Einige Zeit nach Auflösung der Weißschen Pension zog ich mit Fräulein Charlotte von Langenn in Berlin in eine gemeinsame Wohnung; sie war die Schwester des Birkholzer Herren und aller Welt unter dem Namen »Tante Lottchen« bekannt.
Mittlerweile war ich selbst in das Register der alten Tanten gerückt, und da diese, wenn sie nur halbwegs vernünftig sind, zu der gesuchten Ware gehören, so ließ man mich nicht gerade viel in meiner stillen Klause.
Auch Fräulein von Langenn verreiste häufig, und so trennten wir uns meist in den Sommermonaten, um uns zum Winter in der Kommandantenstraße, wo unsere Wohnung lag, wieder zusammen zu finden.
Manche Reise unternahmen wir auch gemeinsam; so kam ich durch »Tante Lottchen« in Berührung mit einem Manne, in dessen Hause ich viel Freude genossen habe, und der mir zuerst ein schönes Fleckchen Erde mit reichen Kunst- und Naturschätzen zeigte.
Es war dies der frühere Erzieher des Königs Albert von Sachsen, Geheimrat Albert von Langenn in Dresden, ein Mann, vor dessen Gelehrsamkeit ich schauderte, bevor ich seine Bekanntschaft gemacht hatte: Doktor der Philosophie, der[127] Jurisprudenz und, o Schrecken, auch noch der Theologie, wirklicher Geheimerat, Chefpräsident des Appellationsgerichts in Dresden – das waren Titel und Würden, die mich mehr fürchten denn hoffen ließen, als wir zu einem Pfingstfest »lang, lang ist's her«, es kann 1852 gewesen sein, seiner Einladung folgten.
Eines Mittags kamen wir, Tante Lottchen und ich, in Dresden an. Herr von Langenn war Witwer und wohnte in einem Flügel des Hotel Bellevue, an der Elbe in unmittelbarer Nähe des königlichen Schlosses gelegen. Eine prächtige Aussicht bot sich von dort; weithin bis Meißen schweifte der Blick die Elbe hinab; auf der anderen Seite sah man in anmutigster Lage Schloß Albrechtsberg, dem Prinzen Albrecht von Preußen gehörig.
Bei unserer Ankunft hatte ich kaum ein Auge für dies herrliche Bild, ich dachte nur an den Dr. theol. usw.
Wie rasch verflogen aber meine Besorgnisse, als der durchaus nicht zum Fürchten aussehende, schlichte Mann uns mit gewinnender Herzlichkeit begrüßte und in unverfälschter Gemütlichkeit sächsisch sprach. Nachdem wir den Reisestaub von unsern Kleidern geschüttelt hatten, setzten wir uns zu Tisch, und da splitterte schon bei der Suppe ein Stückchen des großen Steines ab, der mir vorher auf dem Herzen lag. Beim Braten fiel er ganz herunter, und beim Dessert waren Geheimrat Langenn und ich die besten Freunde und wurden es täglich mehr. Ich hatte damals noch wenig von der Welt gesehen; da war es ihm eine Freude, mir die Schätze Dresdens zu zeigen. Er hatte einen der ihm befreundeten Beamten der Gallerie oder sonstigen Museen gebeten, uns des Vormittags, wenn er seinen Geschäften nachging, zu führen; so gewannen wir[128] zu allen Stunden Eintritt. Sachen, die andere nur unter Glas sahen, gab man uns in die Hand, und wir hörten anregende Erklärungen darüber. Besonders interessant war dies in der Bibliothek; da sahen wir Handschriften mit wunderbar gemalten Initialen, zu deren Herstellung einsame Mönche vielleicht eine halbe Lebenszeit gebraucht hatten.
Zu Tisch fanden wir uns zu heiterer und belehrender Unterhaltung zusammen. Dann stand der Wagen vor der Tür, und wir machten Ausflüge in die Umgebung Dresdens. Wie kindlich liebenswürdig war der große Gelehrte im nahen Umgang. Wenn wir an einem Punkte mit besonders schöner Aussicht anlangten, so gab er mir den Arm, und ich mußte versprechen, die Augen fest zu schließen, bis wir an der richtigen Stelle waren. Wie freute er sich dann, wenn ich mit hellem Entzücken den überraschend schönen Ausblick genoß. Das Panorama des Elbtals, vom weißen Hirsch aus gesehen, wird mir immer unvergeßlich sein. Schön waren auch die Fahrten mit dem Dampfschiff nach Schandau und nach Meißen; es war, als sähe man alles und läse zugleich ein Buch mit der ausführlichsten Beschreibung jedes Punktes, denn so anschaulich erzählte unser freundlicher Führer.
In der katholischen Kirche, die wir der Musik wegen besuchten, kamen mir viel alte Erinnerungen aus meinen Kindertagen. Jetzt war von dem Pomp des königlichen Zuges nichts mehr zu sehen; wir konnten nur Exzellenz Langenn in Hoftoilette bewundern, als er während unserer Anwesenheit einmal zur königlichen Tafel befohlen wurde. Die Galauniform, weiße Beinkleider und reich gestickter Rock, waren dem einfachen Mann wenig gemütlich. Um diese vor dem lästigen Kohlenstaube[129] zu schützen, bestieg er eine Portechaise, ein in Dresden noch übliches Beförderungsmittel aus Urväterzeit. Tante Lottchen und ich begleiteten den Geheimrat in den Hausflur, um ihn einsteigen zu sehen und waren allerdings beide mehr dadurch belustigt, als er.
Durch mein Zusammenleben mit der Schwester des Birkholzer Herren waren die Beziehungen zu dem mir so lieben Hause noch mehr gefestigt worden. Am nächsten aber von allen stand mir die älteste Tochter, Clara; sie war jetzt, wie schon früher erwähnt, mit Herrn von Wedemeyer-Schönrade verheiratet. Clara war von jeher mein Liebling unter den Birkholzer Kindern gewesen. Mein Bruder behauptete sogar im Scherz, daß, wenn Clärchen bitten wollte: »Hole mir mal den Mond herunter«, ich antworten würde: »Ich will's versuchen.«
Meine ehemalige Schülerin hatte sich nicht nur zu einer schönen Frau entfaltet, sondern ihr ganzes Wesen war von einer besonderen anmutigen Lieblichkeit, die ihr leicht die Herzen gewann. Mir war sie eine liebe, vertraute Freundin geworden.
Dem für mich so glücklichen und gesegneten Leben in ihrem Hause möchte ich daher noch ein besonderes Denkmal dankbarer Erinnerung setzen. Zwischen ihr und mir ist es bis zu ihrem Tode das alte Lied von Lieb um Liebe und Treu um Treue geblieben. Am Abend vor ihrer Hochzeit sagte sie mir: »Das Glück, das ich im Leben finde, das danke ich zum größten Teil dir, ohne dich wäre ich nicht die geworden, die mein Bräutigam hätte lieben können.« Und noch im letzten Jahre ihres Lebens äußerte sie einmal: »Bechen ist meine beste Freundin.« Wie[130] halfen solche Worte über manches Schwere im Leben fort. Selten ist es, daß der Mann und die Freundin der Frau sich nahe stehen, aber bei uns war auch dies der Fall. Ja im Scherz äußerte Herr von Wedemeyer öfters: »Ich habe zwei Frauen, eine alte und eine junge.« Unser harmonisches Zusammenleben erregte die Bewunderung der Fürstin Bismarck, die staunend meinte, so etwas sei ihr noch nicht vorgekommen. Es ward mir Herzensbedürfnis, dieser mir durch viele Jahre immer lieber werdenden Freundin in den oft schweren Aufgaben, die ihr das Leben stellte, nach Kräften beizustehen. So machte es sich ganz von selbst, daß Schönrade meine zweite Heimat wurde, ohne daß ich doch meine Selbständigkeit ganz aufgegeben hätte.
Clärchen und ihr Mann, obgleich beide jünger als ich, sind längst aus dem Leben geschieden. Der Schmerz, sie entbehren zu müssen, ist für mich dadurch gemildert, daß ihre Kinder, die sie gelehrt hatten, mich zu lieben, an diesem Bande festgehalten haben und diese Gesinnung wiederum auf die eigenen Kinder übertrugen, so daß ich noch heute der Mittelpunkt dieses weit ausgedehnten Familienkreises bin, und mir dadurch in meinem Alter ein Glück zuteil geworden ist, wie es wenigen Menschen beschieden ist.
Ich brachte nun also ganze Wochen und Monate in Schönrade bei Clärchen zu. Die erwartete Geburt eines Kindes, jedes Freudenfest, jeder Krankheitsfall, rief mich ins Haus und auf den durch ihre Kränklichkeit häufig notwendig werdenden Badereisen mußte ich die Hausfrau begleiten, oder, wenn beide Gatten abwesend waren, Haus und Kinder hüten. Der große ländliche Haushalt, die stets sich mehrende Kinderschar,[131] machten meine Hilfe immer erwünscht, besonders bei der zarten Gesundheit Clärchens, die in den letzten Jahren ihres Lebens viel ans Zimmer gefesselt war.
Acht Kinder erblüten, von denen ein Knabe in zartem Alter starb. Da gab es viel zu hüten und zu pflegen, Hoffen und Sorgen zu teilen. Wie manche große Wäsche und Schlächterei half ich bewältigen, wie manche Jagd und andere Geselligkeit mit ausrichten. Große Gärten und Obstalleen machten viel Arbeit. Da ward bisweilen schon von 5 Uhr morgens an das Obst zum Dörren geschnitten. Im Winter versammelten sich die zwölf Milchmädchen in der Gesindestube um 7 Uhr abends zum Spinnen. Ich hatte mir die Aufgabe gestellt, um müßiges Geschwätz zu verhüten, ihnen aus guten Büchern vorzulesen. Auch die Sorge für die Dorfbewohner, besonders in Krankheitszeiten, nahm mich oft in Anspruch. So verwuchs ich mehr und mehr mit dem Hause Wedemeyer, seine Freuden wurden die meinen, sein Leid bedrückte auch mich.
Manche kleine und größere häusliche Nöte, manche humoristische Episode, manches Original auch aus dem Kreise der Leute, taucht in meiner Erinnerung auf, wenn ich der Schönrader Tage gedenke.
Die damals meist übliche Form ländlicher Geselligkeit waren größere Jagden mit nachfolgendem Diner. Bei solcher Gelegenheit erschienen zu Anfang der jungen Schönrader Ehe, wo die Hausfrau weder über große Hilfsquellen in ihrer Küche, noch der Hausherr über große Ergiebigkeit seines Jagdreviers gebot, allerlei Hilfen aus dem elterlichen Hause in Birkholz. Zunächst in Gestalt der trefflichen Caroline, der Birkholzer Köchin, sie gebot über ein eigenes Küchenlexikon, denn eine[132] Farce hieß bei ihr ein »Fraß« und ohne Fraß wurde kein Puter zu Tisch gebracht, während der Kalbsbraten mit einer »Brechhammelsauce«, statt mit Béchamelsauce, serviert wurde. Am Tage nach einer durch ihre Kunst verherrlichten Jagd reisten Caroline und die Kammerjungfer der Großmutter nebst deren Koffer, in dem das Festgewand sich befand, nach Birkholz zurück. Nur die Familie blieb noch beisammen, aber der allgemeine Frohsinn verwandelte sich in bange Bedrücktheit, Scherz und Lachen erstarben auf jeder Lippe, denn »Großchen« saß, als man sich zum Mittagessen versammelte, mit der Miene eines erzürnten und grollenden Jupiter in ihrem Sessel. Niemand wagte die Frage nach dem »Warum«. Bis endlich der Hausherr das erlösende Wort fand, und es nun galt das Lachen zu ersticken, als man erfuhr, daß die kleine Ursache des großen Zornes durch die Kammerjungfer heraufbeschworen war, die aus Versehen das Schnürleib der Gebieterin mit dem Koffer entführt hatte.
Schlimmere Nöte machten uns bei einer anderen Jagd zwei wirtschaftliche Vorfälle. Zunächst das rätselhafte Verschwinden des Vorratsstubenschlüssels, den ich zuletzt gehabt hatte, in einem Augenblick, wo Vorbereitungen drängten, und die Verlegenheit noch erhöht wurde, weil Jette, die Küchenmagd aus dem Nebenhause, mit allerlei Wünschen erschien. Der Vater des Herrn von Wedemeyer wohnte nämlich in einem Gartenhause und hatte das Übereinkommen getroffen, daß ihm aus dem Haupthaus Materialwaren abgelassen wurden. Die übelwollende Jette fortschicken, weil der Schlüssel fehlte, hätte allerlei Unannehmlichkeiten nach sich gezogen.[133]
»Warum bist du so traurig?« fragte mich in dieser Not der fünfjährige Werner, der uns umspielt hatte. »Ach, Dickerchen, der Hauptschlüssel ist ja fort.« »Möchtest du den gern haben? Den habe ich in die Kaffeetrommel gesteckt, das klapperte so hübsch.« Und der Schlüssel war wieder da.
Nicht wieder aber kam leider ein anderes Hauptstück für unsere Jagd, nämlich der Braten. Ein ganzes Reh war von Birkholz zu diesem Zweck gekommen und im Eiskeller verwahrt. Als aber am Morgen des Jagdtages der Schäfer das Tier zerlegen wollte, fand er, o Entsetzen, daß ihm die durch eine offengelassene Tür zuvorgekommenen Windhunde diese Arbeit sehr gründlich abgenommen hatten. Es blieben buchstäblich nur Haut und Knochen für unsere Festtafel. Einen Augenblick stand die junge Hausfrau ganz verstört, aber sich rasch fassend, bat sie ihren Mann gleich nach dem ersten Treiben einige Hafen herein zu schicken, die denn auch als Ersatz verspeist und durch die Bewunderung über die Geistesgegenwart der Frau gewürzt wurden.
In mancherlei schwierige Lagen brachten mich auch die Zeiten meiner Alleinherrschaft in Schönrade. Wenn es sich z.B. plötzlich herausstellte, daß der unlängst engagierte, gut empfohlene Hauslehrer sich außer den Stunden, statt sich um seine Zöglinge zu kümmern, damit beschäftigte, mit den Mägden im Milchkeller vertraulich unpassende Schäkereien zu treiben und sogar des Nachts im Garten Zusammenkünfte mit ihnen hatte. Ich versuchte ihn durch höfliche, ernste Vorstellungen und Bitten zur Vernunft zu bringen, was aber so laute, ausfallende Grobheit seinerseits veranlaßte, daß ich mich genötigt sah, ihn durch den in der Nähe wohnenden Bruder der Hausfrau[134] entfernen zu lassen. Den Unterricht der Kinder übernahm in den Hauptfächern der Geistliche des Ortes, und ich ergänzte das übrige so gut es gehen wollte. Dabei erteilte ich eine Ohrfeige, die nach Jahren gute Früchte trug. Der Sohn einer Schwester des Hausherrn wurde mit den Kindern in Schönrade erzogen. Ein lieber, guter Junge, der aber beim Lernen sehr zerfahren war und einst Karlsruhe als Hauptstadt nach England verlegte, was ihm jene Ohrfeige eintrug. Diese bei mir ganz ungewöhnliche Strafe machte ihm tiefen Eindruck. Als er vor Jahr und Tag aus China zurückkehrte, um hier Regimentskommandeur zu werden, brachte er mir eine sehr schöne Stickerei mit und bemerkte dabei, es sei der Dank für die Ohrfeige, die ihm fürs ganze Leben gut getan habe.
In einige Schwierigkeit versetzte mich in späteren Jahren das Ansinnen des Oberinspektors, der mich bat, seine patriotische Absicht zu unterstützen und am 22. März 1871 eine Feier des ersten kaiserlichen Geburtstages zu veranstalten.
Ich sollte den Leuten etwas auf die Bedeutung des Tages Bezügliches vorlesen, und er wollte für den Vortrag patriotischer Lieder sorgen. Ich sagte zu, aber guter Rat ward teuer, als ich trotz eifrigen Suchens in keinem der vorhandenen Bücher etwas Passendes finden konnte. Endlich entdeckte ich in Brückners Predigten eine in Leipzig auf den Tod des Königs von Sachsen gehaltene Rede. Die las ich durch und wahrhaftig, es ging, ich konnte sie beim Lesen in ein Loblied auf Kaiser Wilhelm umwandeln. Und die verwandelte Trauerrede tat so gute Wirkung, daß mein alter Verehrer, der Meier Sienknecht zuletzt noch ein Hoch auf mich ausbrachte, weil ich so Schönes vorgelesen habe.[135]
Dieser vortreffliche, etwas heißblütige Mann, klagte mir einst seine Nöte im Verkehr mit dem Inspektor und schloß mit dem bedenklichen Vorschlag: »Was meinen gnädiges Fräulein, wenn ich ihn mal richtig durchprügelte.« Es gelang mir aber Frieden zu stiften.
In einem anderen Fall konnte ich die Tätlichkeiten nicht mehr verhindern. »Guste Zabel mit dem langen Schnabel« hieß ein Mädchen, das sich trotz ihrer ungewöhnlich ausgebildeten Nase schließlich verheiratet hatte und von dem mir das Gerücht zukam, daß sie ihre Schwiegermutter geprügelt habe. Als ich ihr das Unrecht vorhielt, erwiderte sie: »Ja, sie schimpfte mir und meine Kinder, da übermannte mir die Wehmut und ich haute ihr.«
Nicht minder originell war die Antwort, die mir der Schönrader Reitknecht Grundei einst erteilte. Er fuhr uns in einem Pürschwagen auf fast ungebahnten Wegen im Walde spazieren und jagte in einem Tempo über Stock und Stein, das mich schließlich veranlaßte, um etwas mehr Schonung meiner Knochen zu bitten: »Gnädiges Fräulein Anno 70 vor die Kanonen gings noch ville döller« – sprachs und hieb, in Rückerinnerungen schwelgend, auf die Pferde. Beinahe gerädert kamen wir heim, und ich war froh, nicht in allen Lebenslagen wie die Kanonen von Anno 70 behandelt zu werden.
Ein anderer Schönrader Kutscher, der sich vergeblich bemüht hatte, mit der Französin, die er von der Bahn abholte, eine Unterhaltung zu führen, meinte verächtlich: »Na, wat sich de Herrschaft da geholt hat! Wenn die nich ihr bisken französisch hätt', müßt se doch grad blassen, as 'n Hund.«
Auch die Antwort jenes Kandidaten war etwas verblüffend,[136] der auf die teilnehmende Frage der Hausfrau, wie er seine großen Ferien verbracht habe, salbungsvoll erwiderte: »Gnädige Frau, ich habe mir 32 Leichenreden auf Vorrat gearbeitet.«
So wechselten in unserem täglichen Leben Ernst und Scherz, Freude und Sorge, Arbeit und festliches Treiben im alten, lieben Schönrade, und wenn ich sorgend und strafend unter den Leuten walten durfte, hat es mir doch auch nicht an Liebe gefehlt. Versicherte mir die alte Gartenfrau Tornow doch einst, als sie von meinem Wunsch, einmal in Schönrade begraben zu werden, hörte: »Na, dann sollen gnädiges Fräulein mal sehen, was ich Ihnen für einen schönen Kranz machen werde!«
Vorhin war schon gesagt daß die zarte Gesundheit der Hausfrau häufige Badereisen nötig machte, die wir meist zusammen unternahmen.
Zwei von diesen sind mir in besonders lebhafter Erinnerung geblieben und mögen hier Erwähnung finden.
Es war im Juni des Jahres 1856, als wir beide die Kur in Soden brauchten.
Gleich am ersten Morgen sahen wir am Brunnen zwei Knaben, von denen der eine Molken in seinen Becher goß. Der andere, ein besonders frisches Gesicht, sprach sein Entsetzen über die Mischung aus, indem er sagte: »Tout le monde prend l'eau pure, je ne comprends, paspourquoi tu ajoutes cette cochonnerie là«.. Man sagte uns, daß dieser der Herzog von Chartres, jener ein Sohn der Oberhofmeisterin der Herzogin Helene von Orleans sei. Bald erschien auch die Herzogin in einem leichten Einspänner, den sie selbst lenkte.[137]
Das Schicksal dieser Prinzeß, welche, nachdem sie ihre mecklenburgische Heimat verlassen, nur ein kurzes Glück auf französischem Boden gefunden hatte, erregte allgemeine Teilnahme.
Ein jeder Kurgast fühlte sich nun berufen, der Herzogin eine Karte abzugeben, und selbst aus Frankfurt strömten die Leute in das Haus.
Da in diese Zeit der Geburtstag des ältesten Sohnes der Herzogin, des Grafen von Paris, fiel, und damit seine Majorennitätserklärung verbunden war, so kamen auch aus Frankreich viele Anhänger der Orleans nach Soden.
Wir beide, Clärchen und ich, hatten es für geboten gehalten, uns dem allgemeinen Strome, welcher der armen Frau nur lästig sein mußte, nicht anzuschließen. Durch Beziehungen nach Mecklenburg wurden wir nun bekannt und bald recht befreundet mit drei Fräulein von Bassewitz.
Die älteste hatte in der Heimat der Herzogin nahe gestanden und wurde auch hier viel in ihr Haus gezogen. Da die Herzogin uns oft am Brunnen und auf Spaziergängen mit Bassewitzens sah, wir beide auch ganz reputierliche Erscheinungen waren, – meine Gefährtin wurde in Soden überall die schöne Frau von Wedemeyer genannt, – so war es der Herzogin aufgefallen, daß gerade wir nicht zu ihr gekommen waren.
Sie ließ uns durch Fräulein v. Bassewitz dazu auffordern; so gingen wir denn eines Tages hin und wurden von der Oberhofmeisterin empfangen, dann am nächsten Morgen der Herzogin am Brunnen vorgestellt und erhielten wenige Tage später eine Einladung zum Diner zu der damals noch ungewöhnlichen Stunde, 7 Uhr. Es war eine kleine Zahl von Tischgenossen,[138] darunter mehrere Franzosen. Mir gegenüber saß der Graf von Paris, ein düster blickender junger Mann, mit starkem Gesicht, dicken Lippen und einem für sein Alter ungewöhnlich schweren, ich möchte sagen, ungeschickten Körperbau. Alles in allem wenig ansprechend. Er nahm nurgeringen Anteil an der allgemeinen Unterhaltung und antwortete kurz auf die Fragen seiner Mutter, die ihn mit »Paris« anredete, ihn so auch anderen gegenüber nennend. Sein jüngerer Bruder, der Herzog von Chartres, machte einen sehr viel lebhafteren und freundlicheren Eindruck.
Die Herzogin Helene war eine seine Erscheinung, die die deutsche Herkunft deutlich erkennen ließ. Die Nase trat etwas zu sehr hervor und der Ausdruck des Gesichtes wurde dadurch etwas scharf. Trotz großer Freundlichkeit gegen ihre Umgebung sprach doch aus ihrem Wesen ein Zug von Bitterkeit, nicht unbegründet durch die schweren Schicksale, die sie erfahren hatte.
An die Tafel schloß sich gleich der Tee an, zu welchem Fräulein von Bassewitz erschien. Jeder hatte eine Handarbeit, auch die Herzogin. Wir nicht, und sie forderte uns auf, doch künftig eine solche mitzubringen, da es die Gemütlichkeit des Verkehrs erhöhe.
Vielleicht gedachte Helene von Orleans dabei des runden Tisches in den Tuilerien, an dem die Königin Amélie abends Töchter und Schwiegertöchter versammelte. Ost hat die Herzogin wohl dort als glückliche Frau, oft auch als trauernde Witwe gesessen, bis der Sturm der Februartage des Jahres 1848 anhub, der dem König die Krone, – allen die Heimat nahm.
Aber wie die Herzogin nie die Hoffnung aufgegeben hat, ihren Sohn im Glanz der königlichen Würde zu sehen, so saßen[139] auch an der Tafel jenes Abends viele, die in dem Grafen von Paris ihren zukünftigen Herrscher sahen.
Unser demnächstiges Wiederkommen mit der Handarbeit, das die Herzogin so gütig vorausgesehen hatte, blieb aber aus, da sie gleich darauf erkrankte und dann abreiste, uns zuvor noch freundliche Grüße durch Fräulein von Bassewitz sendend.
Zu diesen Sodener Erinnerungen gehört noch ein Besuch bei meinem Vetter, Otto Bismarck, der zu jener Zeit Bundestagsgesandter in Frankfurt war. Er empfing mich freundlich, und nachdem wir erst Kindererinnerungen geweckt, auch berührt hatten, wie unsere Lebenswege, besonders der meine, so ganz anders geworden, wie wir damals, wenn auch unbewußt, geglaubt hatten, rief er seine Frau, die ich noch nicht kannte.
Obgleich ich bei ihrem Erscheinen das Urteil des Schulzen in Schönhausen: »von's schöne Geschlecht ist unsere junge Gnädige aber nicht«, begreiflich fand, gewann sie doch, durch eigentümliche Freundlichkeit bald mein Herz.
Als wir einige Tage später im Sodener Kurgarten saßen, sahen wir in einiger Entfernung drei Personen auf uns zukommen. Die Erscheinungen waren etwas auffallend Ein großer Herr in nicht besonders elegantem grauen Mantel und großem Schlapphut; auf der einen Seite neben ihm eine Dame, groß, mit starken Gliedern, schwarzen Haaren und wenig harmonischer Toilette. Auf der anderen Seite eine Blondine, zart und sein, und bis auf die letzte Stecknadel elegant gekleidet. Wir erkannten bald Bismarck mit Frau und Schwester. Sie hatten uns einen Gegenbesuch machen wollen, und da sie erfuhren, daß wir im Kurgarten seien, waren sie uns dahin gefolgt. Wir reisten bald darauf ab, und ich habe Bismarck erst später in Berlin wieder gesehen.[140]
Eine andere Reise wurde im Jahre 1867 von Schönrade aus nach Kreuznach unternommen. Alles, was in der Familie solbäderbedürstig war, schloß sich in Berlin an uns an, so daß die Karawane, inklusive Dienerschaft, zu 16 Personen anwuchs. Daß dies gerade zu unserer besonderen Belustigung gedient hätte, kann ich nicht behaupten. Es waren so ziemlich alle Altersstufen von 4–18 Jahren vertreten. Einige beteiligte Mecklenburger trugen aus Freundschaft für Hannover politische Geknicktheit zur Schau und nach dieser Seite hin erlebten wir Wunderbares. Clärchen fand in der Badeliste die Namen von Bekannten, mit denen sie gelegentlich eines früheren Besuches in Kreuznach freundschaftlich verkehrt hatte und hoffte auf Erinnerung des angenehmen Umganges. Aber die Hannoveraner blieben uns fern, und meine Vermutung, daß ich die unschuldige Ursache davon sei, bestätigte sich, da bei einer zufälligen Begegnung einer der Herren meiner Freundin erklärte, er könne unmöglich mit jemand in Verkehr treten, der den Namen Bismarck trage.
Ähnliches erlebte ich den Winter darauf in Montreux, wohin ich einen der Söhne des Wedemeyerschen Hauses, dem die Luft des Südens verordnet war, begleitete. Wir wohnten eine Zeitlang mit dem hannöverschen Minister von Hodenberg unter einem Dach. Sein kleiner vierjähriger Sohn hatte sich mit meinem um mehrere Jahre älteren Pflegling angefreundet. Er erschien öfters in unserer Stube, nahm auch Bonbons und dergleichen freundlich von mir an, was ihn aber nicht hinderte, vor unserer Tür ein Spottlied auf die Preußen anzustimmen, indem er sie mit sehr unparlamentarischer Benennung beschimpfte.[141] Natürlich nahm ich von diesen Ständchen keine Notiz. Als der kleine Welfe sie aber im Garten unter unseren Fenstern fortsetzte, bat ich ihn doch, seine musikalischen Leistungen auf das Haus zu beschränken. Diese Reise in die Schweiz habe ich sehr genossen, und unvergeßlich ist mir der erste Ausblick aus meinem Fenster in Lausanne am Morgen, nachdem bis dahin auf der Reise strömender, jede Aussicht hemmender Regen unser treuer Begleiter gewesen war. Da lagen in hellem Sonnenschein und strahlender Schönheit der Genfer See und die Savoyer Alpen vor mir.
Mehrmals bin ich nachher noch in der Schweiz gewesen und empfinde noch jetzt oft eine förmliche Sehnsucht nach den schneebedeckten Bergen, aber nun heißt es stille sein und auf die Berge schauen, von denen uns Hilfe kommt.
Bald darauf zogen sich schwere, dunkle Wolken über dem Schönrader Hause zusammen.
Im Herbst 1869 war die schon lange leidende Hausfrau besonders elend, und die Ärzte bestimmten, daß sie den Winter im Süden zubringen solle. Mit schwerem Herzen entschloß sie sich dazu; mir ward die Aufgabe, dem ganzen großen Haushalt den Winter hindurch vorzustehen. Herr von Wedemeyer war im Abgeordnetenhause, also auch fast immer abwesend. Kinder, Erzieherin, Hauslehrer blieben mir überlassen. Dieser Gedanke war mir recht schwer, wenn er auch der scheidenden Hausfrau keine Sorge machte. »Habe Geduld mit der Mamsell,« war eine ihrer wenigen Verhaltungsregeln, die sie mir gab, und diese Geduld hatte ich nötig, denn die sehr tüchtige Person, die vorzüglich kochte, legte es förmlich darauf an, mir das Leben schwer zu machen. Sie versorgte die Leute schlecht, gab ihnen an kalten[142] Herbsttagen dicke Milch und Kartoffelsalat zum Abendessen und behauptete, ich hätte das so bestimmt. Ja, sie brachte während der kurzen Anwesenheit des Hausherrn gegen meine ausdrücklichen Anordnungen immer Dinge auf den Tisch, die er nicht essen mochte, und erst als Herr von Wedemeyer ihr einmal gründlich den Standpunkt klar gemacht hatte, nahm sie sich mehr zusammen. Daß sie trotz meiner geduldigen Bemühungen kurz vor der Rückkehr der Hausfrau kündigte, konnte ich ihr nicht einmal sehr übel nehmen, denn sie wollte heiraten und lud mich sogar zu ihrer Hochzeit ein.
Eine große Jagd, die Herr von Wedemeyer in diesem Winter gab, versammelte viele Gäste in Schönrade, unter ihnen auch den Kriegsminister von Roon. Er war schon öfters im Hause gewesen, und sein Kommen wurde daher mit besonderer Freude begrüßt. Alle Leute waren in einer gewissen gehobenen Stimmung. Mamsell ließ sich von dem aus Stettin beorderten Koch imponieren, und der kleine Diener Wilhelm, den ich ermahnte beim Aufwarten nicht wie ein beschlagenes Pferd zu trampeln, ging sogar auf den Zehenspitzen über den Hof.
Die Jagd war sehr ergiebig, und also alles vergnügt an der Tafel. Als einzige Dame und Vertreterin der Hausfrau hatte ich die Ehre, neben dem Minister zu sitzen. Wenn man die Scheu, die sein äußerlich strenges, ja fast finster erscheinendes Wesen einflößte, überwunden hatte, war er der heiterste, gemütlichste Mensch, den man sich denken konnte. Er erzählte bei jener Gelegenheit viel, machte in der lebhaften Unterhaltung auch einige Bemerkungen über die Reorganisation der Armee und sagte endlich: »Der Krieg mit Frankreich trifft uns nicht unvorbereitet.« Auf meine etwas entsetzte Äußerung: »Exzellenz,[143] Sie sprechen ja von einem Krieg mit Frankreich wie von einer ganz ausgemachten Sache,« erwiderte er, die ihm eigene Anrede für Menschen, die er gern mochte, gebrauchend: »Mein Kind, ein Krieg mit Frankreich ist so sicher, wie wir beide hier zusammen sitzen.« Wie wahr er gesprochen hatte, sollte sich ja bald zeigen. Vorläufig folgten aber für uns noch friedliche Tage. Die Nachrichten aus dem Süden lauteten befriedigend. Ich hatte zwar viel Arbeit, aber doch eine ganz behagliche Zeit, durch den Verkehr mit den Kindern und manchen gemeinsamen Scherz erhellt.
So war Anfang Dezember der Geburtstag der fernen Mutter. Ihr Gatte wollte sie zu diesem Tage besuchen, und wir hatten allerlei kleine Geschenke vorbereitet, deren Überbringer er sein sollte; er weigerte sich aber entschieden, auch einen Kuchen mitzunehmen. Ein Geburtstag ohne Kuchen – unmöglich! Da kam uns ein glücklich aushelfender Gedanke. Die Kinder besaßen einen Apparat, auf dem man an einer Spiritusflamme einen Baumkuchen backen konnte. Der Gedanke, ein solches kleines Gebäck für das Geburtstagskind zu bereiten, fand den Beifall des Hausherren so weit, daß er sich selbst nicht scheute, an dem Vergnügen des Backens teilzunehmen, was sich zu einem wahren Fest für die Kinder gestaltete, besonders in dem Gedanken, wie die Mutter sich doch freuen würde. Und darin hatten sie sich nicht verrechnet. Selten hat wohl ein großer Baumkuchen so helle Begeisterung erregt, wie dieser kleine, der in Seidenpapier gewickelt in einer Medizinflaschenschachtel die Reise nach Mentone machte.
Das Weihnachtsfest führte außer dem Hausherren auch seine auswärtigen Söhne, darunter den Studenten aus Heidelberg[144] nach Schönrade zurück. Trauer über die Abwesenheit Clärchens, der Mutter und Herrin, der nicht nur die Kinder, sondern auch alle Dienstboten und die Dorfbewohner mit Liebe anhingen, breitete eine gewisse Wehmut über diese Weihnachtsfeier, konnte doch der Vater selbst bei der Andacht die Tränen nicht unterdrücken.
Sehr heiter gestaltete sich der Silvesterabend. Da ich fürchtete, Mamsell würde das ganze Dorf mit Pfannkuchen versorgen, wenn ich ihr freie Hand ließe und sich als gütige Geberin aufspielen, backten wir im Puppenkochofen zum großen Vergnügen der Kinder kleines Silvestergebäck, und der Hausherr braute einen leichten Punsch dazu der die junge Gesellschaft in eine so frohe Stimmung versetzte, daß zum Klavierspiel der Erzieherin ein Tänzchen begonnen wurde, an dem zur allgemeinen Belustigung schließlich auch »Mummschen« teilnahm, die eigentlich Frau Müller hieß und als Kinderfrau seit 20 Jahren im Hause war. Niemand von uns ahnte, daß dies auf Jahre hinaus der letzte fröhliche Silvesterabend im lieben Schönrade sein sollte, und daß im Laufe des so heiter begonnenen Jahres Totenglocken erklingen und für lange, lange Zeit Schmerz und Kummer in dem bisher so glücklichen Hause einläuten würden.
Ende Mai sollte Frau von Wedemeyer heimkehren. Als der Tag ihrer Ankunft bestimmt war, wurde alles in Schönrade auf das glänzendste zu ihrem Empfange gerüstet. Eine Ehrenpforte war in der Dorfstraße erbaut, überall hatten die Leute Girlanden geflochten und die Straße dekoriert, da brachte ein Telegramm die Nachricht, daß Clärchen in München an Erkältung krank liege, die sie sich durch eine kalte Nachtfahrt[145] über den Brenner zugezogen hatte. Endlich am 7. Juni 1870 konnte sie durch die, freilich nach acht Tagen nicht mehr so schöne Ehrenpforte einziehen. Die Dorfleute begrüßten die geliebte Herrin am Abend durch Gesang und Fackelzug. Wir aber spürten doch schmerzlich, wie die Rückkehrende nicht ganz geheilt uns wiedergegeben war.
Wenige Wochen darauf erfolgte dann die Kriegserklärung, die alles im Hause in begreifliche Aufregung versetzte. Noch muß ich eines furchtbaren Schrecks gedenken, den ich am Abend des Tages, der uns diese große Botschaft brachte, erlebte. Der in den Ferien anwesende zweite Sohn des Hauses war mit seinem jungen Vetter, demselben, der mir die erhaltene Ohrfeige so herzlich dankte, ausgegangen, um einen Rehbock zu schießen. Nach einigen Stunden begegnete ich diesem Vetter allein im Hausflur. Kreideweiß und an allen Gliedern zitternd sagte er mir: »Es ist ein großes Unglück geschehen!« »Was denn?« rief ich erschrocken und begreiflicherweise glaubend, er habe den Sohn des Hauses erschossen. »So sage doch nur, was ist geschehen?« Drei-, viermal erhielt ich von dem ganz Verstörten immer dieselbe Antwort: »Ein großes Unglück!« Endlich als ich ihn heftig schüttelnd rief: »Mensch, was ist geschehen?« sprach er fast tonlos: »Ich habe ein Ricke geschossen!« – Der Onkel verstand freilich in Jagdangelegenheiten keinen Spaß mit den jungen Leuten, und das Erlegen eines weiblichen Rehes war eine jagdliche Todsünde. Diesmal milderte mein Bericht über den gehabten Schreck den Zorn des Hausherrn über den zerknirschten Übeltäter.
In den folgenden Tagen wurde Werner aus Heidelberg zurückgerufen und trat als Freiwilliger in das 12. Dragonerregiment.[146] Vorerst blieb er zu seiner Ausbildung in der Garnison Frankfurt a. O. zurück. Am letzten Abend seines Aufenthaltes im elterlichen Hause war er in der fröhlichsten Stimmung.
Zur Mitarbeit in dem Barackenlazarett berufen, kehrte ich nach Berlin zurück. Das ganze Elend des Krieges, das mir hier so nahe trat, lag den Lieben in Schönrade, Gott sei dank, noch fern. Sie verstanden oft die trübe Stimmung nicht, die aus meinen Briefen sprach, für sie war der Krieg noch weit fort – in Frankreich. Auch Werner drohte noch keine Gefahr. Aber Mitte September sagte mir ein Telegramm, daß er dem Regiment nachgehen würde. Er schrieb mir dann voller Freude, daß er an einem bestimmten Tage auf dem Schlesischen Bahnhof eintreffen werde. Es glückte mir, mich im Lazarett zu beurlauben und ihn auf dem Bahnhof zu erwarten. Von Freude verklärt, in jugendlicher Frische, sein Pferd an der Hand führend, entstieg er dem Viehwagen. »Sieh doch nur das schöne Pferd, das mir Papa geschenkt hat!« Das waren seine ersten Worte, als er mir um den Hals fiel. Er mußte dann zwar seinem Truppenteil folgen und war irgendwo einquartiert, versprach aber gleich, sobald als möglich zu mir zu kommen. Er blieb einige Tage in Berlin. Da mir die Pflicht für ihn zu sorgen, die nächste schien, gelang es mir, mich für diese Zeit von der Lazarettarbeit frei zu machen, und so brachte er den größten Teil des Tages in meiner Wohnung zu, die ich damals noch mit Tante Lottchen teilte. Außer der Sorge für sein Pferd hatte er keinen Dienst. Wir machten verschiedene Einkäufe für seine Ausrüstung. Auch zu einem Photographen ging ich mit ihm, um noch ein Bild von ihm machen zu lassen. Die Äußerung des Photographen: »Lassen Sie doch ein recht großes Bild machen, man weiß ja[147] nicht, was geschehen kann,« berührte mich sehr schmerzlich, doch blieb es bei dem kleinen Bilde, ich zwang mich ja, an keine Gefahr zu denken. Zunächst war der Tag seiner Abreise unbestimmt, dann aber benachrichtigte mich ein Telegramm eines Morgens, daß er am Nachmittag um 3 Uhr vom Anhalter Bahnhof abreisen müsse. Natürlich ging ich hin. Ich fand Werner schon dort. Er machte mir aus Decken und verschiedenen Utensilien einen Sitz zurecht, und wir blieben wohl noch eine halbe Stunde beisammen.
In freundlicher Weise beteiligte sich Werner an der Verteilung von Liebesgaben, die Damen gebracht hatten, nahm selbst noch einige Zigarren und etwas Schokolade an und kehrte inzwischen immer wieder zu mir zurück. So kam der Augenblick des Abschieds. Ich konnte die Tränen nicht zurückhalten, da er mich weinen sah, sagte er: »Weine doch nicht, ich komme ja wieder.« Ja, wieder gekommen ist er, aber freilich so ganz anders; auf derselben Stelle habe ich ihn in seinem Sarge empfangen.
Die Herbstmonate bis zum Dezember vergingen unter viel Aufregung und Angst. Werner hielten wir gewissermaßen für geborgen, da er zunächst vor Metz lag, und seine Briefe ihn immer gesund und froh schilderten. Er schrieb von Jagden, die die Offiziere in den Ardennen mitmachten, und an denen auch er, als eifriger Jäger mit viel Freude teilnahm. Die Schlacht bei Orleans, wo später sein Regiment beteiligt war, versetzte uns in neue Sorge. Es vergingen mehrere lange Tage, ohne Nachricht. Eines Abends hatte ich mich, erschöpft von der Angst um Werner und ermüdet von der Arbeit in den Baracken, früh zur Ruhe gelegt, da erschien sein Vater vor meinem Bette[148] und rief: »Sie müssen sich nun doch noch freuen, Ihr Junge lebt ja und ist gesund!«
Mit innigem Dank gegen Gott schlief ich nach vielen Tagen zum ersten Male wieder ruhig ein. Dann kam die Nachricht, daß ihm bei einer Rekognoszierung sein schönes Pferd erschossen sei, und endlich am 17. Dezember die Trauerbotschaft, daß er am 7. desselben Monats in die ewige Heimat abberufen war.
Ich möchte an dieser Stelle den letzten Brief Werners an seine Eltern einfügen:
»2. Dezember 70.
»Geliebte Eltern! Endlich komme ich dazu, wieder einmal einen Brief zu schreiben und Euch einen ausführlichen Bericht über mein Ergehen zu geben. Ich will mit dem 28. November anfangen. Den Morgen um 1/47 wurden wir alarmiert und rückten über Pithiviers vor, wo wir mit der Division einige Stunden warteten. In der Ferne, in der Richtung des X. Korps hörte man Schüsse. Nichts Ungewöhnliches. Indessen kam keine genaue Nachricht. Am Mittag rückten wir auf der Chaussee gegen Boynes ungefähr 1/2 Meile vor und warteten weiter. Als der Kanonendonner stärker wurde, wurde der Leutnant von Lützow mit 5 Mann (darunter ich) vorgeschickt, um das X. Korps aufzusuchen und Meldungen zurückzuschicken. Wir trabten ein starke Meile über Boynes nach Barville vor und bogen dann rechts ab, wo wir bei Beaune deutlich den Pulverdampf aufsteigen sahen. Wir ritten an der Kavalleriedivision Hartmann vorbei, neben der eine Batterie unaufhörlich feuerte. Vom Feinde war aber noch nichts zu sehen. Da sahen wir vor uns zwischen einigen Gehöften sich eine Infanteriekolonne[149] lang ziehen, an die wir bis auf 300 Schritt heranritten in dem Glauben, Preußen vor uns zu sehen. Da erst erkannten wir an den langen Röcken und dem Fehlen der blanken Helme Franzosen. In demselben Augenblick waren wir aber auch erkannt, und die ganze Gesellschaft entlud ihre Chassepots auf uns 6 Mann, die wir natürlich in gestreckter Karriere zurückjagten. Jeder lag auf dem Hals seines Pferdes, und es ist fast ein Wunder, daß uns keine einzige Kugel traf. Ich war jeden Augenblick darauf gefaßt. Dann mußten wir in einem weiten Bogen herumreiten, wo wir glücklich auf das X. Korps und namentlich auf einige Batterien stießen. Ein Stabsoffizier diktierte einen Bericht über den Gang des Gefechts, den ein Dragoner zurücktrug. Ich blieb mit Lützow da. Die Franzosen hatten angegriffen in bedeutender Anzahl und suchten das X. Korps zu flankieren. Sie waren schon an Beaune vorbei vorgedrungen, wo wir auf sie gestoßen waren. In Beaune selbst hielt sich das 16. Regiment. Anfangs waren wir zurückgedrängt worden, in dem Moment jedoch, wo wir (d.h. Lützow und ich) ankamen, war die Infanterie schon wieder im Vorgehen begriffen. Ich sah über eine Stunde lang dem Artilleriekampfe zu, was höchst interessant war. Unsere Artillerie ist wirklich famos.«
»Fortsetzung den 5. Dezember. Beim Briefschreiben wurde ich durch Alarm gestört. Wir sind noch am Abend in bitterer Kälte ausgerückt in der Richtung auf Pithiviers. Am 3. Dezember früh Aufbruch. Am Mittag stießen wir auf den Feind bei Santeau, wo vor acht Tagen meine Braune totgeschossen ist. Fortwährendes Feuer und Avancieren auf Orleans Sehr geringer Verlust. Vom 3. auf den 4. Dezember Biwak.[150] Am 4. Dezember früh Weitermarsch. Gestern Abend 10 Uhr in Quartier gekommen in einem Dorf an der Loire, oberhalb Orleans, dessen Türme man deutlich sieht. 5. Dezember: Alles ist marschbereit, wir warten auf das Signal zum Ausrücken.«
»Den 5. Dezember: Meine liebe, liebe Mama! In aller Eile und Kürze muß ich Dir meine Glückwünsche darbringen. Ach könnte ich nur auf einige Stunden am 11. Dezember zu Hause sein, um Dich Auge in Auge zu sehen und Dich so recht umarmen zu können. Möge Gottes reichster Segen in Deinem neuen Lebensjahr über Dir walten, möge uns allen ein frohes Wiedersehen beschieden sein. In Gedanken küßt und umarmt Dich, meine geliebte Mutter, Dein gehorsamer Sohn
Werner.«
Dieser Brief gelangte erst nach dem Tode des Sohnes in die Hände der Eltern.
Professor Ulrich Fischer hat in einer der 50 jährigen Jubelfeier des Gymnasiums zu Treptow a. Rega gewidmeten Festschrift das Leben von 12 ehemaligen Schülern geschildert, welche 1870/71 für das Vaterland gestorben sind. Unter ihnen Werner von Wedemeyer.
Über dessen beide letzte Lebenstage erzählt Professor Fischer in schlichter, ergreifender Weise:
»Am 5. Dezember kamen die 12. Dragoner nach St. Denis de l'Hotel, dicht östlich von Orleans, in Ouartier. Hier bot Leutnant Freiherr von Bothmer seinem Vetter Wedemeyer an, sein Quartier mit ihm zu teilen, dafür aber das Essen zu bereiten, da er noch für die Verpflegung der Eskadron sorgen[151] müßte. Als Bothmer 6 Uhr abends aus dem Dienste kam, fand er Werner von Wedemeyer in seinem Quartier vor, der eigenhändig zwei Enten geschlachtet und gebraten hatte. Gemeinschaftlich verzehrten sie diese und blieben den Abend in traulichem Gespräch zusammen. Hierbei teilte Bothmer dem Vetter mit, daß der Eskadronchef, Rittmeister Krell, ihn wegen seines Verhaltens bei Santeau zum Eisernen Kreuz eingegeben habe. So groß hierüber auch die Freude Wedemeyers war, so war er doch zu sehr gewöhnt, an sich die höchsten Anforderungen zu stellen, daß er sofort erklärte, diese Auszeichnung noch nicht verdient zu haben, sie sich aber unter allen Umständen zu verdienen. Am Abend spät kam noch der Leutnant Graf von der Schulenburg, der kein anderes Quartier finden konnte, und blieb die Nacht dort. Diesem übergab Wedemeyer den Brief, den er am 2. Dezember begonnen und in diesem Quartier am 5. beendet hatte, zur Besorgung, da er meinte, daß die Offiziere eher Gelegenheit hätten, die Briefe der Post zu übergeben, als er. In der Nacht teilten die beiden Vettern das einzige Bett, das vorhanden war, so daß sie an Werners vorletztem Lebenstage wieder vereint waren, wie einst in den glücklichen Kinderjahren von Schönrade.
Um die Heeresbewegungen der Franzosen östlich von Orleans, wohin Teile des geschlagenen französischen Heeres zurückgegangen waren, festzustellen, befahl Prinz Friedrich Karl, daß das III. Armeekorps auf dem rechten Loireufer in der Richtung auf Gieu und Montargis vorstoßen sollte. Infolge dieses Befehles schob der kommandierende General von Alvensleben am 6. Dezember die 5. Division in die Linie St. Aignan des Gués und Chateauneuf vor. In diesem letzteren Orte lag[152] die Kavalleriedivision Hartmann, so daß Werner von Wedemeyer an seinem letzten Lebenstage den Oberinspektor aus Schönrade, Rothbarth traf, der als Unteroffizier der Reserve zum 2. Pommerschen Ulanenregiment Nr. 9 eingezogen war. Etwa eine Stunde lang konnten sie ihre Kriegserlebnisse austauschen, dann trennte sie der Dienst wieder, da die Schwadron Wedemeyers in St. Aignan lag.
Am 7. Dezember morgens um 81/2 Uhr brach die Avantgarde (1. Schwadron Dragonerregiments Nr. 12, Leibgrenadierregiment Nr. 8 und 2. leichte Batterie) unter Oberst v. l'Estocq aus St. Aignan auf; den Avantgardenzug, bei dem sich Wedemeyer befand, führte Leutnant Freiherr von Bothmer. Das Gelände war für Reiterei ungünstig, rechts die Loire und links Wald und Höhen, so daß man dauernd durch Wegeengen marschieren mußte. Aus Gehöften und Gebüschen erhielt der Avantgardenzug von Mobilgarden Feuer. Der Wald von Ouzouer an der Loire wurde von Feinden gesäubert und vor dem Ort gegen 12 Uhr mittags ein kurzer Halt gemacht. Hier schickte der Rittmeister Krell den Leutnant v. Bothmer mit einer Patrouille in die linke Flanke und an seiner Stelle den Leutnant v. Lützow als Führer des Avantgardenzuges gegen Ouzouer vor. Bei diesem Wechsel wußte es Wedemeyer so einzurichten, daß er wieder in den Avantgardenzug kam. Drei Mann als äußerste Spitze trabten vor, ihnen folgte in kleinem Abstand der Leutnant v. Lützow mit 7 Mann, unter denen Wedemeyer war. Da die vordersten 3 Dragoner, ohne Feuer zu bekommen, in den Ort hineinritten, so folgte ihnen Lützow. Sobald dieser mit seinen 7 Leuten in das Dorf hineingekommen war, erhielt er aus allen Häusern und Straßen Feuer, der westliche Eingang[153] wurde mit Wagen gesperrt und von hier aus auf die nachrückende Schwadron geschossen, die infolgedessen nicht in den Ort hineinkommen konnte. Da ein Umdrehen nicht mehr möglich war, befahl Lützow durch das Dorf zu jagen und links herum den Anschluß an die Schwadron wieder zu gewinnen. Es war ein Ritt auf Leben und Tod, was die Pferde laufen konnten. Bis in die Mitte des Dorfes in der Nähe der Kirche, wo auf einen freien Platze ein Ziehbrunnen war und ein chaussierter Weg nordwärts von der Straße abzweigt, war Wedemeyer unmittelbar neben Lützow galoppiert und hatte den Ziehbrunnen übersprungen, als ihn das tödliche Blei ungefähr 121/2 Uhr mittags traf. Das Geschoß war ins Genick hinein- und vorn aus dem Munde herausgegangen, wobei es die große Schlagader durchschlagen hatte. Der Dragoner Berg, der unmittelbar hinter ihm galoppierte, sah, wie er vornüber vom Pferde fiel, und hatte den Eindruck, daß er sofort tot gewesen sei. Die 3 Mann Spitze sind mit ihren Pferden heil durch den Ort gekommen, von den sieben andern sind außer Wedemeyer noch 3 Dragoner gefallen, nur einer ist mit und zwei Mann ohne Pferde herausgekommen, den Leutnant v. Lützow trug sein Pferd, trotzdem es drei Schüsse durch den Leib erhalten hatte, noch heraus, dann brach es zusammen.
Sobald das Feuer von den Franzosen eröffnet war, protzte die Avantgardenbatterie ab und bewarf Ouzouer mit Granaten, während das Leibgrenadierregiment Nr. 8 gegen das Dorf vorging und bald nach 1 Uhr nachmittags die Franzosen herauswarf und bis Nevoy verfolgte, wo die Franzosen längeren Widerstand leisteten; deshalb wird amtlich dies Gefecht am 7. Dezember bei Nevoy genannt.[154]
Die Leiche Werner v. Wedemeyers fand man unmittelbar neben dem Ziehbrunnen; Säbel, Revolver, Geldbörse und die neuen Stiefel, die er am 15. November aus der Heimat erhalten hatte und erst seit einigen Tagen trug, hatten ihm die Franzosen genommen, die Uhr und die Geldtasche um den Hals nicht. Krell ließ die Leichen in eine Scheune bringen, von wo sie am nächsten Morgen, dem 8. Dezember, von dem etatsmäßigen Stabsoffizier im 12. Dragonerregiment, Major v. Heydebreck, abgeholt und mit einem Vizefeldwebel vom Leibgrenadierregiment in Dampierre, ungefähr 3 km südöstlich von Ouzouer, begraben wurden. Um Wedemeyers Sarg und Grab kenntlich zu machen, hatte der jüngste Sohn des Kriegsministers von Roon, Leutnant im 12. Grenadierregiment, den Sarg in Leinewand wickeln lassen und über dem Grabe ein Holzkreuz mit Namen und Todestag errichtet.
Noch am Todestage, einem Mittwoch, erfuhr Rothbarth den Heldentod Wedemeyers durch den Major v. Heydebreck, der früher Rothbarths Rittmeister gewesen war. Er wie Bothmer teilten den Eltern das traurige Ereignis mit, und Rothbarth bemühte sich, Urlaub zu erhalten, um die Leiche nach Hause zu bringen. Der Urlaub wurde ihm abgeschlagen mit dem Bemerken, daß dieser nur auf Antrag der Familie entweder bei dem Kriegsminister oder dem Regimentskommandeur Rothbarths erteilt werden könne. Deshalb wandte sich am 18. Dezember der Vater Wedemeyers an den Kriegsminister mit der Bitte
daß der Unteroffizier Rothbarth beurlaubt werde, um den Transport der Leiche zu bewerkstelligen; in der Hoffnung, daß dies ohne Schädigung des königlichen Dienstes geschehen könne, und natürlich nur unter dieser Voraussetzung.«[155]
Die Antworten des Kriegsministers v. Roon zeigen ihn in so menschlich schönem Lichte, daß sie auch an dieser Stelle ihren Platz finden sollen. Der erste Brief aus Versailles, den 22. Dezember 1870, lautet:
»Verehrter, lieber Freund!
Ihr ausführliches und angenehmes Schreiben d. d. Berlin vom 16. ließ nur eins vermissen Mitteilungen über die Ihrigen, namentlich Ihre verehrte Frau Gemahlin.
Mit diesem Bemerken wollte ich heute an die Beantwortung gehen, als ich am frühen Morgen Ihre Trauerbotschaft vom 18. aus Schönrade empfing. Seitdem habe ich, um Ihren Wünschen zu genügen, an das 9. Ulanenregiment geschrieben und angeordnet, daß Unteroffizier Rothbarth beurlaubt und mit dem Transport der irdischen Reste Ihres im ehrenvollen Kampfe für das Vaterland gefallenen teuren Erstgeborenen beauftragt, auch mit den dazu erforderlichen Mitteln auskömmlich ausgestattet werde; die erforderlichen Legitimationspapiere und Eisenbahnrequisitionen habe ich beigefügt. Indem ich auf diese Weise Ihrem traurigen Auftrage so prompt als möglich entsprochen habe, glaube ich darauf hinweisen zu müssen, daß immerhin einige Tage bis zur Ankunft meines Briefes beim Regiment und sodann bei der Überfüllung der Eisenbahnen auf dem Kriegsschauplatz wohl noch eine Woche bis zur Ankunft des lieben Heimgegangenen an seinem irdischen Heimatsorte vergehen werden, wiewohl ich von Herzen wünschen möchte, daß die Zeit des Harrens und Erwartens für Sie und Ihre arme Frau Gemahlin möglichst abgekürzt werden möchte.[156] Dann erst, wenn der liebe Leichnam dort ruhen wird, wohin Sie und die arme Mutter auch erst den Grad von Ruhe wieder finden, der nach so schmerzlichem Verlust – wie ich ja aus ganz frischer, eigener Erfahrung weiß,1 – sich so schwer wiederfinden läßt. Sie, mein teurer Freund, sind ja ein Mann und ein Patriot und was mehr als beides zu achten – ein Christ; Sie werden daher den Ihnen und Ihrem Hause auferlegten Schmerz mit Gottes Hilfe verwinden, wenn auch die Wunde noch lange nachblutet. Aber auch zu Ihrer verehrten Frau Gemahlin habe ich das feste Zutrauen, daß sie, wie meine arme Frau, den schmerzlichen, ja unersetzlichen Verlust um Gottes, um des Vaterlandes willen ertragen lernen wird. Wir sind ja unsere Kinder, besonders die wohlgeratenen, als Gottes Kinder zu betrachten angewiesen, und müssen Ihm, unter Danksagung für alle Freude, die Er uns durch sie bereitet, wiedergeben, was Sein ist, was Er uns geliehen. Und wenn wir Eltern uns, beim Hinausziehen der Söhne in diesen gebotenen, uns aufgenötigten blutigen Krieg sagen mußten und gesagt haben, daß wir die teuren Häupter unsrer lieben Kinder damit dem Vaterlande weihten, so dürfen wir uns wohl grämen, aber nicht sträuben, wenn aus solcher Weihe ein Opfer, ja ein schmerzliches Opfer wird. Ja, mein lieber Freund, weh, sehr wehe tut es dennoch, und alle Worte darüber sind wohl eitel. Daher schäme ich mich der Träne nicht, die ich, indem ich dies schreibe, im eigenen Leid, wie im herzlichen Mitleid mit dem Ihrigen,[157] im Auge fühle. Tröste Sie Gott! Menschen vermögen dies nicht. – Es macht mir eine wehmütige Freude, daß mein jüngster Sohn, der nach der Heilung seiner bei Saarbrücken empfangenen Wunde seit mehreren Wochen wieder vor dem Feinde steht, Ihrem Sohn den Liebesdienst erweisen konnte, dessen Sie gedenken. Dies ist zugleich die erste sichere Nachricht, daß er bis vor kurzem noch wohlauf war und die Kämpfe an der Loire glücklich überstanden hat.
Mein ältester und mein dritter Sohn, die gestern bei einem neuen heftigen Ausfall aus Paris, der wie alle früheren siegreich zurückgeschlagen wurde, im Feuer waren, sind hoffentlich unversehrt geblieben; von meinem Schwiegersohn Wißmann, der mit der Gardedragonerbrigade zu Manteuffel nach der Normandie detachiert, habe ich lange keine Nachricht, seit dem 6. d. M. nicht. –
Die Beantwortung auf Ihren lieben freundlichen Brief aus Berlin muß ich mir heute vorbehalten, so dankbar ich auch dafür bin. Aber ich schreibe Ihnen nächstens, d.h. sobald ich von Rothbarths Regiment Antwort haben werde. Indem ich Ihnen und Ihrer verehrten Gemahlin herzlich die Hand drücke, bleibe ich in aufrichtig freundschaftlicher Ergebenheit
Ihr
v. Roon.«
Der zweite Brief ist vom 6. Januar 1871 ebenfalls aus Versailles:
»Mein teurer und sehr lieber Freund!
Das durch die Damen veranlaßte Mißverständnis in betreff des vermeintlich schon durch meinen Sohn veranlaßten Transports[158] ist nun wohl aufgeklärt. Ich erhielt darüber bestimmte telegraphische Meldung, daß mein Sohn nichts veranlaßt habe, weil er keinen Auftrag dazu erhalten; mittlerweile war er 8–9 Meilen von Dampierre verschoben. Um so begieriger war ich auf den Erfolg meiner Ihren Wünschen entsprechenden Anordnung wegen des Transportes durch Rothbarth. Das 9. Ulanenregiment war gleichfalls weiter nach Westen gerückt, und wir erfuhren vor einigen Tagen, daß es mit Königinkürassier dem Feinde in der Nähe von Vendôme 4 Geschütze genommen. Mir wurde daher bange, ob mein Brief etwa nicht angekommen sei. Zu meiner Freude erhalte ich das eben eingehende Telegramm auf meine telegraphische Anfrage. Und danach wird Rothbarth jetzt bereits unterwegs nach der Heimat sein.
Diese Zeilen schreibe ich Ihnen, mein geliebter Freund, mit zitternder Hand, denn ich laboriere wieder einmal an einem meiner abscheulichen katarrhalischen Zustände und habe das Haus innerhalb der letzten 14 Tage nur einmal, am Neujahrstage, verlassen und die Krankheit dadurch törichterweise verschlimmert. Bin es aber einmal gewöhnt, dem Könige zu Neujahr meine Glückwünsche persönlich darzubringen. An diesem Tage wurde denn auch der Beginn der Beschießung der Südseite von Paris definitiv auf den 4. d. M. festgesetzt. Der Nebel, den Gott an diesem Tage schickte, verschob die Ausführung bis auf gestern, und nun brummen wir so gründlich, daß Fort Issy schon mundtot gemacht sein soll, und unsere Verluste sind bisher mäßig: 3 Offiziere verwundet, darunter 1 schwer, 4 Kanoniere tot und einige, wiewohl schwer verwundet. Das Feuer schwieg gestern während zweier Stunden, weil ein[159] Parlamentär aus Paris heraus wollte wahrscheinlich Diplomaten, die heraus wollen, weil es ihnen drinnen jetzt ungeheuerlich wird. Nach bisher unverbürgter Sage soll es gestern an zwei Stellen in Paris gebrannt haben; es können nur verirrte Kugeln gewesen sein, denn bis jetzt sind nur die Forts unser Objekt. –
Sie können sich kaum vorstellen, mit welcher Freude hier von der Zernierungsarmee diese Tatsache der Beschießung begrüßt worden ist. Der Jubel darüber ist in allen Reihen bis auf die Trainsoldaten herunter. Ich bemerke, daß ich, der ich immer zu den »Schießern« und nicht, wie von dem vulgären Witz, unter Verstellung zweier Buchstaben, zu der so bezeichneten anderen Partei gehört habe, mich in dieser Beziehung um so weniger täusche, als ich vor meinem Einbleiben überall nur der größten Verstimmung, wenn nicht Erbitterung wegen der scheinbar verzagten Verschleppung der Angelegenheit begegnet bin. Übrigens ist es ein Irrtum, wenn, wie hier und da in Zeitungen angedeutet worden, man gemeint haben sollte, als wäre der König gegen die Beschießung gewesen; vielmehr sind nur seine Befehle unter allerlei Entschuldigungen nicht ausgeführt worden. Endlich wurde mir aufgetragen, die als unüberwindlich dargestellten Schwierigkeiten wegzuräumen, und nun geht alles, was schon vor 8–10 Wochen gegangen wäre, wenn man nicht die Pferde absichtlich oder aus Unverstand hinter den Wagen gespannt hätte. Dies bemerke ich nicht aus Ruhmredigkeit, sondern nur in der Absicht, die aus Unkenntnis der Ressortverhältnisse dem Kriegsminister seitens des Publikums aufgebürdete Mitschuld von meinen Schultern zu werfen.
Wenn ich Ihnen, mein geliebter Freund, in Ihrer väterlichen[160] Wehmut von solchen Dingen allgemeinen Interesses spreche, so brauche ich mich deshalb gewiß nicht zu entschuldigen, weil Ihr väterlicher Schmerz, Ihr aufgedrungener Verzicht auf schöne Hoffnungen und Lieblingspläne gewiß fern ist von aller Sentimentalität. Nichts wäre daher ungerechter, als anzunehmen, daß bei Ihnen das väterliche das vaterländische Interesse ganz verdrängt hätte. Man ist geneigt, andere nach sich selber zu beurteilen. Wenn mir freilich in einer einsamen Dämmerungsstunde die Trauer um meinen braven Jungen in die Kehle steigt, so ist bloß mein dürres Alter schuld, daß mir das Wasser nicht aus den Augen läuft; die Neigung zum Weinen wäre wohl da. Allein was hilft's! Das Leben hat sein Recht an uns und der Tag seine Forderungen. Und das ist ein großes Glück, in dem wir Männer den armen Frauen mit geringeren Geschäften weit voraus sind. –
Meine Frau hat mir die Briefe von dem lieben Fräulein von Bismarck mitgeteilt, und ich habe daraus ersehen, daß Ihre verehrte Gemahlin so tapfer an ihrem Verlust trägt, wie es nur ein frommes Herz vermag. Küssen Sie Ihr von meinetwegen die Hände! Möchten Sie beide und Ihr Haus recht bald die Befriedigung erfahren, die Ihnen die Heimführung der Reste Ihres jungen Helden gewähren wird.
In treuer freundschaftlicher Ergebenheit
Ihr
v. Roon.«
Am 29. Dezember erhielt Rothbarth den Auftrag des Kriegsministers vom 22. Dezember in Tours auf dem Regimentsgeschäftszimmer,[161] ließ sich 200 Taler Vorschuß zahlen und reiste am 30. über Blois nach Orleans, wo er am 31. Dezember ankam. Hier kaufte er einen Zinksarg, Lötzeug und einen dazu passenden Holzkasten, erhielt durch einen bayerischen Offizier ein Pferd und einen zweirädrigen Wagen, mit dem er sich am 2. Januar 1871 nach Dampierre auf den Weg machte. Nur bis Chateauneuf an der Loire standen deutsche Soldaten, die 25 km lange Strecke bis Dampierre lag außerhalb des Machtbereichs der Deutschen und innerhalb der Wirksamkeit der Franktireurs. Zwischen 9 und 10 Uhr abends kam Rothbarth dort an, ging zum Geistlichen des Ortes, der ihn freundschaftlich aufnahm und ihn und sein Pferd verpflegte, auch Leute zum Ausheben der Leiche besorgte. Das Grab mit dem Kreuz und Namen war bald gefunden und der Sarg bloßgelegt. Da er völlig im Wasser stand, hatte sich um die Leiche viel Schmutz gelegt, der durch Begießen mit reinem Wasser abgespült wurde. Etwa um 11 Uhr war die Leiche gereinigt und blieb bis 1 Uhr in der starken Kälte von 10–12° R liegen, so daß sie vollständig durchfror. Dann legte sie Rothbarth in den Zinksarg, den er zulötete, und stellte ihn in die Holzkiste. Bei dem hellen Vollmond hatten sich schließlich einige 30 Blusenmänner auf dem Kirchhof angesammelt, die unbequeme Redensarten führten, sich aber durch Zigarren und Kognak, womit sich Rothbarth für diesen Zweck in Orleans reichlich versehen hatte, in eine friedliche Stimmung bringen ließen, so daß sie alle gern behilflich waren, den Sargkasten nach dem Pfarrhaus zu tragen und dort auf den Wagen zu heben. Nach kurzem Imbiß bei dem Pfarrer, der trotz der Kälte während der ganzen Arbeitszeit auf dem Kirchhof ausgehalten hatte, fuhr Rothbarth gegen[162] 3 Uhr morgens am 3. Januar von Dampierre ab und kam 8 Uhr morgens in Orleans auf dem Bahnhofe an.
Hier stand ein Zug mit Verwundeten zur Abfahrt nach Pithiviers bereit; schnell wurde der Kasten von herumstehenden Soldaten hineingeschoben, Pferd und Wagen den Soldaten übergeben, dann setzte sich der von Pferden gezogene Zug unter Bedeckung von Kavallerie in Bewegung. Als er abends 9 Uhr in Pithiviers angekommen war, schien jede Möglichkeit weiterzukommen ausgeschlossen, bis Rothbarth am nächsten Tage einen Marketender entdeckte, der mit leeren Fässern und Kisten nach Lagny bei Paris fahren wollte. Durch Geld und gute Worte ließ dieser sich bereden, einige Fässer und Kisten von seinem Wagen herunter zu werfen und dafür die Leichenkiste aufzuladen. Kaum waren sie unterwegs, als ein furchtbares Schneetreiben begann, so daß sie erst abends 10 Uhr in Lagny ankamen. Hier wollten die Bahnbeamten nichts von einer Weiterbeförderung wissen, aber Rothbarth gelang es mit Hilfe namentlich des Packmeisters, dem er sein Leid geklagt hatte, den Leichenkasten unvermerkt in den Packwagen des um 5 Uhr morgens am 6. Januar abgehenden Schnellzuges einzustellen, der ihn in einem Tage bis Straßburg brachte. Hier wurde alles Gepäck aus dem Packwagen geschafft; auf Anraten des Packmeisters blieb Rothbarth mit seiner Kiste im Wagen, der bald wieder geschlossen und mit nach Baden-Baden genommen wurde. Hier entdeckte man den blinden Passagier, nahm ihn aber doch gegen Erlegung der Fracht bis Frankfurt a. M. mit. Da hier die Geldmittel nicht mehr ausreichten, drahtete Rothbarth an Fräulein v. Bismarck um Geld, das bald darauf angewiesen wurde, so daß er die Fahrt nach Berlin antreten konnte.[163]
Am 8. Januar abends 11 Uhr kam er auf dem Anhalter Bahnhof an, wo Fräulein v. Bismarck die Leiche empfing. Am nächsten Morgen, den 9. Januar, ging die Fahrt vom Ostbahnhofe nach Friedeberg, wo ein Leichenwagen, mit den vier Rappen des Vaters bespannt, bereit stand. Fast alle Schönrader waren nach Friedeberg gegangen und begleiteten mit Fackeln den Leichenzug, der gegen 4 Uhr nachmittags in Schönrade ankam.
Als vor 6 Monaten beim Ausbruch des Feldzuges Rothbarth und Werner v. Wedemeyer gemeinschaftlich aus Schönrade abfuhren, um zu ihren Regimentern zu gehen, hatte Frau v. Wedemeyer, als schon die Pferde anzogen, dem Oberinspektor nachgerufen: »Rothbarth! bringen Sie mir meinen Werner wieder!« Er brachte ihr jetzt ihren Werner wieder, aber wie –!
Die Leiche wurde in die Kirche gebracht und vor dem Altar aufgestellt, der Zinksarg geöffnet und die Leiche von dem Vater und der ältesten Schwester in einen neuen Sarg gelegt. Die alte Kinderfrau, die noch immer im Hause war, aber recht krank im Bette lag, weinte bitterlich, daß sie, die ihn zuerst in die Wiege gebettet, ihn nicht in den Sarg legen konnte.
Am 12. Januar fand die kirchliche Trauerfeier unter starker Beteiligung der Nachbarschaft noch bei offenem Sarge statt, der dann geschlossen und nach dem Familienfriedhof getragen wurde, wo ein Grab ausgemauert war auf blauem Grunde mit goldenen Sternen und der Inschrift: »Samen gesäet für die Auferstehung zum ewigen Leben.« Nachdem der Sarg hinabgelassen war, wurde das Grab vermauert und später mit einem Grabstein zugedeckt, auf dem die Sprüche stehen Weisheit[164] 4, 14: »Seine Seele gefällt Gott, darum eilet er mit ihm aus dem bösen Leben«, und darunter Jeremias 29, 11: »Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der Herr, nämlich Gedanken des Friedens und nicht des Leides, daß ich Euch gebe das Ende, des ihr wartet.«
In der Kirche zu Schönrade ist eine Gedenktafel angebracht mit der Inschrift:
Heinrich Ludwig Werner v. Wedemeyer
geb. den 6. Juli 1850
zu Schönrade
gefallen den 7. Dezember 1870
in Ouzouer sur Loire
als Freiwilliger im 2. Brandenburgischen
Dragonerregiment Nr. 12.
Jerem. 29, 11.
»Unter den Braven einer der Bravsten«; dies Urteil seines Schwadronchefs hat seinen letzten Grund in dem unbezähmbaren Tatendrang Wedemeyers, der schon in der Heidelberger Studentenzeit als besonderer Charakterzug ausgeprägt ist.
Die Eltern bekannten in der Todesanzeige:
»Wir danken Gott für viele Freuden, welche er uns 20 Jahre in diesem Sohne gab. Manche schöne Hoffnung geht mit ihm zu Grabe. Gott wolle die schweren Opfer, welche er uns, Tausenden mit uns, auferlegt, unserm teuren König und Vaterland zum Segen gereichen lassen.«
Soweit Professor Fischer.[165]
Zurückgreifend möchte ich sagen, daß einer meiner Neffen, welcher als Leutnant bei dem Brandenburgischen Infanterieregiment Nr. 48 stand, an jenem 7. Dezember bald nach Werners Tode mit in Ouzouer eingerückt war. Dieser erzählte mir später, er habe dort Dragoner, unter ihnen mehrere Offiziere, einen Toten trauernd umstehen sehen und, als er den Namen des Gefallenen gehört, sofort an mich gedacht: »Die arme Tante Bismarck, wie wird sie betrübt sein!«
Rührend war mir der Brief eines Schönrader Dieners, der beim 48. Regiment eingezogen war; ihm hatte ich bei seinem Abgang gesagt, er solle mir schreiben, wenn er irgendwie in Not geriete; mir ständen in Berlin viele Mittel zu Gebot, und ich würde ihm gern helfen. Nun schrieb mir der brave Mensch: »Mir geht es, Gott sei Dank, ganz gut, und ich brauche die mir angebotene Hilfe nicht. Aber da unser junger Herr gefallen ist, weiß ich, daß gnädiges Fräulein tief trauern, und da wollte ich Ihnen sagen, daß es mir sehr leid tut.«
Dem Schmerz, den die Eltern empfanden, trug ja selbstverständlich jeder die wärmste Teilnahme zu, aber daß auch mir diese von so vielen Seiten ausgesprochen wurde, zeigt, wie ich zu dem Schönrader Hause stand und wie man wußte, daß jeder Kummer, der einen von uns traf, von dem anderen mitgetragen wurde.
Für die Weihnachtstage hatte ich meine Arbeit in den Berliner Kriegsbaracken einer anderen Dame übergeben und war nach Schönrade gereist. Verwirrt durch den Schmerz und die vielen Vorbereitungen, die meine Abwesenheit im Lazarett nötig machten, hatte ich über meine Ankunft undeutlich geschrieben.[166] Als ich nun nach ermüdender Nachtfahrt früh morgens 5 Uhr auf der Station Friedeberg eintraf, fand ich keinen Wagen vor. Nach vieler Mühe, da noch fast alles im Schlaf war, erhielt ich ein Fuhrwerk: einen Einspänner vor einem offenen Gefährt; ein ausgestopfter Sack bildete den Sitz. Der Schnee lag hoch auf der weiten Fläche, der Mond schien hell, und es war bitter kalt. Ich kam, da ich für eine solche Fahrt, die über zwei Stunden währte, nicht ausgerüstet war fast erstarrt in Schönrade an. Der für den im Felde stehenden neueingetretene Diener kannte mich nicht und traute mir, als ich mit dem elenden Wägelchen ankam, nicht das Recht zu, unangemeldet einzudringen. Erst der hinzukommende Inspektor bewog ihn, mich einzulassen. Die Mutter fand ich noch im Bette, und nachdem wir miteinander geweint hatten, sagte sie mir: »Nun gehe nur zu meinem Mann hinein!« Er saß an seinem Schreibtisch, in Gedanken versunken, fiel mir um den Hals und rief: »Es war ja auch Ihr Junge!«
Das Weihnachtsfest sollte, das verlangte er, wie immer gefeiert werden. »Warum den Leuten die Freude stören; alle fühlen ja doch mit uns die Trauer, aber sie sollen auch wissen, was uns durch die Bedeutung des Festes dennoch bleibt.« So brannten dann die Weihnachtsbäume, so wurden, wenn auch unter Tränen, die Weihnachtslieder gesungen.
Die Eltern trugen den großen Schmerz mit wunderbarer Kraft, immer noch dankend für das Glück, ihren Ältesten so lange gehabt zu haben. Aber schon nach 2–3 Jahren folgten sie beide dem geliebten Sohne in die Ewigkeit. Die Beziehungen der Kinder zu Tante »Bechen« hörten indessen nicht[167] auf; als sich die sechs Geschwister nach und nach verheirateten, fehlte ich auf keiner der Hochzeiten.
Am nächsten stand mir später wohl Käthe, die älteste der Schwestern, die mit ihrem Manne, meinem Neffen und Paten, Graf Friedrich Bredow, in Charlottenburg wohnte, und deren Leben durch manches schwere Leid heimgesucht war. Der frühe Heimgang dieser Frau, nach langem, mit unendlicher Geduld und festem Gottvertrauen getragenen Leiden, legte mit dem bald folgenden Tode des Mannes die zwei Kinder mir ganz besonders ans Herz.[168]
1 Des Kriegsministers zweiter Sohn Bernhard war als Hauptmann und Batteriechef im Garde-Feldartillerieregiment bei Sedan gefallen.
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Erinnerungen aus dem Leben einer 95jährigen
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