15. In der Elefantenapotheke.

[129] Als wir dem Hamburger Hafen den Rücken kehrten, meinte ich natürlich, daß wir nun zu unserer guten Madame Piepenbrink zurückkehren würden. Auf eine Bemerkung meinerseits sagte die Mutter: »Laß nur! Heute widme ich mich nur dir, da arbeite ich mal nicht. Das hatte ich mir vorgenommen, wenn du kämest, sollte der[129] erste Tag nur dir gehören. Heute denken wir nicht an die Zukunft, ich mach' dir heute keinen Kummer, hoffentlich nur Freude.«

Ich sah die Mutter etwas befremdet, beunruhigt an. Kummer konnte sie mir doch nicht machen? Nach einigem Wandern kamen wir in eine Apotheke.

»Na, da ist sie!« sagte die Mutter, als wir eintraten. Die jungen Herren sahen flüchtig von ihrer Arbeit auf und lächelten. Dann trat ein älterer Herr auf uns zu, gab uns freundlich die Hand und nahm uns mit in ein Zimmer, dessen breite Flügeltüren weit offen standen und den Blick in ein anderes Zimmer gestatteten, wo eine Schar munterer Kinder fröhlich spielte. Die schlanke, blasse Dame, die auf dem roten Plüschsofa saß, schenkte uns Kaffee ein und rief die Kinder herein. Sie gab jedem Kind einen Kuchen und sagte: »Wenn die kleine Charitas fertig ist, nehmt sie mit da hinein!«

Ein Mädchen in meinem Alter band mir mein Kopftuch ab, hakte mir den Mantel auf und führte mich freundlich ins Nebenzimmer. Fünf Kinder! – und so viele schöne Spielsachen!

Sie sagten mir nach und nach ihre Namen und redeten lebhaft und freundlich auf mich ein. Wie flott waren sie gekleidet! Die hübschen bunten Kleidchen waren kurz, sie ließen Hals und Arme frei, seine Spitzen lenkten meinen Blick noch ganz besonders auf die schlanken, weißen Hälschen. Alle waren sie so beweglich, sie plauderten so lebhaft, ihre Bewegungen waren so anmutig, die Händchen so sein und weiß! Wie plump und unbeholfen fühlte ich mich neben ihnen! Mein schönes, schwarzes Konfirmationskleid mit dem breiten Aufsäumer und der langen Schneppe kamen mir plötzlich kaum so prächtig vor, wie bis dahin, und die roten geschwollenen Hände, die so viele Frostbeulen zeigten, – wo ließ ich sie nur?[130]

Bald aber vergaß ich das Vergleichen. Die Mädchen führten mich an allerliebste Glasschränkchen, sie öffneten Schiebladen, und je mehr ich staunte und bewunderte, desto mehr zeigten sie mir. Jedes der Kinder wetteiferte, mir etwas zu schenken. »Sieh mal!« rief Meta eifrig, »magst du diese Papeterie mit den niedlichen rosa Bogen leiden? Ach, du mußt sie nehmen, ich schenk' sie dir so gern! Bitte, bitte!« Und Lulu rief mich und schenkte mir Oblaten, und als ich einen Apfel aus Glas bewunderte, den man öffnen konnte, da lachten sie belustigt und riefen: »Ach, wenn du den magst, dann behalte ihn doch ja, es ist nur eine leere Pomadendose: und magst du diese bunten Kotillonorden leiden? Hier hast du, – und hier, – das mußt du auch noch nehmen, wir haben es auf der letzten Kindergesellschaft gewonnen. Magst du gern in Kindergesellschaft gehen? Ist es in Sachsen wohl ebenso wie hier? Erzähl uns doch davon! Tanzt ihr da auch? Bekommt ihr auch Kotillonorden?«

Ich dachte ein wenig nach. Die Ausdrucksweise kam mir hier so fremdartig vor. Ob ich gern Kindergesellschaften mochte? »Kotillonorden?« sagte ich mit ungefüger Zunge, »kenne ich nicht, – nicht einmal dem Namen nach. Aber Kindergesellschaft mag ich auch sehr gern.« In meiner Erinnerung stieg das Bild eines freundlichen Dörfchens empor. Ja, aus meinem Kindheitsparadies mußte ich erzählen. Von den freundlichen, liebevollen Kantorsleuten, von Hedel und Liesel, und von dem Kinderfest, das wir in Gemeinschaft sämtlicher Dorfkinder auf der großen Wiese gefeiert haben. Ich sah im Geiste, wie der breite Sonnenschein auf der Wiese lag und wie wir Kinder in unserem besten Staat uns fröhlich tummelten. – Davon erzählte ich ausführlich, und ich fühlte, wie mir beim Erzählen das Herz klopfte, wie es mir feucht in die Augen stieg – weil mir das[131] alles in unerreichbare Ferne gerückt war. Welch weiter Raum lag zwischen Leuben und Hamburg!

Und welch eine unendlich lange Zeit! – Das war doch damals gewesen, als ich noch jung war, – als ich noch so fröhlich lachen konnte. – Nun bin ich ja schon so lange aus der Schule, bin erwachsen, wie man mir täglich in der Voigtsberger Krämerei sagte. – Ich habe seitdem so viel geweint, so viel mit Gott gerungen, daß er mich nicht verlassen oder vergessen möge. So viel Sehnsucht hat mein Herz gefüllt, – so angefüllt, daß es oft zu zerspringen drohte. Von all dem erzähl' ich diesen fröhlichen Kindern nicht, – es ist aber da, mir innerlich ganz gegenwärtig, und unwillkürlich fühle ich eine innere Angst und Unruhe. Verstohlen muß ich mich umsehen, – sagt denn niemand: »Bis doch kee so faules Mädel! Mach doch forsch weiter! Bist nu groß, – bist konfirmiert, mußt egal arbeiten!« – »Forsch« war ich gar nicht. Den großen Strohwisch, womit ich scheuern sollte, konnten die Hände nicht umspannen, die Wäschestücke, die ich waschen sollte, konnte ich nicht bewältigen. Daß die dummen Hände auch immer gleich bluten mußten, wenn sie in scharfes Sodawasser kamen! Das kam davon, daß die Hände so ganz besonders geschont waren, zu Hause. Die gefiederten Blättchen, die seinen Moose, die wurden immer mir zur Behandlung übergeben, weil ich die kleinsten, feinsten Finger hatte. »Schone ja deine Hände,« hatte der Vater gesagt, »damit du das seine Gefühl behältst!«

Aber alles ist mir fern gerückt – und doch nicht alles, – denn da drinnen höre ich die lebhafte, muntere Stimme der Mutter. Ich nicke ihr mit glücklichem Lächeln zu, sie sieht mich weich und liebevoll an. Ja, die Mutter bleibt mir, nur nie, nie wieder von ihr fort! – Wie freundlich ist heute alles, trotz des verdrießlichen Nebels[132] draußen. So viel Schönes habe ich bekommen! Der ganze Sitz des Stuhles ist mit den blitzenden, bunten Sächelchen bedeckt. Ob ich das wirklich alles mitnehmen darf? Ob es mir nicht geht, wie den Bergleuten in der Grube? Ob nicht ein feindseliges Koboldchen mir den Besitz streitig macht? Ich frage die Kinder, ob die Mama auch erlaubt, daß sie so viel verschenken dürfen? Die lachen belustigt, und sagen: »Da kennst du unsere Mama aber schlecht! Die freut sich doch, wenn wir gern abgeben. Gibst du denn nicht auch gern ab?«

Ich sehe sie sinnend an, – ehe ich antworten kann, fragen sie schon weiter: »Du kommst doch bald wieder zum Spielen, und dann erzählst du uns noch mehr aus Sachsen. – Es muß ja herrlich da sein!«

»Ob ich wieder kommen kann? Das glaube ich nicht, ich bin ja nun erwachsen und muß arbeiten.«

»Du wärest groß?!« rufen sie lachend, »ach das bilde dir doch ja nicht ein! Du bist viel kleiner wie Meta und Lulu, und die denken doch noch gar nicht daran, erwachsen zu sein! Komm, miß dich mal mit Meta! Siehst du wohl? – Du bist viel, viel kleiner. Aber deine Mama muß dir ein anderes Kleid anziehen. Dies sieht aus, als hättest du's von deiner Großmutter geerbt. Ist das in Sachsen so Mode? Aber das rote Tuch, das du um den Kopf trägst, das ist gediegen! So eines binde ich meiner Puppe um, es sieht süß aus!«

Was?! – mein schwarzes Konfirmationskleid fanden sie nicht hübsch? Das war doch mein wertvollstes Besitztum! Gerade, weil es von der guten Großmutter Nelle aus der Niederstadt stammte, hatte es ja doppelten Wert! Als die Mutter es der Schneiderin zum Andern gegeben hatte, da hatte sie es so wehmütig angesehen, ihre Finger hatten so zärtlich den Stoff gestreichelt, und[133] sie hatte mir feuchten Auges erzählt, wie ihre gute Mutter vor sechzehn Jahren selbst nach Roßwein zur Bierasten gegangen war, um diesen guten Tibet zu kaufen. Sie hatte der Mutter den guten Stoff zum Hochzeitskleide geschenkt, und sie hatte nicht gespart, denn, – so hatte sie gemeint – die Mutter könne es bis an ihr Ende als Abendmahlskleid tragen. »Nun,« hatte die Mutter gesagt, als sie es mir am Konfirmationstage zuhakte, »es ist recht auf Zuwachs gemacht, hübsch lang, und ein handbreiter Aussäumer ist auch drin.«

Nun kamen die beiden Mütter herein, die meine mahnte zum Aufbruch, als ich aber meine geschenkten Sachen einheimsen wollte, da sagte die Mutter, ich solle sie vorläufig nur noch hierlassen, da wir noch weiter wollten. – Also hatte doch das tückische Koboldchen seine Hand im Spiel? Meta hing mir das Mäntelchen über, band mir das rote Tuch um den Kopf und nahm dabei mein Gesicht zwischen ihre Hände, gab mir einen zärtlichen Kuß und sagte: »Adjüs, du süßes Rotkäppchen! Komm doch recht bald wieder und erzähl uns aus Sachsen! Du,« – flüsterte sie noch, »wenn ich konfirmiert werde, lade ich dich ein, dann mußt du den ganzen Tag bei mir sein!«

Quelle:
Bischoff, Charitas: Augenblicksbilder aus einem Jugendleben. Leipzig 1905, S. 129-134.
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