Anno 1717
§ 136

[332] Das war die andere [zweite] Not in diesem Jahre, welche zu einer Zeit über mich kam, da mein Herze selbst mit lauter Angst, und Furcht, und das Haupt mit schwermütigen Gedanken eingenommen, und mein Leib in einen kränklichen Zustand, und allerhand Verstopfungen von dickem und hitzigem Geblüte, und saurem Schleim geraten war. Der größte Sturm aber der Anfechtung kam 14 Tage vor Ostern über mich, welcher, wie gesagt, einer der größten in meinem Leben gewesen. Freitag vor Judica [5. Fastensonntag] war ein Buß-Tag, und Sonntags drauf sollte ich das Kapitel von dem Propheten Elia in der Vesper erklären, da er in der Höhle aus Furcht sich verkrochen [1. Kön. 19,9–19]. Gott bescherte mir bei dem Meditiren darauf allerhand schöne Porismata [Folgerungen] und Gedanken, so daß ich mich recht auf dieses Kapitel freuete, und Gott bat, daß er doch seinen Segen zu dessen Erklärung geben wollte, Sonnabends zuvor besuchte mich Herr Syndicus Job, und bezeugte sein großes Verlangen, das er hätte, die Erklärung dieses Kapitels anzuhören. Ich discurirte mit ihm zum voraus von Gottes wunderbarer Weise, wie er öfters furchtsame Menschen noch in größere Furcht und Bangigkeit geraten ließe, wenn er sie beherzt machen, und sie von ihrer Furcht befreien wollte. Elias lauft aus Furcht vor der Jesabel, und ist kein Herze mehr in ihm; und nun, da er denkt, Gott solle ihm einen Mut machen, so jagt er ihm in der Höhle anfangs noch mehr Furcht ein, und macht ihm durch das Feuer, durch den Sturm-Wind, und durch das Erdbeben so bange, daß er nicht weiß, wo er sich vor Angst lassen soll. Darnach erquickt er ihn, und stärkt ihn erst durch das stille Sausen, und macht ihn beherzt zu gehen, und zu predigen. Dieses sagte ich zu ihm, und wußte nicht, daß Gott es schier auf gleiche Weise mit mir machen würde. Bisher hatte ich auch in lauter Zittern, und Beben, und Höllen-Angst mein Leben zugebracht; und, da ich meinte, es sollte sich nun die vorige Herzhaftigkeit und Vertrauen auf Gott wiederfinden, so machte mich Gott erst recht furchtsam. Gegen Ostern, und im Frühjahre, wenn der Saft in die Bäume tritt, und auch bei den Menschen sich die Säfte vermehren, habe ich jederzeit angemerkt,[332] daß ich mehr Urin, als zu andern Zeiten lasse, wenn ich gleich bei dem ordentlichen Maße des Getränkes bleibe. Solches erfuhr ich auch dazumal, und in demselben Jahre, so daß wegen der vielen Lieder, und in specie der Litanei, welche vor der Predigt gesungen werden, es beinahe nötig gewesen wäre, daß ich erstlich auf den Abtritt gegangen. Ich habe mich aber dessen niemals zuvor bedienet, noch die natürliche Begierde, das Wasser abzuschlagen, mich in Bewegung, vielweniger in Verwirrung setzen lassen. Die Sacristei war voller Zuhörer, und ich habe mich lange Zeit geschämet, in Gegenwart derselben, ehe ich auf die Kanzel gieng, erst zu Stuhle, und aus der Sacristei hinaus zu gehen, allwo der Abtritt gemacht ist, bis mich nach der Zeit die Not, in welche ich dieses mal geraten, genötiget, solches zu tun, aber auch selten tun können, daß ich nicht von anwesenden Zuhörern, vor die es besser ist, daß sie es glauben, und wissen, als daß sie es mit Augen sehen, daß der Prediger ein Mensch, wie andere Menschen, ist, höhnisch verlacht worden, deren keiner wohl gewußt, was vor eine seltsame Begebenheit mich dazu veranlasset.

Nämlich die Sache verhielt sich also. Sonntags nach Tische meditirte ich noch ein wenig auf die Predigt, wie gewöhnlich, bis um 2 Uhr, da der Gottesdienst angehet. Ich weiß nicht mehr, ob ich zu Hause, ehe ich ausgieng, vergessen, noch einmal auf den Pot de Chambre zu gehen, oder ob bei dem langen Liede: Ist Gott für mich, so trete etc. sich schon so viel Wasser wiederum gesammlet; gewiß ist es, daß ich nicht durch unmäßiges Essen und Trinken daran Ursache gewesen, weil ich mein ordentliches Maß hatte, so oft ich predigte. Ich hatte kaum das Kapitel zu er klären angefangen, so konnte ich mich auf etwas, das ich sagen wollte, nicht bald besinnen; und indem ich mich stark anstrenge, und das Gedächtnis forcire, so merke ich, daß das Wasser unten fort will; und dies mit solchem starken Nisu und Treiben, daß ich den Augenblick in die größte Furcht gesetzet wurde. Und je mehr ich fürchtete, daß es geschehen möchte, das ich besorgte: je mehr wuchs die Not, und je mehr plagte mich der Urin. Ich kunte nicht länger auf der Kanzel stehen, sondern suchte mir durch Niedersetzen zu helfen; aber auch dieses half nicht, sondern es incommodirte mich dieser unvermutete Zufall so unmäßig, daß ich mit dem Kapitel über Hals über Kopf eilete, die wichtigsten Dinge nur flüchtig, und obenhin berührte, so daß ich in drei viertel Stunden schon damit fertig war, und also den ganzen Brei verschüttete, oder das ganze Kapitel mehr verderbte,[333] als erklärte. Jedermann wollte wissen, was mir zugestoßen wäre; ich sagte aber niemanden das geringste davon, zwang mich auch nach der Predigt zu halten, so viel ich kunte, und stund unsägliche Angst bei dem Segensprechen aus, in der gänzlichen Meinung, es würde mir vor dem Altar noch begegnen, was ich auf der Kanzel gefürchtet hatte. Denn wäre ich, so bald ich von der Kanzel kam, auf den Abtritt gangen, so würde jedermann haben erraten können, was mich oben auf der Kanzel, und unter der Predigt geplaget hätte.

Nun ein beherzter Prediger würde sich aus einem solchen seltsamen Zufalle nichts gemacht haben, aber bei mir armen furchtsamen Tiere, der ich dazumal ohnedem in lauter Nacht und Finsternis, ohne Trost und Empfindung der Gnade Gottes hingieng, war es ein Grund zu erschrecklichen Gemüts-Plagen, so darauf folgeten. Gegen Abend überfiel mich ungewöhnliche Angst wegen des Zukünftigen, und wie es sein würde, wenn ich wieder würde predigen müssen. Ich dachte, was diesmal noch nicht geschehen, könnte wohl ein andermal geschehen, und wie mir es mit dem Urin gegangen, so könnte es leicht auch einst gehen, wenn mich die Not ankäme, das ganze Opus naturæ zu verrichten; wie ich auch denn weder Durchfall, noch Schnupfen, noch Heischerkeit mich jemals vom Predigen bisher hatte abhalten lassen. Ich sann nach, und stellte mir lebendig vor, was das mir vor eine Schande sein würde, daferne mir auf der Kanzel dasjenige wiederführe, dem ich diesesmal noch mit Not und Kummer entgangen. Dies stürmte in meinem Gemüte, daß mir brühheiß im Kopf wurde. Wollte ich mich in der Verleugnung üben, und Ehre und Schande vor nichts halten, und alles Gotte anheim stellen, es möchte mir gehen, wie es wollte; so wollte das hitzige, verbrannte, und melancholische Geblüte nichts davon annehmen. Und in solcher furchtsamen Einbildung wurde ich noch mehr gestärket, da ich in folgenden Tagen, so oft ich unter die Leute gieng, vom neuen mit der Begierde, Urin zu lassen, geplaget wurde, und solchen kaum erhalten kunte, wenn gleich kaum etliche Tropfen in der Blase vorhanden waren. Ich gieng zu einer Leiche, und ich war mit derselben kaum bis zum Paulino kommen, so mußte ich Ausreiß geben, an statt, daß ich bis vor das Tor hätte mitgehen sollen. Ein andermal gieng ich in die Bet-Stunde in die Niclas-Kirche Nachmittage. Unter der Stunde hatte sich so viel bei mir gesammlet, daß ich nicht wußte, wie ich nach Hause kommen sollte, und mußte im Heimwege auf dem alten Neumarkt in Mangolts Hinter-Hause in den Hof gehen,[334] und das Wasser abschlagen, so wenig auch dessen vorhanden war. Ich steckte Gläser zu mir bei solchen Fällen, in welche ich mich im Fall der Not zu evacuiren suchte; ja ich fieng mir an einen Schwamm um den Unter-Leib zu binden, damit ich nur der Furcht vor der Prostitution [Bloßstellung] wehren, und steuren möchte.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 332-335.
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