In Braunschweig sollte nun meine Tätigkeit als politischer Parteimann beginnen. In Konstanz hatte ich eine Art politischer Lehrzeit durchgemacht. In Oberndorf und in Würzburg war für mich kein Parteileben vorhanden und in Nürnberg war ich Angestellter der bürgerlichen Demokratie und Gast der Sozialdemokratie gewesen. Erst in Braunschweig fühlte ich festen Boden unter den Füßen und konnte aus dem Vollen arbeiten.
Das Deutsche Reich bestand damals seit etwa einem Jahre. Lange Jahrhunderte hindurch hatte Deutschland, mit Lassalle zu reden, den »Marterpfahl des Föderalismus« in seinem Fleische gefühlt. Nun war die so lange und so glühend ersehnte Einheit endlich da. Nachdem 1848 und 1849 die Demokratie im Kampfe für ein großes und freies Deutschland unterlegen, hatte nunmehr ein verwegener und vom Glücke begünstigter Junker aus der Mark ein einiges Deutschland nach seiner Art hergestellt. Es war nicht die Einheit, welche 1848 der König von Preußen in der Angst verkündigt hatte mit den Worten: »Preußen geht fortan in Deutschland auf!« – Zwar wurde von den vielen Zeitgenossen, die 1848 und 1849 Demokraten und Republikaner gewesen und nunmehr der neuen Form des Reiches sich anzupassen bestrebt waren, unaufhörlich betont, die Ideale, für die unsere Väter zwei Jahrzehnte zuvor gestritten und gelitten, seien nunmehr »herrlich erfüllt«. Aber nicht wenige Deutsche standen der preußischen Hegemonie unversöhnlich gegenüber; viele konnten den Bruderkrieg von 1866 und den Ausschluß Österreichs nicht vergessen und wieder andere sahen mit Recht in der gewaltsamen Annektion von Elsaß-Lothringen den Keim künftigen Unheils.
Jedoch der Triumph der Bismarckschen Blut- und Eisen-Politik, wie er sie selbst mit einem seiner »geflügelten Worte« bezeichnete, war ein vollständiger und überwältigender. Da Bismarck das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht mitgebracht hatte, galt er bei der ungeheuren Mehrheit des deutschen Bürgertums für einen liberalen Staatsmann. Manche hielten ihn sogar für einen heimlichen Republikaner, in welcher groben Täuschung er sie durch gelegentliche Scherzworte bestärkte. Daß er schon damals das Ziel verfolgte, mit der Reichsgründung die in finanziellen Nöten versinkende Junkerklasse wieder empor zu bringen und sie schließlich zur Herrschaft in einem erweiterten Gebiete zu führen, wird begreiflicherweise von seinen Verehrern und Anhängern bestritten. Aber die Streitigkeiten mit der Junkerschaft, in die er im ersten Jahrzehnt des Reiches verwickelt wurde, scheinen uns nur zu beweisen, daß die Junker den Umweg nicht begriffen, den er machen mußte, um zu eben diesem Ziele zu gelangen.[111]
Das neue Reich war noch überwiegend Agrarstaat; die Industrie von damals befand sich gegenüber der heutigen noch in den Anfängen. Nun aber stand ihr der Weltmarkt offen und die neue Gesetzgebung brachte nach und nach Gewerbefreiheit. Freizügigkeit, Maß- und Münzeinheit und Schutz des Handels im Auslande. Dazu ergoß sich die goldene Flut der fünf Milliarden über Deutschland, welche Frankreich als Kriegsentschädigung zahlen mußte. Man hatte, wie es scheint, vergessen, daß es für diese Erscheinung eine historische Analogie gab, nämlich die Überschwemmung Spaniens mit Edelmetallen nach der Entdeckung Amerikas. Damals sank der Geldwert und die Preise der notwendigen Lebensmittel schnellten empor, worauf eine schwere wirtschaftliche Krisis folgte. In Deutschland kam es ähnlich. Das massenhaft disponibel werdende Kapital bewirkte erst einen mächtigen Aufschwung in Handel und Industrie, die Spekulation überschlug sich aber und wir gerieten in die Epoche des Gründungsschwindels hinein, der mit einem großen Krach endigte.
Unter diesen Umständen war es selbstverständlich, daß die nationalliberale Partei, deren Abgott Bismarck geworden war, weitaus die stärkste im Reiche bildete. In ihr vereinigte sich die industrielle und kommerzielle Bourgeoisie. Bismarck wußte diese Partei zu benutzen. Er gelangte mit ihr zu einer Verständigung. Auf wirtschaftlichem Gebiete ließ er dieser liberalen Bourgeoisie freie Bahn, um ihr Kapital gewinn reich werben lassen zu können; dagegen versprachen die Nationalliberalen, seine politischen Zirkel nicht zu stören. So gelang es Bismarck, nachdem er die unvermeidlichen Konzessionen gemacht, noch verschiedene aus dem Geist des alten Bundestages geborene Institutionen in das neue Reich herüber zu retten und namentlich für das allgemeine Wahlrecht ein Korrektiv zu schaffen, indem er für den Reichstag keine Diäten zuließ und dem Bundesrat die Befugnis verlieh, positive Beschlüsse des Reichstages zu kassieren.
Den Tatendrang der Nationalliberalen, die es im Reichstag 1871 auf 119 und 1874 auf 155 Mandate brachten, beschäftigte Bismarck mit dem sogenannten Kulturkampf. Es hatte sich damals eine »katholische« Fraktion von 57 Mitgliedern gebildet, die sich das Zentrum nannte. Hier fanden sich auch partikularistische und halbdemokratische Elemente ein; der Führer wurde der welfisch gesinnte Windthorst. Das Zentrum trat in entschiedene Opposition gegen Bismarcks Politik. Als sich auch die von Bismarck stets gehaßten Polen dem Zentrum anschlossen, wurde der »Herkules des Jahrhunderts«, wie nationalliberale Schmeichelei den ersten Reichskanzler nannte, so erbittert, daß er sich entschloß, den Ultramontanismus nebst seinen partikularistischen und polnischen Anhängseln mit Ausnahmegesetzen zu bekämpfen, die sich gegen die katholische Priesterschaft richteten. Der kurzsichtige Liberalismus sah in dieser Polizeiaktion einen wirklichen Freiheitskampf, während tatsächlich umgekehrt der an sich so reaktionäre Ultramontanismus in den Kampf für politische und bürgerliche Freiheit gedrängt wurde. Die ganze Aktion endete mit einem großen[112] Mißerfolge Bismarcks und das Zentrum gelangte auf diesem Wege zu der Machtstellung im Reiche, die es heute noch inne hat.
Die alte Fortschrittspartei, die in den sechziger Jahren im preußischen Abgeordnetenhause mit Bismarck den großen Konflikt ausgefochten und vergeblich gegen den Militarismus und für eine parlamentarische Regierung in Preußen gekämpft hatte, war auf eine kleine Fraktion zusammengeschmolzen. Von ihren Führern waren viele zu den Nationalliberalen übergegangen, darunter verschiedene Revolutionäre von 1848. Noch schlimmer erging es den Junkern und Junkergenossen, die in der Reaktion der fünfziger Jahre so arg getobt hatten. 1874 gab es im Reichstag 22 Deutsch- und 33 Freikonservative. Die Konservativen hatten damals das Pech, daß einige ihrer Führer, namentlich der »Sozialdemagoge« Hermann Wagener, der einst Bismarcks rechte Hand gewesen, von dem geschwätzigen nationalliberalen Abgeordneten Lasker vernichtend gebrandmarkt wurden, weil sie sich an unsoliden Gründungen beteiligt hatten. Zwar gab es liberale Politiker, die ähnliche und vielleicht auch größere Sünden auf dem Kerbholz hatten. Aber das Geschrei der pilzartig emporgeschossenen und mächtigen liberalen Presse erstickte alle Anklagen von der Gegenseite und das Odium der Gründerzeit blieb vorwiegend an den Konservativen haften. Die Hochgefühle der nationalliberalen Partei schwollen unbegrenzt an und je mehr sie sich selbst vor Bismarck demütigte, desto brutaler trat sie gegen die sogenannten Reichsfeinde auf. Unter Reichsfeinden verstand man damals alle, die nicht mit Bismarcks Politik durch dick und dünn gehen wollten.
Während die deutsche Bourgeoisie solchergestalt den Sieg über Frankreich »fruktfizierte«, ward auch die Arbeiterklasse durch die Nachwirkungen der großen Katastrophe in neue Strömungen hineingerissen. Die Milliardenflut hatte zwar viel neue Arbeitsgelegenheit geschaffen, aber sie hatte auch die unentbehrlichen Lebensmittel enorm verteuert. Daß die Arbeiter die starke Nachfrage nach Arbeitskräften benutzten, um die Löhne zu steigern, verstand sich von selbst. Eine große Streikbewegung entstand plötzlich im neuen Reich. Einem großen Teil der Arbeiter gelang es, höhere Löhne zu erzielen; ein weit größerer Teil erreichte nur einen besseren Ausgleich zwischen Arbeitslöhnen und Lebensmittelpreisen und der weitaus größte Teil erreichte mit den Streiks nichts oder verschlimmerte seine Lage. Aber die bürgerliche Presse, namentlich die liberale, erfüllte die ganze politische Welt mit ihren Übertreibungen über die enormen Löhne und die üppigen Schlemmereien der Arbeiter. So entstand damals die Legende, nach welcher die Berliner Steinträger den Sekt aus großen Weißbiergläsern zu trinken pflegten. In Wahrheit litt die große Masse der Arbeiter schwer unter Wohnungsnot, hohen Mieten und hohen Lebensmittelpreisen.
Die verunglückten Streiks erweckten bei den Arbeitern den Trieb, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Die Ansätze zu solchen Organisationen wurden von der Unternehmerschaft und der Polizei gleich heftig[113] verfolgt. Ausgenommen blieben davon die katholischen Arbeitervereine und die von Max Hirsch und Franz Duncker begründeten Gewerkvereine. Beide verwarfen den Klassenkampf. Die Gewerkvereine waren eine sehr verschlechterte Nachahmung der englischen Trades unions und Max Hirsch predigte die Harmonie von Kapital und Arbeit.
Die Gewerkschaften, die sich als Kampforganisationen auftaten, wurden zu politischen Vereinen gestempelt und als sozialdemokratische Vereine von der Polizei und den Gerichten verfolgt, während die Unternehmerschaft ihnen mit Maßregelungen und schwarzen Listen zu Leibe ging. Obschon die Gewerbeordnung ausdrücklich gestattet. Vereinigungen zum Zweck der Erzielung besserer Arbeitsbedingungen zu bilden, wurde doch jeder Streik als ein sozialdemokratischer »Angriff auf die Gesellschaftsordnung« denunziert. Die Sozialdemokratie hat die Streitlust an sich nicht gefördert, aber sie hat jederzeit die Berechtigung des Kampfes um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen nachgewiesen. Sie nahm deshalb nach dem Kriege einen neuen Aufschwung, nachdem die Arbeiter endlich erkannt hatten, daß sie sich auf die bürgerlichen Parteien bei ihren Ausständen und Lohnbewegungen nicht verlassen konnten.
Damals befand sich die sozialdemokratische Bewegung in Deutschland noch in den Anfängen und war doppelt in sich gespalten. Die Masse der sozialdemokratisch gesinnten deutschen Arbeiter stand noch unter dem Eindruck der mächtigen Persönlichkeit Lassalles, der neun Jahre zuvor seine stürmische und kurze Laufbahn als sozialdemokratischer Agitator begonnen hatte. In den sozialistischen Kreisen sprach man noch alle Tage von ihm.1
Wer der »eigentliche« Begründer der Sozialdemokratie in Deutschland gewesen, das ist eine müssige Frage. Vor 1848 begegnete man dem Sozialismus in Deutschland nur auf literarischem Gebiet. Im Auslande entstanden verschiedene von Flüchtlingen gebildete Verbindungen, unter denen der Bund der Gerechten in London unter dem Einflusse von Marx und Engels sich in den Bund der Kommunisten verwandelte. Dieser nahm 1847 das Kommunistische Manifest zur Grundlage seiner Propaganda. Die damaligen Sozialdemokraten nannten sich Kommunisten zum Unterschied von den bürgerlichen, feudalen und utopistischen Spielarten des Sozialismus von damals. Der Spießbürger verwechselte gleich von vornherein den Kommunismus, der die Gemeinsamkeit der Produktionsmittel bedeutet, mit »allgemeiner Teilerei« und hält an diesem Unsinn heute noch hartnäckig fest.
Der Londoner Kommunistenbund war die erste internationale Arbeiterverbindung. Von deren führenden Geistern. Karl Marx und Friedrich Engels, wurde die bürgerliche Revolution von 1848 kräftig[114] unterstützt, obwohl sie bereits über diese in Deutschland historisch etwas spät gekommene Umwälzung hinaus und die große soziale Bewegung der Zukunft kommen sahen. Die nach Deutschland gekommenen Mitglieder des Kommunistenbundes schlossen sich den demokratischen Vereinigungen an, um dort für ihre Grundsätze Propaganda zu machen und die ganze Bewegung vorwärts zu treiben; Marx und Engels begründeten in Köln die berühmte »Neue Rheinische Zeitung«, das weithin leuchtende Banner der sozialen Demokratie, und eröffneten eine lebhafte Propaganda unter den rheinischen Arbeitern, an der sich auch der junge Lassalle beteiligte. Dieser war damals aber zumeist von der Hatzfeldt-Affäre in Anspruch genommen. Zugleich begründeten der Schriftsetzer Stephan Born, der berühmte Naturforscher Nees von Esenbeck und der Goldarbeiter Bisky, ein Berliner Barrikadenkämpfer vom 18. März 1848, auf dem im Sommer 1848 zusammengetretenen Berliner Arbeiterkongreß eine über ganz Deutschland sich erstreckende sozialdemokratische Organisation, die Arbeiterverbrüderung. Es begann eine lebhafte Agitation und es fanden Arbeiterkongresse in Sachsen, Bayern, Baden,[115] Thüringen und Hamburg statt. Die Berliner Richtung und die Kölner Richtung sollten auf einem nach Leipzig für den Sommer 1849 anberaumten großen Arbeiterkongreß verschmolzen werden. Inzwischen aber brachen in Deutschland die Aufstände für die Frankfurter Reichsverfassung aus, bei denen die Sozialdemokratie überall mitkämpfte. Die nach der Niederlage eintretende reaktionäre Hochflut verschlang auch die Arbeiterorganisationen, die zudem nachher vom Bundestag noch ausdrücklich verboten wurden. Nachdem 1852 die Verurteilten des großen Kölner Kommunistenprozesses hinter den Kerkermauern verschwunden waren, blieb es in Deutschland beinahe ein Jahrzehnt still, was die Sozialdemokratie betraf. Marx und Engels waren wieder nach England gegangen; Lassalle hatte sich wissenschaftlichen Arbeiten gewidmet, von denen das »System der erworbenen Rechte« und »Heraklit der Dunkle« seinen Namen in der gelehrten Welt berühmt machten.
1862 wurde es unter den deutschen Arbeitern wieder lebendig. Sie hatten durch die Londoner Weltausstellung neue Anregungen bekommen und in Leipzig bildete sich ein Komitee zur Einberufung eines großen Arbeiterkongresses, auf dem über Arbeiterversicherung, Freizügigkeit und Genossenschaftswesen verhandelt werden sollte. Um diese Zeit brach auch in Preußen der Kampf der Fortschrittspartei um die parlamentarische Regierung aus. Die kleinbürgerliche »Selbsthilfe« des zu dieser Partei gehörenden Schulze-Delitzsch genügte den fortgeschrittenen Arbeitern nicht. Das Leipziger Komitee, in dem sich auch Fritzsche, ein Barrikadenkämpfer von Dresden 1849, und Vahlteich, beide überzeugte Sozialdemokraten, befanden, frug zunächst bei der Fortschrittspartei an, wie sich diese zum allgemeinen Wahlrecht stelle. Die Antwort befriedigte das Komitee nicht und es wendete sich an Lassalle, welcher durch seinen vor Berliner Arbeitern gehaltenen glänzenden Vortrag: »Über den Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes« Aufsehen erregt hatte. Zudem hatte Lassalle die Taktik der Fortschrittspartei scharf getadelt. Lassalle richtete an das Komitee sein »Offenes Antwortschreiben«, in welchem er der »Selbsthilfe« von Schulze-Delitzsch zwei Forderungen gegenüberstellte:
Allgemeines Wahlrecht und Staatskredit für Produktivgenossenschaften.
Das sogenannte eherne Lohngesetz sollte die Notwendigkeit des Staatskredits begründen und mit dem allgemeinen Wahlrecht sollte er errungen werden. Das eherne Lohngesetz2 und die Produktiv-Assoziationen mit Staatskredit sind heute kritisch überwunden; die Höhe des Arbeitslohnes wird nicht nach einem »ehernen« Lohngesetz reguliert; sondern ist abhängig von der Stärke der »industriellen Reservearmee«, mittelst welcher bewirkt werden kann, daß das Angebot von Arbeitskräften die Nachfrage erschöpft[116] oder übersteigt. Aber die geistvolle und hinreißende Art wie Lassalle, der sich übrigens als Schüler von Marx bezeichnete, seine Theorie vortrug, verschaffte ihm viele Anhänger. Er begründete den Allgemeinen deutschen Arbeiterverein, dessen Präsident er wurde, dessen Mitgliederzahl aber seinen Erwartungen nicht entfernt entsprach. Auch die weiteren Erfolge der Lassalleschen Agitation waren nicht gerade ermutigend. Aber es war eine neue Epoche für die sozialistische Bewegung eingeleitet, die immerhin vorwärts ging. Lassalle forderte vom Staate hundert Millionen Taler für die von den Arbeitern zu gründenden Produktivassoziationen, die den Kristallisationskern für die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft zu einer sozialistischen bilden sollten. Die bürgerliche Presse richtete die heftigsten Angriffe gegen Lassalle. Dieser antwortete darauf, indem er die mit dem neuen Ministerium Bismarck in scharfen Konflikt stehende Fortschrittspartei angriff, was zur Folge hatte, daß nun Lassalle als ein Verbündeter der feudal-konservativen Reaktion dargestellt wurde. Dies fand um so mehr Anklang, als Lassalle mit Bismarck in persönlichem Verkehr stand, der auf die künftige Einführung des allgemeinen Wahlrechts nicht ohne Einfluß gewesen ist. Auch rief Lassalle Bismarck um sein Einschreiten gegen ihn bedrängende fortschrittliche Behörden an. Von den Gerichten unaufhörlich mit Kriminalprozessen verfolgt, schien er schließlich bei einem »sozialen Königtum« die Erfüllung seiner Forderungen zu suchen. Er fiel 1864 in einem Duell, das eine Folge seiner Liebesaffäre mit Helene von Dönniges war. Wie ein strahlendes Meteor war er vorübergegangen.
Ungefähr um dieselbe Zeit, da Lassalle starb, wurde in London von einem Komitee von Sozialisten aller Länder die Internationale Arbeiter-Assoziation gegründet, deren leitender Geist Karl Marx war. Er hatte die von der neuen Verbindung beschlossene Inaugural-Adresse sowie die Statuten verfaßt und saß mit Friedrich Engels im Generalrat. Sein berühmtes Hauptwerk, »Das Kapital«, erschien indessen erst 1867. Die Internationale stützte sich zuerst im wesentlichen auf die englischen Arbeiterorganisationen und breitete sich in Europa erst nach und nach aus. In Deutschland hatte sie wenig direkte Mitglieder, aber sie hat den Sozialismus in Deutschland wie in der ganzen Kulturwelt während der kurzen Zeit ihres Bestehens mächtig gefördert. Von der europäischen Polizei wurde die Internationale lächerlicherweise als eine der vielen geheimen Flüchtlingsverschwörungen behandelt, während doch ihre Propaganda eine öffentliche war. Spitzelberichte umgaben die Internationale mit geheimnisvollen Legenden. Man hatte vergessen, daß Marx und Engels schon im Jahre 1856 die bürgerliche Revolution, als eine Wirkung der vorhergegangenen ökonomischen Krise, für beendet und ihre Wiederkehr in der nachfolgenden Zeit der Prosperität für ausgeschlossen erklärt hatten.
Lassalle hatte zu seinem Nachfolger testamentarisch den Schriftsteller Bernhard Becker – ich sollte diese Persönlichkeit nachher in Braunschweig[117] näher kennen lernen – empfohlen und dieser wurde auch zum Präsidenten des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins gewählt. Aber er war seiner Aufgabe nicht gewachsen und die Leitung des Vereins ging nach vielen Zänkereien an den glänzend begabten Frankfurter Advokaten und Schriftsteller Jean Baptist von Schweitzer über. Dieser rief ein täglich erscheinendes Organ ins Leben, den »Sozialdemokrat«. Als Mitarbeiter wurden Marx, Engels, Liebknecht, Herwegh, Rüstow, Wuttke und andere angekündigt. Aber sie traten zurück, als Schweitzer seine Auffassung von der revolutionären Lösung der deutschen Frage kundgab. »Preußische Bajonette oder Arbeiterfäuste – wir sehen kein drittes«, schrieb er. Durch diese Alternative und da die »Arbeiterfäuste« um diese Zeit nicht in der Lage waren, die deutsche Frage zu lösen, geriet Schweitzer in den Verdacht, ein heimlicher Verbündeter der Bismarckschen Politik zu sein. Dieser Verdacht wurde dadurch bestärkt, daß Schweitzer mit den konservativen und feudalen Elementen stark kokettierte, während er die bürgerliche Demokratie angriff.
Aber der Allgemeine deutsche Arbeiterverein konnte durch Schweitzer nicht vor einer Spaltung bewahrt werden. Die Gräfin Sophie von Hatzfeldt, Lassalles Freundin, welcher er die Scheidung von einem verächtlichen Manne und die Rückgabe ihres Vermögens erkämpft hatte, wollte das von Lassalle begonnene Werk in ihrer Weise fortsetzen.3 Sie hatte mit der Leiche Lassalles einen abstoßend wirkenden Kultus getrieben.4 Obwohl Schweitzer im Geiste Lassalles zu wirken glaubte, war er der Gräfin nicht »Lassalleaner« genug und diese gründete daher einen besonderen Verein, dem man spottweise den Namen »die weibliche Linie« gab.
Dagegen suchten die Anhänger der Internationalen Arbeiterassoziation in Deutschland die Arbeiter für den Sozialismus in Verbindung mit einer radikal-demokratischen Politik zu gewinnen. Sie verständigten sich mit einigen radikalen Elementen der bürgerlichen Demokratie und trugen die sozialistischen Ideen in den Verband deutscher Arbeitervereine, welche ursprünglich dem Lassalleanismus entgegen wirken sollten. Namentlich Liebknecht und Bebel – der letztere war zuerst ein entschiedener Gegner Lassalles – waren in diesem Sinne tätig. Diese Richtung hatte ein Organ, das von Liebknecht redigierte »Demokratische Wochenblatt« in Leipzig, während der weiblichen Linie der Lassalleaner die »Freie Zeitung« als Organ diente. Die drei Richtungen bekämpften sich heftig untereinander. 1868 schloß sich auf dem Kongreß zu Nürnberg der Verband deutscher Arbeitervereine in seiner überwiegenden Mehrheit der Internationalen Arbeiterassoziation an und dies zog eine abermalige[118] Spaltung des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins nach sich. Eine Anzahl seiner besten Mitglieder traten aus und begründeten 1869 auf dem Eisenacher Kongreß die sozialdemokratische Arbeiterpartei, deren Organ das »Demokratische Wochenblatt« mit dem Titel »Der Volksstaat« wurde. Diese neue Partei betrachtete sich als Zweig der Internationalen Arbeiterassoziation und gab sich im Gegensatze zum Allgemeinen deutschen Arbeiterverein eine demokratische Organisation, aber das Eisenacher Programm machte dem Lassalleanismus die Konzession, daß es als einzige sozialistische Forderung die Produktiv-Assoziationen mit Staatshilfe beibehielt. Der »Volksstaat« war zugleich Organ der »internationalen Gewerksgenossenschaften«, die aber sehr schwach waren, da die Lassalleaner besondere Gewerkschaften gegründet hatten. Die ganze gewerkschaftliche Bewegung litt an traurigster Zersplitterung.
Sonach gab es in Deutschland drei sich bekämpfende sozialistische Richtungen und eine Zeitlang waren es sogar vier, da in Bayern eine Anzahl Mitgliedschaften des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins sich von diesem[119] trennten und unter der Führung von Tauscher eine selbständige Gruppe bildeten, deren Organ »Der Proletarier« war. Doch schloß sich diese Gruppe bald der in Eisenach gegründeten sozialdemokratischen Arbeiterpartei, gewöhnlich kurz die »Eisenacher« genannt, an.
Die drei Richtungen führten zwar energisch den Kampf gegen den Kapitalismus und die Ausbeutung der Massen, aber sie feindeten sich untereinander auf dem politischen Gebiet auf das heftigste an. Die radikalrepublikanische und auf dem Boden des Kommunistischen Manifestes stehende Eisenacher Richtung mußte mit dem Lassalleanismus, obschon sie ihm wegen der zu ihr übergetretenen ehemaligen Anhänger Lassalles noch zu Eisenach Konzessionen gemacht, hart zusammenstoßen. Namentlich Schweitzer und Liebknecht boten alle Künste einer rücksichtslosen Polemik gegeneinander auf. Von Schweitzer wurden die »Eisenacher« spöttisch als die »Ehrlichen« und als Anhänger oder auch als Söldlinge der radikalen Bourgeoisie bezeichnet. Dagegen wurde Schweitzer im »Volksstaat« als ein Agent der preußischen Regierung und als Polizeispion hingestellt.
Nachdem der Kriegssturm von 1876–71 verrauscht, traten in der sozialistischen Bewegung bedeutsame Veränderungen ein. Die »weibliche Linie« der Lassalleaner löste sich auf und die Mitglieder schlossen sich den anderen Fraktionen an. Herr von Schweitzer, der wegen seines diktatorischen Auftretens das Vertrauen der Mitglieder des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins verloren hatte, legte sein Amt als Präsident nieder und ward bald darauf als preußischer Regierungsagent5 aus dem Verein ausgeschlossen. An seine Stelle trat Wilhelm Hasenclever. Der Allgemeine deutsche Arbeiterverein nahm einen raschen Aufschwung; die »Eisenacher« gewannen langsamer Boden. Dem Norddeutschen Reichstage hatten verschiedene Sozialdemokraten, Schweitzer, Liebknecht, Bebel, Mende, Försterling, Fritzsche, Hasenclever und Reinke angehört; bei den Reichstagswahlen von 1871 wurde nur Bebel in Glauchau-Meerane gewählt. Nunmehr fanden auch die großen Prozesse gegen die sozialdemokratische Arbeiterpartei statt, die durch deren Haltung während des Krieges veranlaßt waren. Der Braunschweiger Ausschuß der sozialdemokratischen Arbeiterpartei hatte nach der Schlacht von Sedan ein Manifest veröffentlicht, in dem der Friedensschluß verlangt und gegen die gewaltsame Annektion von Elsaß-Lothringen Protest erhoben worden war. Dem Manifest war ein Brief von Karl Marx angefügt, in dem es hieß, ein ehrenvoller Friede mit Frankreich werde den Einfluß des russischen Zarentums schwächen und Deutsch land eine freiheitliche Entwicklung ermöglichen; die Annektion der beiden Provinzen aber werde eine französisch-russische Allianz bringen und die Völker unter das Joch des Militarismus beugen. Die Geschichte der letzten vierzig Jahre hat diesen scharfsinnigen Ausblick von damals vollauf bestätigt. Aber der General Vogel von Falckenstein, der in dem unter dem[120] Belagerungszustand stehenden Teil von Norddeutschland kommandierte, ließ den Braunschweiger Ausschuß sowie einige andere Sozialdemokraten verhaften und in Ketten nach Lötzen an der russischen Grenze abführen. Auch Dr. Johann Jacoby wurde wegen seines Protestes gegen die Annektion in Lötzen interniert. Nach dem Kriege wurde dem Braunschweiger Ausschuß der Prozeß gemacht. Die Strafe fiel aber in letzter Instanz so gering aus, daß sie einer Freisprechung gleichkam. Vogel von Falckenstein wurde sogar zu einer Entschädigung verurteilt.
Dieser Prozeß machte ein gewaltiges Aufsehen; noch mehr aber lenkte der Leipziger Hochverratsprozeß die Aufmerksamkeit der ganzen politischen Welt auf die Sozialdemokratie. Bebel und Liebknecht wurden nach 16tägiger Verhandlung wegen »Vorbereitung zum Hochverrat« zu je zwei Jahren Festungshaft verurteilt. Aber diese Affäre gewann der Sozialdemokratie neue Sympathien; zahlreiche Beitrittserklärungen erfolgten, darunter die des berühmten Johann Jacoby zu Königsberg.
Inzwischen hatte sich auch in der Internationalen Arbeiterassoziation eine Krisis abgespielt. Mit der Niederlage der Pariser Kommune war der Internationale ein schwerer Schlag versetzt worden, da viele ihrer Mitglieder bei der Erhebung von Paris mitgewirkt hatten. Nun war ihr das Gebiet Frankreichs verschlossen. Zugleich war unter Leitung Bakunins der Anarchismus in der Internationale so mächtig geworden, daß eine entscheidende Auseinandersetzung unvermeidlich wurde. Auf dem Kongreß im Haag, zu Anfang des Jahres 1872, wurde Bakunin aus der Internationale ausgeschlossen, aber deren Leitung nach Neuyork verlegt. Damit war die Wirksamkeit dieser großen und gefürchteten Verbindung vorläufig zu Ende.
Unter dem Eindruck all dieser Ereignisse begann ich meine Tätigkeit in der sozialdemokratischen Arbeiterpartei.[121]
1 Seine glänzenden Agitationsschriften hauchten auch mir eine glühende Begeisterung ein. Was seine Persönlichkeit betraf, so zeigte sie neben wahrhaft bewunderungswürdigen Eigenschaften auch manche Schattenseiten, die von allen persönlich mit ihm bekannten Sozialisten, etliche Schwarmgeister ausgenommen, stets betont wurden. Wir mißfiel besonders sein frivoles Wort: »Ich liebe nur verheiratete Frauen.«
2 Das von bürgerlichen Nationalökonomen vorher schon aufgestellte »eherne« Lohngesetz besagt, daß unter der Herrschaft von Angebot von und Nachfrage nach Arbeit der durchschnittliche Arbeitslohn immer auf den notwendigen Lebensunterhalt reduziert bleibt, der in einem Volke gewohnheitsmäßig zur Fristung der Existenz und zur Fortpflanzung erforderlich ist.
3 Ihr Sohn Paul, der spätere deutsche Gesandte in London, war in seinen jungen Jahren begeisterter Anhänger der Sozialdemokratie.
4 Zur Mutter Lassalles, die ihr dessen Leichnam streitig machte, sagte sie: »Sie sind eine Gans, die einen Adler ausgebrütet hat.«
5 Ein schlüssiger Beweis dafür, daß Schweitzer Regierungs- oder Polizeiagent gewesen ist nicht erbracht worden.
Buchempfehlung
Der historische Roman aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges erzählt die Geschichte des protestantischen Pastors Jürg Jenatsch, der sich gegen die Spanier erhebt und nach dem Mord an seiner Frau von Hass und Rache getrieben Oberst des Heeres wird.
188 Seiten, 6.40 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.
432 Seiten, 19.80 Euro