wir denken wohl an die Mutter; damit aber halten wir uns für alle übrigen Versäumnisse entschuldigt. Inzwischen sitzt die gute Frau zu Haus, einsam, mit den Gedanken an die Vergangenheit, mit den Sorgen um den fernen Sohn, von dem sie jedes kleinste Zeichen der Liebe beglücken würde und der ihr mit keiner Gebärde verrät, daß sein Herz[179] aus der Fremde dann und wann zu der herüber fühlt, die ihm alles gegeben hat.

Dieses Vergessen wird auch von einer Mutter als Undank empfunden und schmerzt um so bitterer. In jedem Fall bedeutet dieses Schweigen eine schwere Schuld.

Heute, wo die gute Frau nicht mehr unter uns weilt, wo es mir nicht mehr möglich ist, ihr zu sagen, daß ich sie mein Lebenlang aufrichtig geliebt habe, wo ich sie nicht mehr um gütige Nachsicht und Verzeihung flehen darf, heute weine ich in der Einsamkeit meiner Zelle ihrem Andenken bittere Tränen nach, und das Lieblose meiner einstigen Unterlassungssünde fällt mir doppelt schwer aufs Herz.

Ihr Kinder, seid gut gegen eure Eltern! Erbarmt euch in Liebe eurer guten Mutter!


Ich trieb, ein Kind, hinaus aufs Meer,

Kein Stern und kein Geleit.

Doch lag in Träumen weit umher

Die goldne Jugendzeit.

Wie glänzte mir der Sonnenschein!

Gespannt die Hoffnungssegel,

Ließ ich, o liebes Mütterlein,

Das Vaterhaus am Pregel.


Getrennt von euch so manches Jahr,

Verschlagen in die Welt,

Doch oft auf fernen Pfaden war

Mein Herz euch zugesellt.

Manch hohes Lied vom Vaterhaus

In Sehnsucht tränenbitter

Sang ich in Sturm und Meeresbraus,

Bei Nacht und Mastgesplitter.


Nun kehrt zurück als armes Blut

Der weltverlorne Sohn,

Doch reich die Brust an edelm Mut,

Sein Herz der Liebe Thron.

Vom Schmerz geläutert, rein wie Gold,

Erklingen seine Lieder,

Durch alle, wundertraut und hold,

Tönt ja dein Name wieder.
[180]

O birg mein Haupt in deinen Schoß

Und streichle sanft mein Haar!

Wie bin ich glücklich! Arm und bloß,

Bringst du mir Liebe dar.

O Mutterherz, so engellind,

Ich will die Welt verneinen;

An deiner Brust, ein schwaches Kind,

Will ich mich selig weinen.


Wenn dann das Abendrot verfacht,

Der letzte Tag verbleicht,

Dann, Mutter, ewig gute Nacht!

Ruh sanft und schlummre leicht.

Ich küsse dir den blassen Mund,

Ich weine still und hole

Den weichsten Klang aus Herzensgrund

Zum letzten Lebewohle!


Meine Mutter wohnte bei Schwester Sophie. Die arme Sophie! Ihr hatten die letzten Jahre noch härter zugesetzt als mir. Sie hatte ein Verhältnis mit einem reichen Kaufmann. Kaufleute und Offiziere haben besonders viel Zeit zur nichtswürdigen Spielerei. Sie glaubte den Ehrenmann ledig, er versprach ihr die Ehe und gewann sie. Ein kleines Mädchen war die Frucht des Umgangs. Als sie den Vater kurz vor der Geburt des Kindes mahnte, seine Pflicht an ihr und dem erwarteten Wesen zu tun, stellte es sich heraus, daß der edle Mann bereits verheiratet war.

Betäubt von der furchtbaren Erkenntnis, willenlos und lebensmüde, ließ sie sich bestimmen, die Abfindungssumme, die ihr der Elende bot, anzunehmen.

Nun saß sie in der von dem Verführer bezahlten Einrichtung in der Elsässerstraße und sorgte um ihr Kind. Ihre Stimme hatte durch die Geburt gelitten. Aber die Schmerzenssumme war nicht ausreichend, und so mußte sie wieder singen. Ich trat also in die Verhältnisse eines Sudermannschen Gesellschaftsstücks mitten hinein. Nur ging dieser blutige Scherz mich selbst des Nähern an.

Die Lage meiner Mutter war nicht beneidenswert. Sie[181] trug die Enttäuschung ihrer Tochter mit heimlicher Scham. Sie war sich all des Zweideutigen in dem Schicksal Sophiens nur zu sehr bewußt und verglich damit ihre eigene, recht dürftige, aber durchaus tapfere Vergangenheit. Sie hatte viel unter den Launen der Tochter zu leiden. Die bösen Erfahrungen waren nicht spurlos an der Schwester vorübergegangen Ihre Nerven waren recht angegriffen. Ihr Hang zur Vornehmtuerei hatte sich ins Lächerliche gesteigert.

Wir grüßten uns so herzlich, wie es unter den Umständen nur möglich war. Ich war jedenfalls verlegener als sie. Aber ich brauchte es nicht lange zu bleiben.

»Hast du auch deine Stiefel gut abgerieben?« Das war Sophiens zweites Wort des Willkommens.

Sie fürchtete für ihre Teppiche und hatte kein Gefühl für den seltsamen Empfang, den sie mir bereitete. Noch mehr: in dem Zimmer, wohin sie mich führte, arbeiteten zwei Schneiderinnen an der Maschine; als ich eintrat, blickten die jungen Damen auf. Meine Schwester raunzte sie darauf mit einer Heftigkeit an, die mich im Innersten empörte.

Ich bat später die Damen um Entschuldigung, daß ich die unschuldige Veranlassung zu diesem peinlichen Zwischenfall gegeben hatte. »O«, meinten sie gelassen, »Ihre Frau Schwester ist krank und im Grunde nicht so schlimm.«

Ich suchte mich vorerst in Berlin selbständig einzurichten. Auf einer Zigarrenfabrik fand ich Arbeit gegen 15 M. wöchentlich.

Meine freie Zeit verbrachte ich meistens bei Mutter und Schwester.

Ich klagte der Mutter meine Erlebnisse, vor allem das Unglück mit Marie und dem geliebten Kinde.

Sie bedauerte mich aufrichtig. Aber es beruhigte sie, daß die kleine Franziska tot war.

Meine Schwester brachte mir bald aufrichtige Hochachtung entgegen. Mir wurden die seltsamen Gegensätze in ihrem Wesen täglich klarer.[182]

Sie wunderte sich über die Sicherheit, die ich in Haltung und Rede gewonnen hatte. Ich dachte nicht daran, mehr aus mir zu machen, als ich war, gab mich natürlich und geradehin. Aber meine Unterhaltung verriet doch den Mann, der viel beobachtet, viel gelesen und viel behalten hat. Mehr als einmal rief Sophie bewundernd aus: »Nein Franz, was bist du gebildet!«

Sie wollte nämlich auch den Vorzug der Belesenheit und Bildung um sich her verbreiten. Auch spürte man aus den schauspielerisch gesetzten, mit berechneter Wohlbetonung gesprochenen Worten recht bald den Wunsch heraus, über den innern Mangel an Gehalt eine blendende, vielsagende Tünche zu ergießen.

Sie hatte sich eine Zeitlang sogar mit Pinsel und Palette versucht, um ganz die große Dame spielen zu können. Einige Versuche ihrer Künstlertätigkeit schmückten die Wände des Wohnzimmers. Gerade so übel waren sie nicht. Leider hatte man auch hier den Eindruck des Unfertigen, der Halbheit, die mehr erstrebte, als ihr die Natur oder die Verhältnisse erlaubten. Wie es ja auch ganz mein Fall war und zum Teil noch ist.

Meine Gegenwart übte auf Sophie einen wohltuenden Einfluß aus. Sie gestand mir ihre Schwäche zur Eitelkeit und bestrebte sich, wahrer und einfacher zu werden.

Auch der Mutter begegnete sie mit größerer Kindlichkeit. Es fiel mir auf, daß die Mutter, wenn Gesellschaft da war, den Saal nicht betreten durfte. Die Schwester hatte es so gewünscht, um nicht zu sagen – befohlen. In meiner Entrüstung wusch ich dieser brüderlich den Kopf. Die Mutter hatte gebeten, ich sollte doch beileibe nichts sagen. Ich tat es trotzdem. Und ich tat noch mehr.

An dem nächsten Besuchsabend führte ich die Mutter an meinem Arme in den Saal. Die Schwester errötete. Die anwesenden Damen waren voll Liebenswürdigkeit. Die liebe, alte Frau gab sich mit natürlichem Anstand und alles ging tadellos.[183]

Seither durfte sie nach Wunsch dabei sein. Sie zog es aber, bis auf wenige Ausnahmen, vor, auf ihrem Zimmer zu bleiben.

Sophiens Gesellschaftsabende brachten mir viele angenehme Stunden. Vor allem fanden sich dazu ihre Kolleginnen ein: Ein munteres Völkchen, in dessen Mitte Zwanglosigkeit den Ton abgab.

Sie plauderten viel und sangen noch mehr. Ich war natürlich wieder der vielgereiste Mann und mußte erzählen. Manchmal nahm ich auch die Gelegenheit wahr, mich von einer mehr künstlerischen Seite zu zeigen, und trug Gedichte vor, fremde Verse; meine eigenen hielt ich eifersüchtig geheim.

Meine Vorträge fanden viel Anklang. Die hübschen Zuhörerinnen versicherten mir, ich hätte entschieden Talent, ich dürfe mich auch in der Öffentlichkeit vor einem größern Kreise hören lassen.

Vorerst versuchte ich auf einem andern Felde mein Glück.

Es hatten sich in meinem Koffer allmählich eine Anzahl Verse zum Bändchen zusammengefunden. Ich dachte nicht schlecht von ihnen; die meisten waren mir, als Niederschlag besonders gehobener Stimmungen, oder als Bekenntnis erschütternder Stunden, ans Herz gewachsen. Und die Liebe sieht bekanntlich falsch.

Ich trug mich mit dem Plan, sie als Buch herauszugeben, und suchte mir den einflußreichen Fürsprech, der sie einem Verleger empfehlen könnte.

Ich dachte an Sudermann. Ich wußte, auch er hatte sich unter schwierigen Verhältnissen in die Höhe gerungen; er hatte erfahren, wie es armen, aufstrebenden Kämpferseelen zumute ist. Vielleicht ließ er sich, in Erinnerung an die eigene Kindheit und in Dankbarkeit gegen das Glück, bereit finden, einem unbekannten Landsmann den Weg ins Leben zu ebnen.

Ich wählte einige Gedichte aus und übersandte sie[184] ihm mit der ergebensten Bitte um Prüfung und Empfehlung. Ich verschwieg ihm nicht, daß ich Zigarrenarbeiter war und daran dachte, mich als freier Schriftsteller hochzubringen.

Mit Herzklopfen erwartete ich seine Entscheidung. Sie lief nach einigen Tagen ein. Sie war knapp, bündig und nicht unfreundlich.

Meine Verse, so schrieb der Dichter, verrieten ernste Empfindung, leider seien sie allzu formlos, eine Formlosigkeit, die sich sogar bis auf die Verwechslung von mir und mich erstreckte. (Es war damals nur zu wahr.) Er rate mir aufrichtig, bei meinem Handwerk zu bleiben; das Umsatteln könne mir nur Enttäuschung bringen.

Damit waren meine eigenen Zweifel bestätigt und mein Urteil gesprochen.

Die Formlosigkeit bleibt mein Verhängnis, in allem und überall. Sie klebt den wenigen Versen auch noch in der gründlich überarbeiteten Gestalt an, in der ich sie dieser Beichte einverleibe.

Eine bessere Schulbildung von Haus aus, und ich wäre ein anderer Mensch geworden! Ich hätte zum mindesten meine Muttersprache meistern lernen.

Ich bilde mir heute nicht mehr ein, daß mich diese Festigkeit zum Dichter gemacht hätte. Ein paar Verse, ein paar Gedichte, die man in günstiger Stunde von sich gibt, machen noch nicht den Dichter. Jeder Mensch, der stark und wahr empfindet, kann auf solche Weise Dichter sein. Aber fremdes Leid und fremde Freude wie die eigenen empfinden und gestalten, diese Kraft, die den Dichter macht, erkenne ich mir auch heute nicht zu.

Bis zu der Höhe bleibt noch ein breiter Zwischenraum, wo sich Tausende ein bescheidenes Heim gründen könnten.

Mehr als einem Schafskopf ist das gelungen, weil er in der Wahl seiner Eltern klüger gewesen ist, weil ihm deshalb von der Gesellschaft sämtliche Mittel zur Verfügung[185] gestellt wurden, die bei etwas Glück auch den Dümmling in die Höhe bringen.

O ihr Emporkömmlinge des satten Mittelstandes, ihr Auserwählten der Hochschulbildung, blickt nicht so hochnäsig auf den Proletarier nieder! Verlacht ihn nicht, weil er mir und mich verwechselt, wie das eines Tages dem Genossen Reimers im Reichstag von den kulturgesalbten Konservativen widerfahren ist.

Wir tragen in uns doch wenigstens den Hunger nach Wissen, den Drang nach den Gipfeln der Erkenntnis, die unselige, weil unbefriedigte Sehnsucht nach dem Ideal des Guten und Schönen, und fühlen uns in unsrer Unfertigkeit stolz und über euch erhaben. Ihr an unsrer Stelle hättet zufrieden grunzend an den Trögen gehockt oder wäret mit wiederkäuendem Behagen Ochsen geblieben! Daher, nicht so überlegen die Schnurrbartspitzen gen Himmel gestrichen, ihr Herren Spießer, und etwas mehr Respekt vor den Märtyrern des mir und mich!

Freilich, dem Sudermann trage ich nichts nach. Der Mann meinte es gut und zahlte mir mit Offenheit. Aber krank möchte ich noch heute werden vor Wut und vor Neid, wenn ich an die Ungerechtigkeit des Lebens denke!

Da saß ich, ein Mensch, der die Dichter seines Landes kannte und verstand, der selber etwas zu sagen hatte, sich zur Freude und den andern zur Befreiung, der unwiderlegliche Proben seines geistigen Könnens gegeben hatte, da saß ich, ein deutscher Mann, und konnte nicht deutsch schreiben.

Ja, nicht einmal richtig deutsch sprechen.

Ich konnte den Königsberger Tagelöhnersohn auch in meiner Rede und bei meinem Vortrag nicht verleugnen. Darauf machten mich Zuhörer, die es gut mit mir meinten, beizeiten aufmerksam. Wollte ich als Vortragender öffentlichen Erfolg haben, so mußte ich vor allem richtig sprechen lernen.

Die Volksschule legt auf eine fehlerlose Aussprache[186] nicht genügend Gewicht. Das wäre um so notwendiger, als von Kreis zu Kreis durch die Mundart die Aussprache eigentümlich beeinflußt wird und damit besondere Sprechgrenzen gezogen werden. Das Fehlerhafte, was einem in der Schule nicht abgewöhnt wird, schleppt man sein Lebenlang mit sich. Mehr als eine schöne Handschrift empfiehlt aber das richtige Sprechen, der wohlklingende Tonfall.

Die Weiber machen sich von den sprachlichen Unarten viel leichter frei als die Männer. Meiner Schwester hörte niemand die Königsbergerin ab. Warum sollte mir nicht gelingen, was ihr möglich gewesen? Soll mein eiserner Wille nicht erreichen, was ihrer weiblichen Geschmeidigkeit leicht gefallen ist?

Ich begab mich mit um so größerm Nachdruck an die Arbeit, weil ich als Vortragender einzuholen suchte, was mir als Schriftsteller nicht möglich wäre: Erfolg, Unabhängigkeit und öffentliche Achtung.

Ich nahm deutschen Sprach- und Sprechunterricht. Die Anfänge waren hart, denn die Grundlage fehlte. Aber es ging. Ich durfte es wagen, mich zu öffentlichen Vorträgen zu melden.

Dabei machte ich folgende Erfahrung: Wahrhaft gebildete Personen der bessern Stände nehmen kaum Anstoß an der fehlerhaften Sprechweise eines Menschen, der in minder begünstigter Umgebung aufgewachsen ist, und das um so weniger, wenn dieser Mensch etwas zu sagen hat; höchstens sind sie darauf bedacht, über der Unterhaltung ihre Antworten so zu fassen, daß der aufmerksame Zuhörer daraus seine Fehler selbst verbessern kann.

Daneben gibt es aber Menschen, die das Schwergewicht ihrer Aufmerksamkeit vom Inhalt des gesprochenen Satzes auf die Aussprache verlegen und bei dem geringsten Verstoß in Nervenzuckungen fallen oder ein Lachen verbeißen. Das sind die Armen im Geiste, die Oberflächler und Phrasenpräger, die Bildungsflegel und das Salongassengevögel. Ihre Zahl ist Legion.[187]

Ich fühlte mich im Verkehr mit den sogenannten höhern Ständen klein und beklommen. Je näher ich aber mit ihnen in Verbindung kam, um so höher schätzte ich meine Fähigkeiten und mein Können ein, um so freier und selbstbewußter gab ich mich.

Meine Vortragsfertigkeit ward besonders von Vereinen in Anspruch genommen. Sie brachte mir auch klingenden Erfolg. Allerdings flossen diese Einnahmen unregelmäßig, aber sie fielen, an meinem Arbeitslohn gemessen, reichlich aus. Sie setzten mich in den Stand, den höhern Ansprüchen der Hauptstadt, den kostspieligen Verpflichtungen, denen ein Vortragskünstler in Kleidung und Umgang nachkommen muß, zu genügen.

Ich konnte es wagen, meine Stellung in der Fabrik zu kündigen. Der durchdringende Arbeitsgeruch schwand damit aus meiner Kleidung. Ich stellte mich allein auf meine Kunst.

Schon hatte sich auch die Kritik belobigend geäußert. Die Aufträge mehrten sich. Ich mußte mich an der Schwelle wähnen, die zur Erfüllung meines berechtigten Ehrgeizes führte.

Wie sehr ich es durfte, beweist das folgende Erlebnis. Der literarische Verein »Lese« hatte einen großen Vortragsabend veranstaltet. Auch ich war um meine Mitwirkung gebeten worden.

Ich sprach den Prolog zu »Faust«. Die Natur hat meiner Stimme einen Umfang gegeben, der um eine halbe Oktave über die gewöhnlichen Stimmen hinausreicht. Dieser Vorteil erlaubte mir, die Tonleiter Goethischer Empfindungen von den tiefsten bis zu den höchsten Sprossen zu durchlaufen. Ich hatte mir dies Meisterwerk von Rhythmus und Melodie nach eigener Auffassung zurechtgelegt. Ich brachte zu dem Vortrag eine begeisterte Liebe mit und den Wunsch, an dem Abend mein Bestes zu leisten und so den ersten siegreichen Vorstoß in die weiteste Öffentlichkeit zu tun.

Ich durfte mit dem Erfolge zufrieden sein. Ein allgemeiner,[188] lang andauernder Beifall verriet, daß die Zuhörerschaft ergriffen war.

Als ich vom Pult heruntertrat, stellte sich mir ein vornehmer, junger Herr vor, Architekt von B., beglückwünschte mich mit Herzlichkeit und führte mich an seinen Tisch. Eine ihm befreundete Dame, die Baronesse von W., wünschte ebenfalls, dem vortrefflichen Dolmetsch Goethischer Gedanken ihre Anerkennung auszusprechen.

Fräulein von W. empfing mich mit liebenswürdiger Schmeichelei. Ich mußte neben ihr Platz nehmen. Sie war nicht eben schön, aber schlank und vornehm, und ihre Augen strahlten schwärmerische Schwermut. Sie erwies mir viele Artigkeiten an dem Abend, rühmte meine Auffassung von der Dichtung und konnte mit bewunderndem Augenaufschlag nicht genug Worte des Lobes finden für den sinnlichen Glanz meiner Stimme.

Diese feine Bemerkung bestätigte eine Vermutung, die ich mehr als einmal vor mir selber geäußert hatte über die Wirkung, die das gesungene oder das gesprochene Wort auf das zarte Geschlecht ausübt. Die Musik des Wortes löst sich bei den Weibern in einem Sinnenreiz aus, der sogar die tiefsten Tiefen ihres physischen Wesens aufrütteln, aufpeitschen kann und sie für alles übrige Empfinden unempfänglich macht. Wie ließe sich sonst die Begeisterung, um nicht zu sagen Mannstollheit, verstehen, womit manche Operntenöre oder jugendliche Heldenliebhaber von Frauen und Mädchen, auch der höchsten Aristokratie, angehimmelt, angegeilt werden! Die Musik des Wortes bleibt die gefährlichste Kupplerin! Sie wirkt, wie keine andere Sinneseinwirkung, auf das Geschlecht.

Einige Tage später schrieb mir Herr von B., Fräulein von W. wäre erfreut, wenn ich zu ihrer kleinen Abendgesellschaft mit hinausfahren wollte. Ich tat einen Luftsprung und takelte mich besonders fein heraus. Meine Schwester, der ich mich vorstellte, empfand an diesem Abend für ihren Bruder aufrichtige Bewunderung.[189]

»Franz, ich sage dir, das ist der Anfang zu deinem Glück!« Mit dieser Prophezeiung entließ sie mich.

Ein Wagen brachte uns nach Pankow. Dort bewohnte Fräulein von W. eine Sommervilla.

Der Juliabend war köstlich, die Gesellschaft klein, aber erlesen. Unsere Wirtin strahlte in Freundlichkeit und Weiß.

»Lassen wir allen Flitter beiseite. Wir sind nicht bei Hof.«

Diese Worte des Fräuleins verbreiteten gleich eine gemütliche Stimmung.

»Sie, Herr Bergg, vergessen die Baronesse und sagen einfach Fräulein Wanda, denn ich bin Polin von Geburt.«

Die Erlaubnis, die laut erteilt wurde, war um so feinfühliger, als noch zwei junge Damen bürgerlichen Standes zugegen waren. Damit wurde jeder Unterschied der Geburt und des Standes ausgelöscht.

Der Mensch in mir empfand diese Ausgleichung mit Dankbarkeit und Genugtuung. Ich fühlte mich gehoben, denn die Anerkennung galt einzig und allein dem, was an Tüchtigem in mir lebte und strebte.

Natürlich mußte ich einige Gedichte sprechen: Schillers »Ideale«, Goethes »Braut von Korinth«, Heines »Muttergottes von Kevelaer«, Kinkels Kerkerlied vom »Vöglein«.

Über dem Vortrag des letzten Liedes tupfte sich Fräulein Wanda heimlich die Wangen.

Der Musikprofessor, Herr Kleib, ein Ideal von einem Menschen, feierte mich mit wirklich überschwenglichen Worten.

Er fühlte sich durch meinen Vortrag angeregt und ließ seine Phantasien auf dem Klavier mit göttlicher Kunst schweifen, klagen, jubeln und stürmen.

Ich löste ihn wieder ab, und so schlang sich hin und her die reizendste Wechselwirkung von Wort und Klang.

Die Gesellschaft lauschte mit sichtlichem Entzücken. Für die Aufrichtigkeit ihrer stets wiederholten Nachforderungen[190] zeugte beredt die Stille, die nach Schluß eines Vortrags im Zimmer waltete, die süße Empfindungslähmung, die selige Gefühlsbannung, die man durch ein Wort, ja durch eine Bewegung aufzuheben, aufzuschrecken fürchtet.

Diese weihevolle Stille, die sinnigste Huldigung, die einem Künstler dargebracht werden kann, wird unübertrefflich schön gekennzeichnet durch das volkstümliche Wort: »Ein Engel schwebt durchs Zimmer.«

Die Baronesse vor allem schien glücklich. Die Schwermut war aus ihren Augen gewichen, Freude durchschimmerte ihre Wangen. Ihr Blick ruhte, wie ich mir einbildete, mit besonderm Wohlgefallen auf mir. Ich fragte mich manchmal: »Bist du es wirklich? Oder hast du dich ins Märchen verirrt? Sitzt nicht dort eine verzauberte Prinzessin, die dich zu ihrem Ritter will?«

Mich durchrieselte ein Hoffnungsschauer, unter dem mir fast die Füße schwanden, und dann wieder eine Angst, als wollte das Herz mir stille stehen.

Zum Gipfel verirrte sich diese verrückte Einbildung, als Fräulein Wanda heranschwebte und mit dem lieblichsten Lächeln zu mir sagte: »Musik und Wort, diese unvergleichlichen Mächte, ergänzen sich. Das ist mir ein neuer Beweis, wie der Mensch des Menschen bedarf.«

»Ja,« meinte der Architekt, der auf uns zugetreten war, »Töne und Worte vereint umschließen die höchste Welt. Sie bilden die vollendete Ehe, in der das Wort das männliche, die Töne das weibliche Prinzip darstellen.«

Ein innerlich dankbarer Blick der Baronin lohnte dem Sprecher dies liebe Wort.

»Ich erkenne gerne an,« fuhr der Musikprofessor fort, indem er das lange Haar von der hohen Stirne zurückstrich, »daß die Art unseres hochgeschätzten Rezitators das Wesen beider Geschlechter glücklich vereinigt. Sein gesprochenes Wort ist Musik.«

Die allgemeine Anerkennung verwirrte mich leicht. Meine Seele, die den Feuertrank des Lobes kaum noch hatte[191] schlürfen können, die bis dahin still und einsam an den eigenen Kräften gezehrt hatte, die jahrelang wie mit einem Reibeisen geschunden ward, tauchte mit Wonne in diesem Bade der Lobpreisung unter. Die armen Menschen besonders bedürfen eines Maßes gerechter Anerkennung als der notwendigen Nahrung. Nur der Schwächling verlangt der süßen Speise mehr, als er vertragen kann. Aber so verächtlich auch dieser Schwächling bleibt, so wenig vergibt der gerechte Mann seiner Würde, wenn er im richtigen Augenblick zu loben versteht.

Nach den letzten Schmeicheleien, die mir gespendet wurden, fühlte ich, daß auch ich ein Wort sagen müsse. Die auf mich gerichteten Blicke verrieten Erwartung. In dieser gehobenen Stimmung brauchte ich die Schreckgespenster »mir« und »mich« nicht zu fürchten. Ich wußte ihnen gewandt auszuweichen; wenn sie unheildrohend an mich heranschlichen, verstand ich es, auf dem kleinen Umweg durch eine Umschreibung schadlos an ihnen vorbeizuschlüpfen.

»Sie werden überrascht sein, meine Damen und Herren,« so begann ich, in der überlegenen Haltung Napoleons, »überrascht sein, zu sehen, mit welcher Unverschämtheit ich Ihren Beifall in die Tasche stecke, als wenn er mir zehnmal gebührte und Sie mir damit eine fast verjährte Schuld entrichtet hätten. Aber Sie werden in dieser Aufgeblasenheit kein verbannungswürdiges Verbrechen erblicken. Die Unverschämtheit ist ja kein fremdländisches Gewächs. Sie ist eine heimatliche Pflanze und seit dem Aussterben der Markgrafen besonders in Brandenburg-Preußen üppig ins Kraut geschossen.«

Ich machte eine kleine Kunstpause, um den Erfolg dieser Einleitung festzustellen. Ein verhaltenes Kichern ging durch die Reihen der Gesellschaft. Der Architekt rief mir ein leises »Bravo« zu. Die Augen der polnischen Baronin kündeten aufrichtige Schadenfreude.

»Der Wucherkraft dieser Nationalpflanze, die fast unser ganzes Land überrankt, kann sich der einzelne schwer entziehen.[192] Aber ich glaube, daß wir uns selber ehren, wenn wir in Stunden geistiger Genüsse derer gedenken, die uns die Meisterwerke der Kunst und Poesie vererbten. Diesen hohen Vollendeten gebührt die Palme des Dankes und der Anerkennung an erster Stelle.«

Ich machte nach diesem lebensgefährlichen Gedankensprung eine neue Pause. »Weiter! Weiter!« schienen mir die Blicke der gespannt Lauschenden entgegenzuglühen.

»Da wir aber unsere Denker und Dichter nicht besser ehren können als mit ihren eigenen Gedanken und durch ihre eigenen Werke, so gestatten Sie mir, hochgeehrte Herrschaften, Ihnen ein neues Gedicht vorzutragen, das Ihnen kaum bekannt sein möchte und dessen Inhalt einen grellen Mißklang in unsern so stilvoll verlaufenen Abend hineinwerfen könnte, wenn ich nicht die Gewißheit hätte, daß Sie, meine verehrten Zuhörer, sämtliche Widersprüche des Lebens im großen Zauber der Kunst überwinden und versöhnen. Die Überschrift des Gedichtes lautet: ›Im Irrenhause‹.«

Eine Bewegung ging bei dem unerwarteten Titel durch die Gesellschaft. Verwunderte und ängstliche Blicke kreuzten sich. Aber bald spürte ich, wie erwartungsvolle Spannung ihre Fühlkörper auf mich richtete.

Ich nahm alle Kraft zusammen und sprach die ergreifenden Verse, in denen Robert Kuntze einen Gang durch die Stätten des Wahns und des Jammers geschildert hat.

Tief ergriffen lauschte die Gesellschaft. Der Gang durch diese Hölle der bei lebendigem Leibe dem Geiste Abgestorbenen durchschauerte sie. Die Baronin führte das Spitzentüchlein mit fieberhaft zitternder Hand an die Augen.

Plötzlich sprang Professor Kleib, wie von elektrischer Kraft gerührt, von seinem Stuhl und rief mit ergriffener Stimme: »Ich fühle mich gezwungen, diesen Gang durchs Irrenhaus zu wiederholen im Geleite der Musik. Herr Bergg, sagen Sie mir, ob Sie in meinen Tönen nicht die unglücklichen Helden Ihrer Dichtung wiedererkennen.«

Und er setzte sich ans Klavier.[193]

»Das Irrenhaus auf dem Klavier!« sagte Fräulein Wanda und schlug die Händchen zusammen. »Das widerstrebt meinem Gefühl.«

»Ich,« entgegnete der Architekt, »habe in das Können unseres verehrten Professors volles Vertrauen. Ich nenne das wirklich eine persönliche Idee.«

Mit unvergleichlicher Gewandtheit schlug Kleib die ersten Töne. Das Klavier hub unter seiner Hand mit lebendigen Zungen zu singen an. Sämtliche in den Versen angedeuteten Stimmungen wurden ausgeschöpft. Dabei warf der Künstler, mit seitwärts gewandtem Kopfe, einzelne, kurz hervorgestoßene Worte in den Fluß seines Spiels, um den flüchtig vorbeiklingenden Wellen dauernde Lichter aufzusetzen.

Mit einem schrillen Mißklang brach das Spiel unerwartet ab. Kleib blieb wie vergeistigt vor den wunderbaren Tasten gebannt. Alle Anwesenden waren erschüttert. Die Baronin sprang unter dem Drang der Gefühle auf, trat in die Türe zum Balkon und rief mit zitternder Stimme, in den Garten hinausdeutend: »O sterbende Schönheit im letzten Schimmer des Abendrots!«

Ich drückte dem Pianisten in stummer Ergriffenheit die Hand.

Herr von B. erklärte voll Überzeugung: »Ein Ton, Herr Professor, enthält mehr Wahrheit als die ganze Mathematik.«

Die übrigen stimmten zu.

Herr Kleib wehrte bescheiden ab. »Und doch glaube ich kaum,« sagte er, und machte die artigste Handbewegung nach mir hin, »daß ohne den Vortrag des Herrn Bergg die Wirkung meines Spiels so tief gegangen wäre.«

»Sie haben recht,« bekräftigte Fräulein Wanda, die inzwischen herangetreten war, »Herr Bergg hat in uns den Samen gepflanzt, den Sie zum Keimen brachten. Ich aber,« fügte sie hinzu und griff damit auf ihre Lieblingsvorstellung zurück, »erkenne nun klarer als sonst, wie sich die[194] Menschen ergänzen müssen, um die höchste Vollkommenheit zu erreichen.«

»Und doch,« so wagte ich bescheiden einzuwerfen, »scheint mir die Ehe zwischen Wort und Ton am glücklichsten, wenn sie auf Gütertrennung, nicht auf Gütergemeinschaft geschlossen ward. Letzteres ist bei der Oper der Fall, mit der ich mich daher nicht recht befreunden kann. Ein Ton genießt sich am reinsten ohne das Wort, denn dieses lenkt ab und stört das unmittelbare Gefühl des Klangs.«

Eine der jungen Damen, die eben das Abtsche Lied: »All Abend, bevor ich zur Ruhe geh'« ganz allerliebst mit Klavierbegleitung zu Gehör gebracht hatte, fühlte sich durch meine Bemerkung getroffen. Da kam mir zum Glück der Professor zu Hilfe. »In der Tat,« hub er an, »scheint das zarte Geschlecht der Töne von einer gewissen Grenze ab unter einer solchen ehelichen Gemeinschaft zu leiden. Aber bei einem rein lyrischen Gedicht, bei einem Volkslied, so wie es uns von Fräulein Achim eben ganz entzückend geboten worden, ist die Gütergemeinschaft beiden Teilen vorteilhaft. Der Ton gewinnt an Bestimmtheit, das Wort gewinnt an Tiefe. Beide üben in dieser Verbindung erst ihre volle Wirkung. Ich begreife daher, daß einfache, musikalisch nicht ausgebildete Gemüter in dem Volkslied überhaupt die Krone der Tonkunst begrüßen.

Die Oper dagegen bringt sämtliche Zwischenfälle einer unglücklichen Ehe, wo die beiden Gatten sich gegenseitig unerträglich geworden sind und doch nicht auseinander kommen. Der weibliche Teil wird in der reinsten Entfaltung durch die Härte des Wortes behindert und gedrückt; der Mann büßt unter der unruhig auf und ab flackernden Beweglichkeit des Tones an Tiefe ein, und wird in besonders ergreifenden Augenblicken mit dem Mantel der Lächerlichkeit behängt. Man denke nur an die gesungenen Sterbeszenen.«

»Ja, ja,« lachte der Architekt, »da haucht ein sterbender Held der Liebsten oder dem Leben seine letzten Grüße oder[195] Schwüre zu und holt dafür mit lächelndem Gesicht die schmetterndsten Töne aus dem Bändergefüge seines Kehlkopfs heraus.«

»Herr Bergg,« so schloß der Professor, »war also auf der richtigen Spur, als er von ›Ehe mit Gütertrennung‹ sprach. Ich persönlich allerdings will von keiner Ehe was wissen. Poesie und Tonkunst mögen sich als Braut und Bräutigam gegenseitig anglühen, umwerben, küssen und schließlich zum lyrischen Liede vorübergehend verlieben; eigentlich glücklich werden sie nur eine jede auf eigene Weise, wie ja auch das schöne Geschlecht zu seiner höchsten Vollendung gar nicht der Ehe bedarf. Unsere gütige Wirtin wird mich verstehen.«

Und damit beugte er sich über die Hand der schönen Frau und führte sie andächtig an die Lippen.

Seine so artige Schmeichelei fand allseitig freudige Zustimmung.

Unter dieser anregenden Unterhaltung, wo sich alle Künste die Hände reichten – auch die vollen Schultern der Damen blühten mir stets verführerischer durch die leichten Spitzenblusen in die Sinne –, verging der Abend nur zu rasch.

Nach Mitternacht setzte der Wagen des Herrn von B. den Professor und mich vor dem Café Bauer ab, wo wir uns bei einem Karthäuser gute Nacht sagten.

Ich schritt wie auf Flügeln meiner öden Kammer auf der Hofseite eines vierten Stockes in der Karlstraße zu.

Als ich am Morgen erwachte und die schönen Stunden noch einmal für mich erlebte, geriet mein Herz auf einmal in eigentümliche Not.

War es nicht schimpflich von mir, mich in eine Gesellschaft hineinzuschmuggeln, wohin ich nicht gehörte? War es kein Vertrauensmißbrauch, diese Gesellschaft über meine Vergangenheit zu täuschen oder auch nur im unklaren zu lassen? Würden die edeln Menschen, deren Achtung und[196] Auszeichnung ich genoß, auch dem Vorbestraften ihre Türe geöffnet haben?

Wenn nicht, wer gab mir dann das Recht, mich in ihre Mitte zu drängen? War ich nicht verpflichtet, sie aufzuklären, damit sie sich als Wissende in voller Freiheit entscheiden dürften?

Hatte ich nicht schon einmal meine Hinterhältigkeit mit arger Demütigung und unersetzlichem Verluste büßen müssen?

Gebot mir nicht der Stolz, mir das Leben zu erobern mit offener Stirn, im Arbeitsgesicht, ohne Larve und Maskenkleid? Unter jeder Bedingung?

Ich war bald entschieden. Ich schrieb zwei Briefe an Fräulein von W. und an Herrn von B. Ich deutete ihnen ohne Rückhalt meinen Lebenslauf an; ich unterstrich, daß der Liebling des Abends drei Wochen Gefängnis wegen Veruntreuung hatte absitzen müssen.

Hätte ich doch diese Blätter zur Verfügung gehabt, um den Lesern ein Urteil in voller Sachkenntnis zu ermöglichen! So mußte ich mich fast nur mit der Angabe nackter und brutaler Tatsachen begnügen. Wie leicht aber schlagen die nackten und brutalen Tatsachen einen Menschen tot!

Für die nächste Woche war ein Ausflug nach den Havelseen vereinbart worden. Ich gab am Schluß meiner Briefe zu verstehen, es sei mir unmöglich, die Fahrt mitzumachen, wenn mir bis dahin die Stellung der Herrschaften zu der veränderten Sachlage nicht bekannt sei.

Durch dieses Geständnis fühlte ich mein Herz entlastet. Als ich die Briefe zur Post gebracht hatte, kam über mich ein Hochgefühl der Freiheit.

Ich wollte mein Schicksal mit Mannesmut abwarten. Aber schon am zweiten Tage ließ die Ruhe nach. Am dritten Tage stieg die Ungewißheit. Sie schlug in Zweifel um und mischte sich mit einer wilden Angst. Wie schlichen die Stunden so träge! Warum kommt der Briefbote immer so spät? Wenn meine Briefe verloren gegangen wären? Wenn die[197] Antwortschreiben nicht an die richtige Adresse kämen? Alles ist möglich, auch im Musterstaate Preußen.

Soll ich nicht noch einmal schreiben? Meine Antwort mündlich holen? War es denn nicht möglich, den Architekten in den bekannten Lokalen, um die bewußte Stunde, zu treffen?

Ich wurde nervös, ich wurde halb verrückt. Die Menschen langweilten mich. Meine Mutter ward traurig. Meine Schwester, die selber genug zu tragen hatte, schimpfte.

Noch zwei Tage bis zum Ausflug.

Da lagen abends zwei Briefe auf dem Tisch. Einer im weißen, einer im rosafarbenen Umschlag.

Ich erbrach zuerst den kleineren. Eine Visitenkarte. Darauf stand: »Architektonische Studien rufen mich nach England. v.B.«

Ich erbreche den größeren in Rosa und lese: »Wie der Blitz traf mich Ihre unglückselige Nachricht. Mein Zustand erfordert Ruhe und Erholung Leben Sie wohl. Sie Unglücklicher! Gezeichnet: ›Eine vom Schicksal Geschlagene‹.«

Ich lachte schrill auf, riß die Briefe in hundert Fetzchen und warf mich aufs Bett.

Am Rande der Gesellschaft, der Partei, der Familie! Nirgends ein Platz für mich!

Nun, wenn ihr mich um jeden Preis als Lumpen haben wollt, so gebe ich euch den Lumpen!

Die Wochen, die nun folgten, möchte ich mit Tränenbächen aus meiner Lebensgeschichte fortschwemmen. Die Unwürdigkeit ist einmal zu groß.

Die nächsten Tage hockte ich zu Hause. In stumpfer Tatlosigkeit. Vom Stuhl ins Bett. Aus dem Bett zum Stuhl. Ich kümmerte mich um nichts an mir und neben mir. Dann schlenderte ich durch die Straßen, ohne Zweck noch Ziel, die Hände in den Hosentaschen, mit starrem Blick.

Was lag mir an all dem Possenspiel! Ich vernachlässigte mich. Morgens wusch ich mich kaum noch, ging aus ohne Kragen und Halstuch.[198]

»Franz, Franz!« rief mir eines Tages eine Stimme, als ich wieder wie geistesabwesend durch die Straßen bummelte. Es war Cousine Fanny, aufgedonnert, herausfordernder als je.

Ich blieb stehen und erwartete sie, wie ein in seiner Ruhe gestörter verbissener Köter. Ich witterte in ihr ein Opfer für meine Wut.

»Aber Franz, wie siehst du aus! Du gehst mit bloßem Hals! Trägst nicht einmal einen Kragen! Mensch, was ist denn los bei dir?«

»Was los ist?« bellte ich sie an, daß sie erschrocken zurückfuhr. »Mein bloßer Hals kleidet mich besser, als dich dein Dirnenmantel mit Gold- und Silberstickerei. Hier hast du deinen Ring zurück. Nimm ihn oder ich schmeiß' ihn in den Dreck, du, du ...!«

Das Mädchen stand wie versteinert. Dann wandte sie sich und lief davon.

Ein paar Tage später hielt ein Wagen vor meiner Haustüre. Die Mutter kam zu mir herauf. Schwester Sophie sei auch mitgekommen, aber sie habe gefürchtet, zu stören; deshalb warte sie unten.

Ich war in all den Tagen nicht bei der Familie gewesen. Nun hatte Fanny ihnen gemeldet, ich werde wohl krank sein.

Die gute Frau brach beim Anblick der Veränderung, die mit mir vorgegangen war, in Tränen aus.

Ich konnte ihr nicht klagen und konnte sie auch nicht trösten.

Ich fühlte ihre unaussprechliche Liebe zu mir und ihr unaussprechliches Leid. Aber von mir zu ihr gähnte eine unüberbrückbare Kluft. Ich war ihrem und der Familie Gesichtskreis entwachsen. Meine Empfindungen waren andere, andere meine Bedürfnisse. Was begriff sie von dem Zwiespalt, in dem meine Seele damals auseinanderbrach? Was von dem Verdammungsfluche, den die Welt mit dreimaligem Hohngelächter über mich hingeschleudert hatte?[199]

Ich war ein Ehrloser, ein Stümper, ein Entmannter. Wie sollte ich der alten Frau, die so hilflos zu mir herüberschluchzte, dieses ganze Elend klar machen? Nein, nein, wir konnten uns nicht helfen.

Ich konnte ihr nicht klagen und konnte sie auch nicht trösten.

Sie blieb nicht lange. Ich begleitete sie bis zur Haustüre. Meine Schwester mochte ich nicht sehen. Ich drückte der Mutter einen unsagbar schmerzlichen Kuß auf die Lippen; mir war, als wäre es ein Abschied für immer.

Die gute alte Frau ging schluchzend davon. Ihr gekrümmter Rücken bebte vor Leid.

Ich sank tiefer und tiefer. Der Geist meines Onkels Karl kam über mich. Ich suchte Vergessenheit im Trunk und hatte manchen wüsten Rausch. Der »Stramme Hund« und ähnliche Keller wurden meine Stammlokale: je gemeiner die Gesellschaft war, je schlammiger der Unrat floß, ein um so grausameres Vergnügen machte es mir, meinem hochmütigen Sinn auch das Wüsteste zuzumuten.

Mit meinen Hauswirten kam ich rasch in Unfrieden. Ich wechselte die Wohnung von Woche zu Woche. Manchmal hatte ich überhaupt keine Bude, sondern schlief unter Brücken oder in einem Asyl.

Um mein ehrloses Leben zu fristen, trug ich in den Wirtschaften und Kneipen Gedichte vor und sammelte, wobei stets ein paar Groschen zusammenkamen.

Allerdings lernte ich so auch das Elend kennen, das unter der prunkenden Oberfläche einer Weltstadt seine Abwässer breit und schwerfällig fortwälzt.

Neben dem Verbrechen schleicht das Unglück. Menschen aus fürstlichen, akademischen und plebejischen Kreisen macht es zu Genossen und Schlafgesellen.

Im Winter zählen die Arbeitslosen Berlins nach Hunderttausenden.

Wer eine Ahnung haben will von dem, was da alles[200] an Armut aufgespeichert liegt, muß die Asyle, Herbergen und Schandhäuser beobachten.

Ich habe gesehen, wie junge Mütter in leichten Sommerblusen zur Winterszeit die Wäsche ihres Säuglings versetzten, um ihm für einige Pfennige Nahrung kaufen zu können.

Ich habe gesehen, wie zitternde Greise vor Hunger zusammenbrachen.

Ich habe gesehen, wie junge Leute sich in einem Prozeß allmählichen Verhungerns auflösten.

Ich habe Unsägliches gesehen, was ganze Bände füllen könnte. Aber ich habe, bei all meiner Verlotterung, doch auch Gelegenheit gehabt – ich sage es mit einem Gefühl besonderer Befriedigung –, manches Gute zu tun an Kindern und Greisen, an Müttern und Dirnen.

Im übrigen kümmerte ich mich um nichts. Ich erhoffte mein Heil von einer allgemeinen Weltumwälzung, die ich mit verbitterter Seele herbeirief. Voll krankhafter Sucht verschlang ich die Zeitungsnachrichten und -neuigkeiten, im Wahne, endlich einmal den Ausbruch des allgemeinen Brandes zu erfahren.

Deutsche Zustände vor allem ließen mich kalt. Sogar der sozialistische Wahlsieg von 1898 mit rund 2200000 Stimmen taute meine Gleichgültigkeit nicht auf. Doch war ich mit zur Urne geschritten.

In meiner Langeweile wandte ich meine Aufmerksamkeit den Vorgängen in Frankreich zu. Die Dreyfusaffäre hielt die Gemüter wieder in Spannung. Auch bereitete man sich auf die große Weltausstellung von 1900 vor.

Meine müde, eingerostete Seele horchte plötzlich auf.

Berlin ekelte mich an.

Paris war mir noch unbekannt.

Wanderwind ließ mir die Haare um die Schläfen tanzen. Die Hoffnung sang ihr keckes Drossellied. Paris sollte mich von Berlin und von mir selbst erlösen. Nach Paris! Nach Paris![201]

Ich nahm Abschied von Mutter und Schwester. Meine kluge Sophie sah mich pfiffig an und meinte augenspielend: »Wenn ich nicht irre, ist auch Sannchen nach Paris verzogen. Erinnerst du dich der Dame noch?«

Wie aus einer tiefen Röhre tönte dieser Name in meiner Erinnerung auf.

»Sannchen! Gewiß erinnere ich mich noch! Wo war sie denn bisher geblieben?«

»In Dresden.«

»Richtig, damals war sie nach Dresden gereist. Und jetzt ist sie in Paris? Du hast bis jetzt gar nicht von ihr gesprochen. Wie kommst du just heute auf sie zu sprechen?«

Sophie lachte höhnisch. »Sie ist eine falsche Katze. Sie hat sich inzwischen auf den Meisenfang im großen verlegt. Die Dummen in Dresden und Deutschland werden allmählich gescheit geworden sein. Da will sie in Paris neue Geschäftskniffe lernen. Dich hatte sie ja auch hineingelegt.«

»Mich? Wieso?«

»Du bist doch in Stuttgart mit ihr gegangen.«

Ich leugnete.

Sie hob die Schultern. »Als ob ich es nicht gemerkt hätte! Als ob ihr nicht deswegen den letzten Abend zusammengeblieben wäret!«

Ich log mit entrüsteter Überzeugung und schloß mit den Worten: »Und sogar wenn dem so wäre, hätte es doch gar keinen Zweck, so alte Geschichten wieder aufzuwärmen. Zu allerletzt aber hätte ich das von dir erwartet.«

»Das laß meine Sorge sein. Ich weiß, was ich mir gestatten darf. Mich aber freut es, daß auch mein feiner Bruder nicht immer ein Tugendbold gewesen ist. Viel Glück an der Seine! Und wenn du dein Schätzchen wiederfindest, sie von mir zu grüßen brauchst du nicht.«

Das war der Segen, den mir meine launische Schwester mit auf die Reise gab.

Quelle:
Bergg, Franz: Ein Proletarierleben. Zweite Auflage, Frankfurt a. M. 1913, S. 179-202.
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