Der Volksstaat

Meine Berufung an den »Volksstaat« war hauptsächlich von August Geib und Theodor Yorck, den einflußreichsten Mitgliedern des Ausschusses der sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Hamburg, betrieben und durchgesetzt worden. Vor meiner Abreise nach Leipzig erhielt ich von Yorck eine genaue Instruktion in bezug auf meine künftige Tätigkeit.

Der von Hasenclever und Hasselmann redigierte »Neue Sozialdemokrat«, das Organ des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins, hatte es zu einer Auflage von 20,000 Exemplaren gebracht, während der »Volksstaat« nur etwa 6000 Abonnenten zählte, unter denen sich viele schlechte und säumige Zahler befanden. An wissenschaftlichem Inhalt war der »Volksstaat«, dem die Federn von Marx und Engels zur Verfügung standen, dem »Neuen Sozialdemokrat« weit überlegen. Der Hamburger Ausschuß meinte nun, der »Neue Sozialdemokrat« verdanke seine größere Verbreitung den populär geschriebenen und agitatorisch äußerst wirksamen Leitartikeln Hasselmanns, während dem »Volksstaat« die Überfülle wissenschaftlicher Abhandlungen, namentlich die langen Besprechungen von den Parteigenossen nie gelesener wissenschaftlicher Werke, den Weg zu der Masse der Arbeiter erschwere. Es mochte etwas daran sein, obwohl in der Hauptsache der »Neue Sozialdemokrat« seine größere Verbreitung der stärkeren und strafferen Organisation des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins verdankte, während die demokratische Organisation der Eisenacher sozialdemokratischen Arbeiterpartei naturgemäß eine mehr lockere bleiben mußte. Indessen hatten einige Parteigenossen von meiner Instruktion etwas läuten hören und eine Klatscherei gemacht, die bewirkte, daß ich von Liebknecht aus Hubertusburg einen aufgeregten Brief erhielt, in dem es hieß: »Der »Volksstaat« darf um keinen Preis seinen wissenschaftlichen Charakter verlieren.« – Ich konnte ihn darüber beruhigen, denn es handelte sich nur darum, neben den wissenschaftlichen Artikeln auch populäre zu bringen, wie ich solche öfter im »Braunschweiger Volksfreund« gebracht und damit die Aufmerksamkeit des Hamburger Ausschusses auf mich gelenkt hatte.

Schon kurz vor meiner Abreise nach Leipzig stieß ich auf eine Intrige, denn es kam ein Telegramm, von dem verantwortlichen Redakteur des »Volkstaat« gezeichnet, welcher auch hier für andere verantwortlich war. Das Telegramm besagte einfach: »Blos nicht kommen!« Der Ausschuß, an den ich mich wendete, erteilte sehr ärgerlich mir die gemessene Weisung, meine Stellung in Leipzig anzutreten. Als ich ankam, fand ich, daß einige Leute einen anderen Parteigenossen an meine Stelle bringen wollten. Diesen aber wollte der Ausschuß gerade nicht. Es war mir daher nicht allzu schwer, mich durchzusetzen.[145]

In der Redaktion fand ich nur einen invaliden Schriftsetzer vor, der das Blatt verantwortlich zeichnete und die einlaufenden Korrespondenzen korrigieren half. Liebknechts Mitredakteur Hepner, den im Leipziger Hochverratsprozeß das Schwurgericht freisprach, war aus Leipzig ausgewiesen worden, weil er sich entgegen dem vom Leipziger Polizeidirektor Rüder ergangenen Verbot am Kongreß der Internationale im Haag beteiligt hatte. Dieser Rüder war einst Demokrat gewesen und hatte mit Robert Blum zusammen die »Sächsischen Vaterlandsblätter« 1848 redigiert. Auf Hepner hatte er es besonders abgesehen, weil dieser ihn persönlich angegriffen hatte. Hepner wollte sich in der Umgebung von Leipzig aufhalten, wurde aber aus den einzelnen Bezirken nacheinander von dem Polizeigewaltigen in Leipzig vertrieben, bis er Sachsen verlassen mußte. In Sachsen konnte nämlich jede bestrafte Person auf ein Jahr von ihrem Wohnsitze ausgewiesen werden und Hepner war wegen Preßvergehens bestraft.

Außer Marx, Engels, dem alten Revolutionär Borkheim,1 dem alten Johann Philipp Becker2 und anderen3 waren meine Hauptmitarbeiter Liebknecht und Bebel, die um diese Zeit zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt, auf Schloß Hubertusburg saßen. Ihre Mitarbeiterschaft wurde auf folgende Weise ermöglicht. Der Direktor der Strafanstalt Hubertusburg hatte den beiden Gefangenen das Zugeständnis gemacht, daß die Briefe, die sie an ihre Frauen schrieben, der sonst üblichen Durchsicht durch die Direktion nicht unterworfen wurden. Die Briefe begannen gewöhnlich mit Familienangelegenheiten und gingen dann in politische Besprechungen über. Diese wurden dann von mir für den »Volksstaat« zurecht gemacht. Liebknecht schrieb wöchentlich drei- bis viermal, Bebel seltener. Da beide sich wenig um Preß- und Strafgesetze kümmerten, mußte ich vielfach Änderungen vornehmen. Aus Liebknechts Artikeln habe ich wohl mehr als hundert Majestätsbeleidigungen herausgestrichen. Diese gehörten zu seinen Lieblingsstücken, aber sie wurden damals gerade mit besonderer Schärfe verfolgt.

So war das tatsächliche Redaktionsverhältnis, was ich ausdrücklich hier feststelle, da einige Unberufene bemüht gewesen sind, es in falschem Licht erscheinen zu lassen.

Ich ging mit Feuereifer an die Arbeit, schrieb zahlreiche Artikel für den »Volksstaat«, führte eine ausgedehnte Korrespondenz und trat häufig als Redner in Versammlungen sowohl in Leipzig selbst als in der Umgegend auf. Dabei fand ich immer noch Zeit, mich geselligen und freundschaftlichen Beziehungen widmen.[146]

Mehrmals in der Woche mußte ich in den Familien Bebels und Liebknechts vorsprechen, um mir die in die Familienbriefe eingeflochtenen Artikel der beiden gefangenen »Hochverräter« zu holen. In beiden Familien fühlte ich mich bald heimisch. Frau Bebel führte damals das Drechslergeschäft ihres Mannes mit den Gesellen weiter; an Sorgen fehlte es ihr nicht. Aber sie war stets freundlich und liebenswürdig und ihre große Herzensgüte leuchtete aus allem hervor, was sie tat und was sie sprach. Die Trennung von ihrem Manne dauerte zwei Jahre und neun Monate, ein Schicksal, das sie schwer, aber äußerlich ungebeugt trug. Ich hatte das Glück, der vortrefflichen Frau einen Dienst zu leisten. Ihre kleine Tochter rüttelte einst an einem schweren alten Schrank, der sehr wackelig war; der Schrank wäre umgefallen und hätte das Kind erschlagen oder mindestens schwer verletzt; wenn ich, der daneben stand, nicht den Schrank im letzten Moment mit äußerster Kraftanstrengung so lange gehalten hätte, bis die Gesellen herbeikamen. Frau Bebel hat mir das nie vergessen und nachher oft davon gesprochen.

Bei der Familie Liebknecht erschien ich am häufigsten. Frau Liebknecht war eine Tochter des angesehenen Darmstädter Rechtsanwalts Reh, der einst Vizepräsident des Frankfurter Parlaments gewesen. Ich fand hier ein um so freundlicheres Entgegenkommen, als, wie schon erwähnt; Frau Liebknecht mit meinem Onkel Schmezer in Ziegelhausen bekannt und als junges Mädchen im Pfarrhause zu Besuch gewesen war. Sie war eine Frau von Geist und vortrefflicher Bildung und wußte ihren Haushalt gastlich zu führen, obschon auch ihr die Sorgen nicht ferne blieben. Es waren vier Kinder da, zwei Töchter aus Liebknechts erster Ehe und zwei Söhne aus der zweiten, zu denen später noch drei kamen. Die Unterhaltung mit Frau Liebknecht wurde mir ein Genuß und ein Bedürfnis. Ihr war es eine besondere Freude, wenn ich mit den Jungen im Hof oder in dem Gärtchen vor dem Hause spielte und tollte und sie süddeutsche Spiele lehrte, die ihnen unbekannt waren.

Unter den Parteigenossen fand damals durchweg ein freundschaftlicher und herzlicher Verkehr statt, fast wie wenn alle einer großen Familie angehörten. Das war natürlich nur möglich, solange die Partei eine engbegrenzte Gemeine bildete. Als sie nachher in die Hunderttausende ging, konnten sich die einzelnen Mitglieder nicht mehr so nahe stehen wie früher.

Sammelpunkt für die Parteigenossen war der alte Leipziger Arbeiterbildungsverein, den seinerzeit die bürgerlichen Demokraten Roßmäßler,4 Götz und Dolge gegründet hatten. Dieser Verein, dem Bebel seit 1860 angehörte, wurde später für die Sozialdemokratie gewonnen. Auch Liebknecht lehrte dort. Der Verein verfolgte im wesentlichen Unterrichtszwecke. Nach den Unterrichtsstunden fanden sich die Parteigenossen in dem gemütlichen[147] Lokal des Kastellans, des alten Hadlich, zusammen. Dort habe ich manchen Abend fröhlich mit den aufgeweckten Arbeitern verbracht, welche das Gros des Vereins bildeten.

Zu gleicher Zeit erhielt ich die Aufforderung, dem seinerzeit von Robert Blum gegründeten Schriftstellerverein beizutreten, wo ich gesinnungsverwandte oder nahestehende Elemente finden sollte. Vorsitzender des Vereins war der bekannte Geschichtsprofessor Dr. Heinrich Wuttke, der einst dem Frankfurter Parlament angehört hatte und sich beim Auftreten Lassalles öffentlich für dessen Lehren – in der Theorie – erklärt hatte. Auch führte ihn nachher der Schweitzersche »Sozialdemokrat« unter seinen Mitarbeitern auf. Indessen vertrat Wuttke sonst großdeutsche Ideen, im Gegensatz zur Bismarckschen Politik. Für die Sozialdemokratie hatte er immer noch große Sympathien, denen er aber als königlich sächsischer Universitätsprofessor keinen allzu lauten Ausdruck mehr geben konnte, nachdem er von den Lassalleanern sich abgewendet und mit Liebknecht persönliche Beziehungen angeknüpft hatte. Es hatte ihn aber verstimmt, daß Liebknecht sich für die Pariser Kommune eingesetzt hatte. Auch gegen Lassalle hegte er einen kleinen Groll, weil dieser, wie Wuttke mir erzählte, bei einem Besuche dessen Zigarren nicht für gut genug befunden hatte. Er war insofern das Urbild eines deutschen Professors, als er zu jeder Jahreszeit einen Pelz trug und in seinem Landhause inmitten eines prächtigen Gartens auch am hellen Tage bei geschlossenen Laden und bei der Lampe arbeitete. Der kleine Mann mit den scharfgeschnittenen Zügen und mit dem dichten schwarzen Haar konnte sehr erregt werden, wenn man ihm widersprach; im ganzen war er seelensgut; er hat unter der Hand viele Dürftige unterstützt und mit seinen reichen Mitteln die Ausbildung talentvoller Söhne armer Familien gefördert. Seine Vorlesungen über die französische Revolution wurden viel bewundert. Er erzählte viel und gern vom Frankfurter Parlament und meinte, Herr von Radowitz sei der einzige Redner dort gewesen, der auch gegnerische Elemente mit sich habe fortreißen können.

Im Schriftstellerverein, zu dessen Versammlungen ich mich bald regelmäßig einfand, traf man eine merkwürdig zusammengesetzte Gesellschaft. Da war der alte Cramer, der an den von Robert Blum herausgegebenen »Sächsischen Vaterlandsblättern« gewirkt und an den Blum noch am Morgen vor seiner Hinrichtung einen Brief gerichtet hatte; dann Cramers Sohn Richard, als Dichter unter dem Namen Lavant weithin bekannt. Seine gedankenreichen und formvollendeten Dichtungen sind eine Zierde der sozialistischen Literatur. Hier und in der Familie Liebknecht traf ich mit Louis Cohn zusammen, dem Sprößling einer sehr wohlhabenden Leipziger Kaufmannsfamilie, den sein Idealismus in jungen Jahren zur Sozialdemokratie trieb, welcher er unter wechselnden Schicksalen treu geblieben ist. Unsere Freundschaft besteht bis heute. Er ist zurzeit Direktor des Verlages der »Münchener Post«. Von Parteigenossen fand sich noch der ehemalige Lehrer Haschert, ein[148] gemütlicher Sachse, ein. Unter den übrigen Persönlichkeiten, die im Schriftstellerverein erschienen, befanden sich recht sonderbare Leute. So kam regelmäßig ein schnurrbärtiger, schneidiger alter preußischer Hauptmann, der schon unter der Tür mit Donnerstimme rief: »Kellner, ein Glas Wasser!« alsdann Zucker und Zitrone aus der Tasche zog und sich eine Limonade machte. Der Oberkellner konnte diesen Gast nicht leiden; noch weniger aber einen jungen Philologen, der stets in einem langen, bis auf die Erde herabfallenden Mantel kam und nie etwas verzehrte. Da er diesen Mantel auch im Hochsommer nicht ablegte, forschte man der Sache nach und es stellte sich heraus, daß der Mann – keine Hosen trug, weil er keine besaß. Wuttke half dem Sanskulotten gutmütig mit einer alten Hofe aus.

Das Lokal erhielten wir von dem Wirt des Schützenhauses gratis, womit das Andenken an Robert Blum geehrt wurde. Der Oberkellner, der zur Zeit des berühmten Volksmanns schon in Leipzig tätig gewesen, trank sich häufig einen kleinen Rausch an und deklamierte dann sehr kräftige Verse aus dem »tollen Jahr«. Ein bei ihm sehr beliebtes Gedicht hieß: »Wer ist der größte Schweinehund?« und hatte den Refrain:


M – – –! tönt's von Mund zu Mund,

Ist Preußens größter Schweinehund!«


welche sinnige Dichtung ihre Wirkung nie verfehlte.

Hier gab es sehr lebhafte und interessante Unterhaltungen. Zugleich aber wurde ich zu einer damals in Sachsen sehr lebhaften Agitation herangezogen; ich hatte gelernt in Versammlungen zu sprechen, während ich früher nie geglaubt hatte, daß dies mir möglich sein würde. Das Versammlungswesen in Leipzig wurde sehr lebendig; wir hatten mit den Lassalleanern zu kämpfen, die immer wieder in Leipzig festen Fuß zu fassen versuchten; auf den Dörfern um die Stadt herum hatten wir uns mit den Sendboten der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine herumzuschlagen. Aber auch die »Harmonie-Apostel«, wie wir sie nannten, konnten dort keinen Boden gewinnen.

Ich wurde in verschiedene Städte als Redner berufen; nach Dresden, Leisnig, Chemnitz usw. Damals ging es noch patriarchalisch zu; als ich einst aus. Rochlitz eine Einladung zu einer Versammlung erhielt, fügte der Einberufer ein Postskriptum bei, des Inhalts: »Der Redner soll mir auch ein Pfund fettes Rindfleisch mitbringen!«

In Zwickau sprach ich zum ersten Mal vor Bergarbeitern, deren unter Tag blaß gewordene Gesichter einen tiefen Eindruck auf mich machten. Die Versammlung wurde von dem Bürgermeister Urban überwacht und die Nationalliberalen hatten dazu folgende Verse im Amtsblatt erscheinen lassen:


»Ach, wenn wir dich nicht hätten,

Dich, unsern Schutz und Trost,

Sankt Urban – du mußt retten

Vor Bebel uns und Most!«
[149]

So war damals die Stimmung – man hoffte noch die Sozialdemokratie mit der Polizei überwinden zu können. Aber auch Sankt Urban, so eifrig er die Bekämpfung der Sozialdemokratie betrieb, konnte in Zwickau keine dauernden Erfolge erzielen.

Auch nach Braunschweig wurde ich zu einem Vortrage berufen. Die sehr zahlreich besuchte Versammlung wurde von dem Justizassessor Hartwieg aufgelöst, als ein Redner, der jetzige Reichstagsabgeordnete für Offenbach, mein Freund Ulrich, einige scharfe Ausdrücke gebrauchte. Die Arbeiter waren über diese Auflösung so erbittert, daß sie auf die Tische sprangen und eine drohende Haltung einnahmen. Herr Hartwieg ist heute braunschweigischer Staatsminister und wird sich inzwischen überzeugt haben, daß solche Eingriffe bei der sozialdemokratischen Bewegung noch nicht einmal die Wirkung von Mückenstichen haben.

Auch in Riesa an der Elbe wurde mir eine Versammlung vom überwachenden Justizassessor aufgelöst, weil ich gesagt hatte, daß im Reichstage manchmal Komödie gespielt werde. Der Mann hat sicherlich geglaubt, eine historisch bedeutsame Tat verrichtet zu haben.

So hatte ich mich nun vollkommen in die Sozialdemokratie eingelebt und meine Tätigkeit befriedigte mich sehr, nachdem die Harmonie meines äußeren und inneren Lebens hergestellt war. Sehnsucht nach dem Milieu, dem ich früher angehört, empfand ich nicht.

Da schien dem allem ein rasches Ende bereitet werden zu sollen.

Ich hielt einen Vortrag vor einer großen Versammlung in Chemnitz an einem sehr heißen Sommerabend. In dem niedrigen Saal, der gedrängt voll war, herrschte eine Temperatur zum Ersticken. Während meiner Rede zog draußen ein Gewitter auf, das sehr abkühlte. Nur im Saal blieb es heiß und als ich nach Schluß der Versammlung mit gelüfteten Kleidern in den anstoßenden Garten kam, wo mich jemand sprechen wollte, zog ich mir eine bedenkliche Erkältung zu. Schon nach 14 Tagen begann ich Blut auszuwerfen, so heftig war der Lungenkatarrh, der sich aus der Erkältung entwickelte. Das Übel nahm reißend zu und bald zeigten sich Symptome der Schwindsucht. Ich magerte zum Schatten ab und ein starkes allnächtliches Schwitzen verzehrte rasch meine Kräfte. Ich wurde so kurzatmig, daß ich nur mit größter Mühe eine Treppe ersteigen konnte. Die Ärzte, die mich behandelten, gaben mich schließlich auf; auch der berühmte Verfasser des Buchs vom gesunden und kranken Menschen, Dr. Bock, erklärte, daß mit mir nichts mehr zu machen sei. Da mein Vater an der Schwindsucht verstorben war, glaubte ich an eine vererbte Veranlagung zu dieser furchtbaren Krankheit.

Die große sandige und staubige Ebene, auf der Leipzig liegt, mag für Schwindsüchtige besonders nachteilig sein. Ich selbst glaubte auch an keine Besserung mehr.

Um diese Zeit besuchte ich Liebknecht und Bebel zum ersten Mal in ihrer Gefangenschaft. Es war ein heißer Tag und mühsam schleppte ich mich die meist sonnige und recht staubige Landstraße entlang, die von der[150] Station Dahlen nach Wermsdorf führt, bei welchem Orte das einstige, nunmehr in eine Strafanstalt verwandelte Jagdschloß Hubertusburg liegt. Hier wurde bekanntlich 1763 der Friede geschlossen, der den siebenjährigen Krieg beendigte. Liebknecht und Bebel sahen mich erstaunt an; so hatten sie sich den neuen Redakteur nicht vorgestellt, und Liebknecht sagte mir später, sein erster Gedanke bei meinem Anblick sei gewesen: »Der klappt demnächst zusammen wie ein Taschenmesser!«

Es kann nicht meine Aufgabe sein, hier ein Charakterbild von einem jeden der beiden bekannten Vorkämpfer der Sozialdemokratie zu geben; Dies wird sich bei der Schilderung unserer langen politischen und parlamentarischen Zusammenarbeit von selbst gestalten. Hier sei nur bemerkt, daß Bebel damals etwa 32 Jahre alt war und blaß und kränklich aussah. Liebknecht mochte etwa 47 Jahre alt sein und stand noch in der Fülle seiner Kraft. Es war ein energisches Wesen an ihm.

Bezüglich der Unterhaltung mit den Gefangenen erinnere ich mich nur, daß wir den geringen Abonnentenstand des »Volksstaat« beklagten. Als wir davon sprachen, daß der »Neue Sozialdemokrat« uns so sehr überflügelt[151] habe, meinte ich, die Abonnentenzunahme sei bei diesem Blatte eine »ungesunde«. Ich glaubte fest daran, daß der »Neue Sozialdemokrat« ein heimliches Organ der preußischen Regierung sei. Liebknecht und Bebel glaubten dies zwar auch, allein sie meinten doch, sie würden sich verflucht freuen, wenn die Abonnentenzahl des »Volksstaat« auch einmal solch eine »ungesunde« Steigerung erfahren würde.

Mit Manuskripten reich beladen verließ ich Hubertusburg und als ich die schreckliche Landstraße wieder zurück wanderte, dachte ich nicht, daß es mir beschieden sein würde, mit diesen beiden Männern noch Jahrzehnte in den Reihen der Sozialdemokratie zu kämpfen.

Im »Volksstaat« erschienen damals eine Reihe vortrefflicher Arbeiten, darunter ein sehr interessanter Essay über die Hebertisten von Liebknecht, in Anlehnung an das Buch des Mitgliedes der Pariser Kommune, Tridon, der eine historische Rettung dieser vielverleumdeten Partei unternommen hatte. Marx war er zu weit gegangen. Engels schrieb sehr häufig für den »Volksstaat«; nach dem Sturze der spanischen Republik lieferte er mir die vortrefflichen Aufsätze über »Die Bakunisten an der Arbeit«, worin er die schmählichen Umtriebe der spanischen Anarchisten enthüllte, welche lediglich die Verwirrung in jener kritischen Epoche vergrößert hatten.

Wir führten eine sehr scharfe Sprache und da zu jener Zeit auf besonderes Antreiben Bismarcks die Staatsanwälte sehr »schneidig« gegen die sozialistische Presse vorgingen, so schwebten gegen uns immer eine Reihe von Preßprozessen, meist wegen Beleidigung. Auch Bismarck selbst suchte uns bald mit Strafanträgen heim, für welche er lithographierte Formulare besaß und deren er etwa 10,000 gestellt hat, darunter solche gegen die Schwätzereien alter Weiber am Brunnen. Wir erhielten den ersten Strafantrag des »Herkules des Jahrhunderts« anläßlich des Kissinger Attentats des Böttchers Kullmann auf Bismarck. Emanuel Geibel hatte in einem Gedichte geschildert, wie der Erzengel Michael mit einem diamantenen Schilde vor den Kanzler getreten sei und die Kugel aufgefangen habe. Wir bemerkten, dieser »Erzengel« sei wahrscheinlich der mit einem Panzerhemd versehene »gewiegte Kriminalist« Stieber gewesen. Für diesen Scherz mußte unser Verantwortlicher mehrere Monate sitzen. Weniger als zwanzig Anklagen zu gleicher Zeit waren es selten. Engels meinte einmal, es würden noch mehr Anklagen kommen, wenn dem Staatsanwalt nicht die Wahl wehe täte. Unter solchen Umständen zeichneten verschiedene Parteigenossen, die sich vor einer Gefängnisstrafe nicht fürchteten, das Blatt als verantwortlich, damit der Redakteur nicht gleich wieder weggeschnappt werden sollte. Meist zeichnete der in der Redaktion befindliche Schriftsetzer Seiffert.

Geraume Zeit gelang es uns den Staatsanwalt zu foppen. Das sächsische Gerichtsverfahren von damals hatte allerhand Absonderlichkeiten; in erster Instanz hatte man den Einzelrichter, der zugleich Untersuchungsrichter war und sehr an die vormärzliche Zeit erinnerte. Nachdem dieser[152] die Untersuchung abgeschlossen, lud er nach einigen Tagen den Angeklagten wieder vor und verkündete ihm feierlich, je nach seinem Befund: »Ich habe Sie freigesprochen« oder: »Ich habe Sie zu der und der Strafe verurteilt!« Erst wenn der Angeklagte dagegen Einspruch erhob, kam es in zweiter Instanz zu öffentlicher und mündlicher Verhandlung.

Aber die alte sächsische Gerichtsverfassung hatte auch ihre Vorzüge. So konnte der veranwortliche Redakteur, wenn er den sogenannten Reinigungseid leistete, nur zu einer Geldstrafe verurteilt werden. Zu diesem Zweck wurde ihm die »Eidesnotul«5 vorgelegt, welche den Reinigungseid enthielt, der dahin ging, daß er den inkriminierten Artikel weder selbst verfaßt noch zum Druck befördert, noch vom Verfasser oder von dem, der den Artikel zum Druck befördert. Kenntnis habe. Diesen Eid konnte der Verantwortliche durchweg mit gutem Gewissen leisten; im andern Fall verweigerte er das Zeugnis und wurde verurteilt. Um dem Verantwortlichen die Sache zu erleichtern, wurde er instruiert, bei der nicht eidlichen Vernehmung auszusagen, die für das Blatt bestimmten Artikel würden in einem Kasten niedergelegt und von dort nach Bedarf entnommen, so daß eigentlich niemand wisse, wer sie zum Druck befördert habe. Dieser Kasten war in der Tat vorhanden und die Untersuchung nach dem Täter scheiterte öfter an dieser Klippe, oder gelangte nicht darüber hinaus. Der Staatsanwalt rief schließlich in einer Verhandlung zornig aus: »Die Artikel fliegen doch nicht aus der Luft in das Blatt hinein!« und griff zu schärferen Mitteln, indem er, wenn aus dem Verantwortlichen nichts herauszubringen war, das sämtliche an dem Blatte beschäftigte Personal, vom Redakteur bis zum Laufburschen, wegen »Mittäterschaft« in Untersuchung zog und zeugeneidlich vernehmen ließ. Das war eine Lauferei zum Gericht, eine Protokolliererei und eine Schwörerei von Tag zu Tag! Die historische Rolle des geheimnisvollen Kastens war damit zu Ende. Aber viele Erfolge brachte das neue Verfahren auch nicht.

Im Mai 1873 erschienen im »Volksstaat« unter dem Titel »Praktische Emanzipationswinke« mehrere Aufsatze, welche die Bedeutung der Gewerkschaften ins rechte Licht rückten. Als ihr Verfasser galt der Schriftsetzer Karl Hillmann; der wirkliche Urheber aber war August Geib in Hamburg und Hillmann hatte nur dessen Gedanken niedergeschrieben. Diese Artikel machten viel Aufsehen und blieben auch nicht ohne Widerspruch. Aber sie haben zur Förderung der damals noch in den Windeln liegenden gewerkschaftlichen Bewegung so viel beigetragen, als Zeitungsartikeln derartiges überhaupt möglich ist.

Die Heftigkeit der Polemik mit dem »Neuen Sozialdemokrat« war wieder so groß geworden, daß es gar keine Rücksichten mehr gab und zwar beiderseits. Darum war uns ein Artikel der »Frankfurter Zeitung« willkommen, welcher das gerichtliche Nachspiel des berüchtigten Frankfurter Bierkrawalls behandelte, bei dem das Militär auf die Krawaller[153] geschossen hatte. Der Staatsanwalt sprach von »den eigentlichen Schuldigen hinter den Kulissen« und die »Frankfurter Zeitung« knüpfte daran eine von Dr. Braunfels verfaßte längere Betrachtung, die darin gipfelte, daß die Lassalleaner im Auftrage der preußischen Regierung den Krawall angestiftet hätten. Wir druckten den Artikel ab und Liebknecht hängte noch ein Schwänzchen dran, in dem von »Ober- und Untersozialdemagogen« die Rede war. Alsbald verlangte Liebknecht, da ein Strafantrag des preußischen Staatsministeriums gegen den »Volksstaat« gestellt wurde, daß ich mich selbst als denjenigen, der den Artikel zum Druck befördert, dem Untersuchungsrichter nennen sollte. Dann würde der Strafantrag gegen mich gerichtet werden und ich sollte Liebknecht und Bebel als Entlastungszeugen angeben. Dann könne endlich einmal vor Gericht der Beweis geführt werden, daß Schweitzer im Dienste der preußischen Regierung gestanden, was auf seine Nachfolger entsprechend zurückwirken müsse. Ich müsse, meinte Liebknecht, im Interesse der Partei so vorgehen. Auch könne bei dem reichen Beweismaterial die Strafe nur gering ausfallen, wenn nicht überhaupt eine Freisprechung erfolge.

Die Sache erschien mir recht bedenklich. Aber da ich vor den Verurteilten des Leipziger Hochverratsprozesses nicht feige erscheinen wollte, so reichte ich die Selbstdenunziation ein und prompt erfolgte der Strafantrag des preußischen Staatsministeriums gegen mich. Ich beantragte sofort die Vernehmung von Liebknecht und Bebel, die denn auch erfolgte.6 Ihre Aussagen reichten wohl für mich aus, aber nicht für das Gericht. Ohnehin wurde meine bisherige Auffassung von Schweitzer und Genossen durch den Untersuchungs-respektive Einzelrichter etwas erschüttert. Dieser junge Jurist, der durch den häufigen Verkehr ein gewisses Wohlwollen für mich gewonnen hatte, stellte mir die kitzliche Frage: »Glauben Sie wirklich, daß der Staatsanwalt mit seinem Ausdruck: »Die eigentlichen Schuldigen hinter den Kulissen« die preußische Regierung gemeint hat?« – Wir stritten uns in mehreren Verhören über die Sache herum, aber schließlich eröffnete er mir: »Ich habe Sie zu drei Monaten Gefängnis verurteilt!«

Bums! Da hatt' ich's!

In der öffentlichen und mündlichen Verhandlung vor der Appellinstanz ging mirs nicht besser. Das Urteil des Einzelrichters wurde bestätigt.

Leopold Sonnemann, der die »Frankfurter Zeitung« verantwortlich gezeichnet hatte, erhielt für den Artikel nur zwei Monate Gefängnis, da er das von Liebknecht angehängte »Schwänzchen« nicht zu verantworten hatte.

Mein Prozeß zog sich bis ins nächste Jahr hinein und es kamen noch andere Anklagen hinzu.

Während dies alles sich abspielte, kamen verschiedene interessante Besuche nach Leipzig, die eine sehr willkommene Abwechslung waren. Da besuchte uns der »Lohgerber und Philosoph« Josef Dietzgen, der[154] Vater des heutigen »Dietzgenismus«. Seine hohe Gestalt mit dem kleinen, charakteristisch und sympathisch gebildeten Kopfe steht noch deutlich vor mir. Seine philosophischen Arbeiten waren damals in der sozialistischen Welt noch nicht so bekannt, wie heute; wenn ich mich recht erinnere, stand nur »das Wesen der menschlichen Kopfarbeit« in unserem Schriftenverzeichnis. In Leipzig verbrachten wir angenehme und anregende Stunden mit ihm. Bei Frau Liebknecht lernte ich Louis Büchner, den Verfasser von »Kraft und Stoff« kennen, der sich für die Abschaffung des Erbrechts ins Zeug legte. Ebendahin kam auch der bekannte Romanschriftsteller und Gesinnungsgenosse Robert Schweichel mit seiner trefflichen und liebenswürdigen Gattin. Wir trafen uns noch oft und wie habe ich die Frische und Lebenskraft dieses kernigen Ostpreußen bewundert, der mit 80 Jahren weder seinen Humor noch seine Trinkfestigkeit eingebüßt hatte! Und wie interessant konnte er aus den Zeiten vormärzlicher Reaktion erzählen! So von dem Historiker Drumann, der in Königsberg an der Hochschule deutsche Geschichte vortrug und, als er das Jahr 1815 erledigt hatte, sein Heft zuklappte und sagte: »Über 1815 hinaus zu lesen ist mir verboten!« – Auch der damals sehr bekannte Schriftsteller Gustav Rasch erschien und führte sich auf der Redaktion mit den Worten ein: »Mein Name ist Gustav Rasch; haben Sie ein Klosett hier?« – Rasch besuchte auch die Gefangenen von Hubertusburg, worüber er eine Reihe phantasievoller Aufsätze veröffentlichte. Er war einer der größten Aufschneider unter den Berlinern, die ich kennen gelernt. Gern erzählte er von Berlin im Jahr 1848. Am Tage des Zeughaussturmes war er, mit einem ungeheuren Schleppsäbel bewaffnet, dabei, als man die Torflügel des königlichen Schlosses aushob und in die Spree warf. Später haben seine Artikel vom »verlassenen Bruderstamm« (Schleswig-Holstein) in der »Gartenlaube« viel Aufsehen gemacht. Wegen seines bei Bracke erschienenen Buches »Die Preußen in Elsaß-Lothringen« mußte er ins Ausland flüchten. Er betrachtete den Steuerverweigerungsbeschluß der Berliner Nationalversammlung von 1848 immer noch als zu Recht bestehend und suchte ihn für seine Person durchzuführen, blieb aber im Kampf mit dem Gerichtsvollzieher nicht siegreich. Er ist der Erfinder des geflügelten Wortes »Preußenseuche«. Trotz all seiner Schrullen habe ich in Leipzig recht interessante Abende mit ihm verlebt. – Von bekannten Sozialisten kamen aus dem Ausland Andreas Scheu und Oberwinder aus Wien, die sich bitter bekämpften; Oberwinder ging später zur Reaktion über. Auch der ehemalige Leutnant Pio, damals der Führer der dänischen Sozialdemokratie, erschien bei mir; er hatte lange im Kerker schmachten müssen und nahm einen üblen Ausgang. Auch Hans Blum, den Sohn von Robert Blum, lernte ich damals von einer sehr wenig vorteilhaften Seite kennen. Er war mit unserem Hauswirt befreundet und benutzte dies, um allerlei Bosheiten gegen uns zu verüben.

Erwähnt sei auch, daß im gleichen Hause mit Liebknecht der »Dichter« Müller von der Werra wohnte, welcher einst die Geburt des[155] kaiserlichen Prinzen Lulu besungen hatte und von dessen Vater Napoleon III. dafür belohnt worden war, nach 1876 aber »lyrischen« Franzosenfraß betrieb und deshalb von Herwegh die Verse gewidmet erhielt:


O Müller von der Werra,

Dir wird das Dichten schwerra,

Drum wird's mich freuen serra,

Wirst du nicht dichten merra!«


Da aber der »Joppenfürst« Ernst von Gotha eines seiner »Lieder« in Musik setzte, verfiel Müller von der Werra in Größenwahn und das wohlbeleibte Männlein suchte auch äußerlich sein »Genie« zur Geltung zu bringen, namentlich durch ein künstlich hochaufgesträubtes Haar. Als jemand ihn sah, wie er seine Frisur vor dem Spiegel zurecht machte, und als jener das Lachen nicht halten konnte, rief Müller ärgerlich: »Das verstehtst du nicht, das ist Genie!«

Mein körperliches Befinden wurde immer schlechter und ich zog mich nach dem südlich von Leipzig gelegenen Dorfe Gaschwitz zurück, wo ich nur von rohen Eiern und frischer Milch lebte. Frau Bebel und Frau Liebknecht, die mich mit ihrer Kinderschar dort besuchten, meinten, der Landaufenthalt bekäme mir sehr gut. Ich verspürte aber nicht viel davon.

Nachdem ich Bebel und Liebknecht auf Hubertusburg noch einige Male besucht, ging ich als Vertreter des »Volksstaat« zum ersten Mal auf den Parteitag, der diesmal im August 1873 zu Eisenach stattfand. Hier traf ich von Freunden und Bekannten Grillenberger, Scherm, Bernhard Becker und Kokosky wieder und lernte auch eine Menge von Sozialisten kennen, die nachher in weiteren Kreisen bekannt geworden sind, wie die späteren Abgeordneten Geib, Fritzsche, Vahlteich und Auer. Mit Grillenberger hatte ich einen kleinen Strauß wegen der Haltung des »Volksstaat« zu den Nürnberger Streitigkeiten auszufechten. Doch tat dies unserer Freundschaft weiter keinen Eintrag. Auf diesem Parteitag wurde Lyser wegen Unterhandlung mit den Lassalleanern einstimmig ausgeschlossen.

Doch die Hauptaufgabe dieses Parteitages war die Vorbereitung der nächsten Reichstagswahlen. Man hoffte auf einen großen Erfolg und es wurden eine Menge Kandidaturen aufgestellt. Der Erfolg sollte denn auch nicht ausbleiben, wenngleich bei diesen Wahlen die beiden sozialdemokratischen Richtungen wieder mit aller Erbitterung gegen einander kämpften. Aber es war das letzte Mal, daß dies geschah. Auf dem Parteitage gebärdete sich freilich mancher, als müsse der Zwist ewig dauern.

Wir machten schöne Ausflüge in die Umgebung von Eisenach und sprachen auch bei Fritz Reuter vor, der damals in seiner bekannten Villa zu Eisenach lebte. Er sah recht verfallen aus. Er hatte als Burschenschafter während der »Festungstid« mit Wilhelm Wolff Freundschaft geschlossen, der dem gleichen Schicksal verfallen war. Dieser rote oder Kasematten-Wolff ist derselbe, dem Karl Marx das »Kapital« gewidmet hat.[156]

Beim Besuch der Wartburg leistete ich mir einen Eselsritt, um mich zu schonen. Allein ein Parteigenosse, der von meinem Leiden nichts wußte, prügelte den Esel derart, daß der arme Langohr sich schließlich in Galopp setzte und mich beinahe abwarf. Ich warf an diesem Tage schrecklich viel Blut aus. Aber ich beschloß doch, die Wahlagitation ohne Schonung meiner Gesundheit mitzumachen. Denn ich rechnete mit meinem baldigen Ende, was übrigens auch andere Leute taten, und da wollte ich mich zum Schlusse noch recht nützlich erweisen.

Eine Kandidatur; die mir vom 14. sächsischen Wahlkreis (Borna-Pegau) angeboten wurde, mußte ich ablehnen, da ich das 25. Jahr noch nicht vollendet hatte. Dagegen beschloß ich, alle meine Tätigkeit auf den 13. Wahlkreis (Leipzig-Land) zu konzentrieren. Dort konnten wir auf einen Erfolg hoffen, während die Stadt Leipzig von uns nicht zu nehmen war. Wir hatten für den Leipziger Landkreis dem Dr. Johann Jacoby in Königsberg die Kandidatur angetragen und er hatte sie auch angenommen. Ich führte im Auftrage des Wahlkomitees die Korrespondenz mit ihm, Jacoby, der berühmte Verfasser der »Vier Fragen«, hatte sich nach der[157] Niederlage der Volkserhebung von 1848 immer weiter nach links entwickelt und war nach dem Leipziger Hochverratsprozeß gegen Bebel und Liebknecht der Sozialdemokratie (Eisenacher Richtung) beigetreten.7 Sein Name hatte auch bei den Bürgern und Bauern einen guten Klang; man erinnerte sich, daß er im Jahre 1848 zum König von Preußen in dessen Schlosse gesagt hatte: »Das ist das Unglück der Könige, daß sie die Wahrheit nicht hören wollen!« – Wir arbeiteten mit Feuereifer für ihn und ich erinnere mich, daß ich trotz meiner Blutspuckerei in einer stürmischen Regennacht mehrere Stunden zu Fuß zurücklegte, nur um in einer Versammlung für Jacoby eintreten zu können.

Die Wahlerfolge waren für jene Zeit großartig; wir eroberten in Sachsen sechs Mandate, die Lassalleaner anderwärts zwei. Dazu gab es eine Menge Stichwahlen. Auch im Leipziger Landkreis gab es Stichwahl und wir boten alle Kräfte auf, um zu siegen.

Da, einige Tage vor der Wahl, als ich spät nachts im Schriftstellerverein erschien, nahm mich Professor Wuttke auf die Seite und sagte:

»Sie hoffen in der Stichwahl im Landkreise zu siegen.«

»Jawohl!« antwortete ich.

»Nun«, sagte Wuttke, »wenn Jacoby gewählt wird, so wird er die Wahl ablehnen.«

Ich fuhr zurück: »Das ist unmöglich.«

»Sie werden sehen!« sagte Wuttke.

Ich schrieb noch in der Nacht an Jacoby und erhielt von ihm umgehend die Antwort:

»Ich denke nicht daran, meine Kandidatur zurückzuziehen

Nun war ich beruhigt.

Wir siegten und der Jubel war ungeheuer.

Aber gerade zehn Minuten vor der großen Versammlung, in welcher das definitive Wahlresultat verkündet und der Sieg gefeiert werden sollte, erhielt ich einen eingeschriebenen Brief von Jacoby, in dem er anzeigte, daß er die Wahl ablehne.

Ich telegraphierte verzweiflungsvoll und es erfolgte die telegraphische Antwort; daß die Ablehnung schon dem Wahlkommissär angezeigt sei. Die Stimmung bei der »Siegesfeier« kann man sich denken.

Man kann sich auch denken, daß ich wie vom Donner gerührt war. Ich junger Dachs war zu unerfahren gewesen, um genau zwischen »Kandidatur« und »Wahl« zu entscheiden. Es war aber auch nicht recht, auf diese Unerfahrenheit zu spekulieren.

Jacoby hatte auch eine Begründung seiner Ablehnung beigelegt. Er sagte darin, er glaube nicht, daß man auf parlamentarischem Wege einen Militärstaat in einen Volksstaat umgestalten könne. Auch beruhe das Reich auf einem Rechtsbruch, der 1866 geschehen sei.[158]

Wir antworteten, daß die preußischen Staatsstreiche von 1848 und 1849 Jacoby doch auch nicht verhindert hätten, ein Mandat in der zweiten preußischen Kammer auszuüben, und meinten, er hätte sich mit seinen Anschauungen überhaupt nicht als Kandidat aufstellen lassen sollen.

Diese Haltung Jacobys erregte viel Erbitterung und Engels schrieb mir zornig:

»Der Mann ist zu weise!« –

Aber was nun?

Der Kampf mußte trotz alledem wieder aufgenommen werden und wir nahmen ihn auf.

Als Kandidat wurde mein Freund Wilhelm Bracke aus Braunschweig aufgestellt. Diese Kandidatur war keine angenehme. Die Ablehnung des Mandats hatte die Wähler mißtrauisch und teilweise sogar feindselig gemacht. Ich wirkte nach Kräften für Bracke bei dieser mühseligen Wahlarbeit und begleitete ihn auf die Dörfer. Zu einem großen Zusammenstoß kam es in Liebertwolkwitz, wo Bracke, da er erst anderwärts sprach, nicht gleich erscheinen konnte. Ich sollte die Versammlung bis zu seiner Ankunft[159] beschäftigen. Unsere Gegner führten den Kampf gegen Bracke mit äußerster persönlicher Gehässigkeit und so wurde, als ich eine Pause machte, ein verleumderischer Artikel des »Leipziger Tageblattes« vorgelesen, welcher Bracke geschäftliche Unehrlichkeit vorwarf. Darob erhub sich in der Versammlung ein so furchtbarer Lärm, daß man hätte glauben können, die »blutigen alten Schwadronen« Napoleons, die einst bei Liebertwolkwitz den großen Choc gemacht, seien aus den Gräbern erstanden. Bracke hörte den Lärm schon in weiter Ferne. Er wies die gegen ihn erhobenen Verleumdungen energisch zurück.

Wir unterlagen und statt Johann Jacoby wurde nun vom Leipziger Landkreis in den Reichstag ein liberaler Industrieller gesandt, der sein tiefes Verständnis für den großen Klassenkampf der Zeit in einer Versammlung zu Groß-Zschocher folgendermaßen mir gegenüber kundgetan hatte:

»Ich würde Sie und Ihre Parteigenossen ja gerne mit Beefsteaks bewirten, aber mein Geldbeutel erlaubt es nicht!«

Dieser großartige Sozialphilosoph hieß Dr. Karl Heine. –

Nach diesen Anstrengungen war ich so herunter, daß mein Ende nicht mehr ferne schien. Da erhielt ich die Aufforderung, mich zur Verbüßung der mir zuerkannten Strafe von drei Monaten Gefängnis zu stellen. Ich hatte inzwischen noch vierzehn Tage hinzubekommen wegen einer von mir auf dem Tonberge bei Leipzig gehaltenen Rede, in der ich die Einrichtungen des sächsischen Staates verächtlich gemacht haben sollte.

Im Bezirksgerichtsgefängnis zu Leipzig war mir keine »Zelle für reinliche Mädchen« bereitet; ich wurde in ein finsteres Loch gebracht, das sechs Schritte lang und vier Schritte breit war. Ganz hoch oben befand sich ein kleines, mit schweren Eisenstangen vergittertes Fenster. Das spärliche Licht, das hier hereinfiel, wurde durch ein »Hafengitter« – mit Papa Spengler in Braunschweig zu reden – auf ein Minimum reduziert, so daß in dieser Raubmörderzelle kaum zu lesen war. Ein kleiner Tisch, ein Stuhl, ein Strohsack, der tagsüber an die Wand angeschlossen wurde, damit sich's der Gefangene »nicht allzu bequem« machen konnte, und der unvermeidliche Kübel, die Zierde deutscher Gefängnisse, bildeten das Möblement. Wenn morgens die Zellen geöffnet und die Becken mit Waschwasser hereingereicht wurden, erfüllte ein unerträglicher und unbeschreiblicher Geruch das ganze Haus. Ich hatte vorsichtigerweise Handtücher mitgebracht; die Sträflinge, die keine eigenen hatten, mußten sich mit dem gleichen Handtuch abtrocknen.

Ich erhob als politischer Gefangener sogleich Protest gegen diese Behandlung; auch meldete ich mich zur Selbstbeköstigung an. Zunächst aber ohne Erfolg. Ich erhielt den Bescheid, daß das Gefängnis überfüllt und keine andere Zelle frei sei. Ich ließ den Gefängnisarzt Dr. Sonnenkalb rufen, verwies auf meinen leidenden Zustand und machte ihn auch verantwortlich für den Fall, daß hier eine Verschlimmerung eintreten sollte. Das wirkte und er versprach, daß ich ein helles und lustiges Gelaß[160] erhalten sollte, das in einigen Tagen frei würde. Immerhin mußte ich einige Tage in dem scheußlichen Loch bleiben. Eines Nachts erwachte ich von einem furchtbaren Lärm. Es war der in der Leipziger Lokalgeschichte »berühmte« Pleißengassen-Krawall, bei dem die öffentlichen Häuser der nebenan befindlichen Pleißengasse gestürmt wurden. Dies Ereignis hatte eine bedeutsame Nachwirkung. Bei ihrer »Revolution« von 1836 hatten die Leipziger außer der Rauchfreiheit auch ertrotzt, daß die Polizeidiener nur mit Stöcken bewaffnet sein durften. Jetzt kam man darauf zurück, sie wieder mit Säbeln zu bewaffnen.

Ich hatte in den Zellen rechts und links weibliche Nachbarschaft, wie ich morgens beim Öffnen der Tür bemerkte. Der einen Nachbarin schien es sehr wichtig, daß »ä Mannsen« nebenan sei, wie sie zum Fenster hinaus verkündete. Nachts begann das in allen Gefängnissen übliche Klopfen an den Wänden, mit dem sich die Gefangenen verständigen und unterhalten. Ich hatte mir schon einige Kentnisse in dieser merkwürdigen Telegraphie erworben, als ich in mein besseres Gelaß abgeholt wurde. Ich war aufs angenehmste überrascht. Das war ein großes lustiges Doppelzimmer mit zwei Betten; im einen Teil stand das Bett hinter einem Vorhang. Die Fenster waren hoch und nur das Gitter mahnte daran, daß hier ein Gefängnis sei. Ich hatte eine sehr schöne Aussicht auf den alten Botanischen Garten. An diesen stieß übrigens ein Bordell und ich machte mir oft in der ersten Morgenfrühe das Vergnügen, zu beobachten, wie die Gäste scheu und mit tief eingedrücktem Hut herausschlichen. Ich glaubte darunter einige prominente Persönlichkeiten der Leipziger Ehrbarkeit zu erkennen, welche mit besonderer Vorliebe behaupteten, die Sozialdemokratie wolle Ehe und Familie zerstören und an deren Stelle die »freie Liebe« einführen.

Man sagte mir, daß mein Zimmer das Ehebrecher-Zimmer genannt würde, weil früher nach altem sächsischen Brauch bei Scheidungsprozessen das im Streit liegende Ehepaar in diesem Raum auf ein paar Wochen untergebracht worden sei, um zu erproben, ob sich die Leute denn gar nicht mehr vertragen könnten.

Der Herr Direktor erschien und war sehr liebenswürdig. Das Essen wurde teils aus der Volksküche, teils aus der Küche des Direktors geliefert. In beiden Fällen war es sehr gut. Ich durfte mich im großen Garten des Direktors ergehen und zwar täglich; auch hatte ich in der Woche zweimal Ausgang, eine Einrichtung, die meines Wissens in dieser Weise heute in keinem Gefängnisse mehr besteht. Ich mußte mich beim Untersuchungsrichter anmelden, der mir dann ohne Anstand die Erlaubnis erteilte. Ich konnte von 1 Uhr mittags bis 8 Uhr abends gehen, wohin ich wollte, aber ein Gerichtsdiener in Zivil sollte mich begleiten. Dieser brave Mann hieß Henker, aber er hatte den Namen nicht mit der Tat. Sobald wir das Gefängnis außer Sicht hatten, verabredeten wir, uns zur bestimmten Zeit wieder zu treffen, und der »Henker« verschwand. Ich traf mich dann mit Freunden und Gesinnungsgenossen und wir kneipten fröhlich oder machten kleine Ausflüge. Wenn ich dann mit[161] meinem guten »Henker« wieder zusammentraf, belohnte ich ihn mit einem silbernen Händedruck. Einmal begegnete ich ohne »Henker« dem Untersuchungsrichter und er war so liebenswürdig, mich nicht zu sehen.

Die Ruhe des Gefängnisses war sehr vorteilhaft für meinen körperlichen Zustand und das Blutspucken ließ etwas nach.

Um diese Zeit war Liebknecht aus der Festungshaft entlassen worden. Er wollte von der Last der Redaktionsgeschäfte noch eine Zeitlang befreit sein und so verabredeten wir, daß er mich einen um den anderen Tag besuchen, mir Zeitungen bringen und die alten Zeitungen wieder mitnehmen solle. In den letzteren befand sich das Manuskript, welches ich für den »Volksstaat« regelmäßig lieferte. So redigierte ich den »Volksstaat« vom Gefängnis aus, was bei dem Charakter dieses wöchentlich dreimal erscheinenden Blattes, das mit den Tagesblättern nicht zu konkurrieren brauchte, ganz gut möglich war, wobei für Liebknecht ganz wenig zu tun übrig blieb. Liebknecht und ich näherten uns damals sehr und ich wußte seine guten Eigenschaften wohl zu schätzen. Er war ein gewandter Publizist, wenn auch nicht im modernen Sinne; eine besondere Begabung hatte er für das Feuilleton. Er verstand markige Worte zu prägen und in der Polemik manchmal seinen Gegner förmlich niederzuschmettern.

Außer diesen Arbeiten trieb ich fleißig historische und nationalökonomische Studien, schrieb eine Broschüre über die Zustände in der deutschen Presse und bearbeitete in einer anderen die Enthüllungen des Generals Lamarmora über die Entstehung des Krieges von 1866. Zugleich verfaßte ich eine Reihe von Skizzen über die Erhebung der Pariser Kommune8 und begann die Übersetzung einer Biographie des im Barrikadenkampf gefallenen Kommune-Generals Jaroslav Dombrowsky. So verging mir die Zeit rasch.

Einer Episode mag noch gedacht werden. Ich saß an einem Sonntag vormittag über einem philosophischen Werke, betitelt: »Menschheit und Kapital«. In diesem Werke wurde mitgeteilt; daß in Leipzig eine Gesellschaft bestände, die sich Tugendbund nenne, weil zu ihren Orgien nur Jungfrauen zugelassen würden. Ich wurde aufgescheucht durch ein wildes Geschrei und Geheul, das von einer auf dem Platze vor dem Botanischen Garten sich tummelnden Menschenmasse kam. Man deutete auf das Fenster einer Zelle ohne »Hasengitter«. An diesem Fenster stand, wie ich von meinem Gelaß aus sehen konnte, eine Frau im Hemde, hing sich an das Gitter und steckte das eine nackte Bein hindurch, soweit als es möglich war.

Diese Verehrerin der Nacktkultur wurde bald vom Fenster weggeholt. Ein höherer Gefängnisbeamter trat bei mir ein und erging sich in den heftigsten Ausdrücken gegen das verworfene Frauenzimmer. »So was ist in Leipzig noch nicht vorgekommen!« rief er entrüstet. Ich hielt ihm schweigend das Buch hin und zeigte ihm die Geschichte vom »Tugendbund«. Der Mensch sah mich ganz dumm an und ging dann kopfschüttelnd hinaus.[162]

Am Tage vor meiner Freilassung sagte Liebknecht, er werde mich an der Gefängnispforte erwarten. »Du wirst eine Überraschung vorfinden«, sagte er geheimnisvoll, »eine große Überraschung«. –

In diesem Gefängnis hatte ich mich des öfteren in den Haschischrausch versenkt, der bei dem Genusse Heinescher Lyrik so gern über sentimentale junge Leute kommt. Dabei machte ich die Erfahrung, daß unter den schimmernden Blüten dieser Dichtungen manchmal recht boshaft stechende Dornen verborgen sind. Strenge Kritiker haben dies auch schon bemerkt und haben es getadelt, daß Heinrich Heine einer seiner Geliebten vergiftete Tränen zuschreibt, während er einer andern eine Schlange an das Herz befördert und sie dort fressen läßt. Und dabei kann er seine Schadenfreude über das Elend des armen Liebchens nicht verbergen. Der Streich, den er mir gespielt, war zwar nicht so schlimm, aber doch schlimm genug. Neben dem Gefängnisgebäude befand sich ein Sommergarten, in dem jeden Abend eine Musikkapelle spielte. Auch bei Regenwetter blieb mir dieser musikalische Genuß erhalten, denn in solchem Fall wurde in einem Pavillon gespielt. An jedem Abend wurde, da die Musik fünf Stunden dauerte, etwa siebenmal das Heinesche Lied erledigt:


»Ich wollt', meine Lieb' ergösse

Sich all in ein einzig Wort« – –


und da ich drei und einen halben Monat zu »brummen« hatte, so stieg das Lied in dieser Zeit etwa siebenhundertmal zu mir empor.

Da erfüllte sich denn buchstäblich die am Schlusse des Liedes ausgesprochene boshafte Drohung des Dichters:


»So soll dich mein Lied verfolgen

Bis in den tiefsten Traum!«


Mit siebenhundert Nägeln war es mir im Ohr und Hirn festgenagelt und verfolgte mich tatsächlich in meine tiefsten Träume. Anfangs fuhr ich jede Nacht aus dem Schlaf empor, da ich rufen gehört:


»Ich wollt', meine Lieb' ergösse« –


und noch nach Jahren hörte man mich im Schlafe sprechen:


»Ein einzig Wort – den tiefsten Traum!« –


O Heinrich Heine, ungezogener Liebling der Grazien! –

Den nächsten Morgen kam die Überraschung. Freudig erregt schritt ich durch die Gefängnispforte. Draußen stand mit einem seiner kleinen Söhne Liebknecht. Und neben ihm stand, eine hübsche junge Dame am Arm, ein großer schlanker Mann in den Fünfzigern, mit langem weißen Bart, nur der Schnurrbart war tief schwarz. Seine Gesichtsfarbe war blühend und man konnte ihn für einen jovialen alten Engländer ansehen. Ich erkannte ihn aber gleich nach dem Bilde – es war Karl Marx. Die junge Dame war seine Tochter Eleanor, auch Thussy genannt.[163]

Mit gewinnender Freundlichkeit kam er mir entgegen, der in den Augen des Spießbürgertums so geheimnisvolle Mann, den die Polizei als die Verkörperung der internationalen Revolution betrachtete. Es hatte sich damals eine üppige Marx-Legende gebildet und die Angstmeier unter den oberen Zehntausend sahen in ihm einen ungeheuren Maulwurf, der jegliche Gesellschaftsordnung untergrabend in der Tiefe unheimlich dahinkroch. Von seiner eigentlichen Größe wußten sie nichts.

Wie stolz und glücklich war ich, von dem Chef der »Neuen Rheinischen Zeitung«, dem Begründer der Internationalen Arbeiterassoziation, dem Verfasser des Kommunistischen Manifestes und des »Kapital«, bei meinem Wiedereintritt in die Freiheit empfangen zu werden!

Von vielen Zeitgenossen ist Karl Marx als ein finsterer, anmaßender Mensch, von hämischer, galliger Art geschildert worden. Es mag sein, daß er, der so viel und unglaublich verleumdet worden ist, manch albernen Menschen, der ihn geringschätzig behandeln zu können glaubte, derb abgefertigt hat. Uns bezauberte er durch seine außerordentliche Liebenswürdigkeit.

Wir waren bei Liebknechts zu Tische und Frau Natalie gab sich alle Mühe, es ihren Gästen behaglich zu machen, was ihr auch gelang. Beim Kaffee gab es eine sehr angeregte Unterhaltung. Man sprach von der sich immer wiederholenden Absetzung Gottes durch die Freidenker und Marx meinte, der liebe Gott müsse doch einen reichlichen Vorrat von gaité9 haben, um das alles, was in der Welt vorgehe, so ruhig mit anzusehen. Dann kamen wir auf den Dichter Georg Herwegh zu sprechen. Liebknecht konnte diesem nicht verzeihen, daß er zu Paris, auf der Höhe seines Dichterruhmes, seinen Besuchern und Verehrern im Dichtermantel mit der Feierlichkeit und Unnahbarkeit eines Brahminen entgegengetreten war. Dies hatte auch Liebknecht erfahren. Marx meinte, man müsse Herwegh seine Eigenheiten und Schwächen nachsehen, denn er habe in dem allgemeinen großen Freiheitskampfe sich seine unbestreitbaren Verdienste erworben. Marx erzählte, er sei zu seinem Freunde Heinrich Heine gegangen, als dieser den Dichter Herwegh nach dessen verunglückter Posa-Rolle in Preußen so blutig verhöhnt hatte, und habe ihn gebeten, die Person Herweghs mit dem furchtbaren Stachel seines Witzes zu verschonen. Heine habe mit seiner leisen Stimme geantwortet: »Aber ich habe dem Manne doch gar nichts getan!« – Echt Heine!

Nachmittags gingen wir über die Wiesen nach Schleußig. Marx blieb mit mir ein wenig hinter den andern zurück. Es schien ihn ungemein zu freuen, daß er bei mir Interesse und Verständnis für seine historischen Reminiszenzen fand. Er kam sogleich auf Lassalle zu sprechen und teilte mir den Grund seiner Abneigung gegen dessen Persönlichkeit mit.

Er (Marx) und seine Freunde, sagte er, hätten 1848 schon über die bürgerliche Revolution hinaus ihre Blicke auf die kommende große Bewegung[164] des Proletariats gerichtet. Aber sie hätten sich damals mit großer und ehrlicher Begeisterung in den Kampf mit den reaktionären Mächten gestürzt, um die revolutionären Elemente des Bürgertums möglichst vorwärts zu treiben. Da sei nun Lassalle mit seiner Hatzfeldt gekommen und dadurch seien dessen persönliche Angelegenheiten mit dem Revolutionskampf in höchst widerwärtiger Weise verquickt worden. »Ganz infame Geschichten hat er gemacht«, sagte Marx grimmig, »und wir konnten ihn nicht einmal desavouieren.« Marx spielte dabei auf die Kassettendiebstahl-Affäre im Hatzfeldtschen Ehestreit und auf die sich daran knüpfenden Prozesse an.

Auch über seinen Kampf mit dem Zensor erzählte Marx ein interessantes Stückchen, das sich anfangs der vierziger Jahre abspielte, als er Redakteur der alten »Rheinischen Zeitung« zu Köln war. Der Zensor war diesem Blatte wegen der bekannten Marxschen Artikel über den Provinziallandtag sehr aufsässig und quälte es, wo und wie er nur konnte. Marx ersann endlich ein Mittel, um »diesen Lümmel zahm zu kriegen«.

Die Abzüge für den Zensor mußten abends zu diesem gebracht werden, da das Blatt am Morgen herauskam. Der Rotstift des Zensors verursachte der Druckerei dann oft noch langwierige Arbeit in der Nacht.

Eines abends war der Zensor mit seiner Gattin und seinen heiratsfähigen Töchtern zu einem großen Ball beim Oberpräsidenten geladen. Bevor er dahin ging, mußte er erst noch seine Zensorarbeit erledigen. Aber gerade an diesem Abende kamen die Abzüge nicht zur gewöhnlichen Zeit. Der Zensor wartete und wartete, denn er durfte seine Amtspflicht nicht vernachlässigen und mußte doch auch beim Oberpräsidenten erscheinen, von den Chancen der heiratsfähigen Töchter abgesehen. Es war beinahe zehn Uhr, der Zensor war hochgradig nervös und schickte Frau und Töchter voraus zum Oberpräsidenten, während er seinen Bedienten nach der Druckerei schickte, um die Abzüge zu holen. Der Bediente kam zurück und meldete, die Druckerei sei geschlossen. Nun fuhr der verzweifelnde Zensor in seinem Wagen nach der ziemlich weit entfernten Wohnung von Marx. Es war beinahe elf Uhr.

Nach langem Klingeln steckte Marx den Kopf aus einem Fenster der dritten Etage heraus,

»Die Abzüge!« brüllte der Zensor hinaus.

»Gibts nicht!« rief Marx herunter.

»Aber!!« – –

»Wir lassen morgen kein Blatt erscheinen!«

Damit schlug Marx das Fenster zu. Dem gefoppten Zensor blieben vor Wut die Worte im Halse stecken. – Er ward von da ab artiger.

Marx blieb einige Tage in Leipzig. Wir schlossen Freundschaft und blieben auch später in Verbindung.10 Auch seine Tochter Eleanor kam mir sehr freundlich und liebenswürdig entgegen. Sie liebte damals den Schriftsteller Lissagaray, der als Kommunenflüchtling in London[165] lebte und an seinem Werke über den Kommune-Aufstand arbeitete. Aber Marx sträubte sich heftig gegen eine Heirat und war mit seiner Tochter nach Deutschland gereist, um sie aus der Nähe von Lissagaray zu bringen. Die Einwände von Marx gegen diese Heirat waren sehr einleuchtend. Bedenkt man aber das traurige Schicksal, dem Eleanor Marx später zum Opfer fiel, so kommt man zu der Überzeugung, daß es besser gewesen wäre, wenn sie die Gattin von Lissagaray geworden wäre.

Eleanor Marx ließ sich später gegen mich einnehmen, als Leute erschienen, die mit Ohrenbläsereien die alten Freundschaften zu zerstören bemüht waren. Indessen habe ich noch einmal einen freundlichen Brief von ihr erhalten.

Marx wollte in Leipzig durchaus den Polizeidirektor Rüder sehen, von dem im »Volksstaat« so viel die Rede gewesen. Liebknecht und ich gingen mit Marx in sein Stammlokal und setzten dem Polizeigewaltigen uns gerade gegenüber. Ob dieser nun Marx erkannte oder sonstwie sich unbehaglich fühlte – er stand plötzlich auf und verließ das Lokal.

Übrigens brachte ein lustiger Setzer aus der Druckerei des »Volksstaat« den Polizeidirektor auch zum Ausreißen aus dem Stammlokal. Pfau – so hieß der Setzer – trat abends an den Polizeidirektor heran und sagte:

»Es brennt auf dem Naschmarkt!«11

»Das ist Sache des Rats!« antwortete Rüder.

Nach einer halben Stunde erschien Pfau wieder und erhielt die gleiche Antwort.

Beim dritten Mal rannte der Polizeidirektor eiligst davon. Es brannte natürlich nicht auf dem Naschmarkt.

So war dieser erst so großspurig auftretende Sozialistentöter zur komischen Figur geworden.

Ich arbeitete mit Liebknecht noch einige Zeit in der Redaktion des »Volksstaat«. Eines Tages kam der Franzose Tissot zu uns, der damals Deutschland bereiste und nachmals ein Buch über Deutschland schrieb, das durch seine Gehässigkeit großes Aufsehen machte. Er behauptete unter anderm, auf der Redaktion des »Volksstaat« habe man ihm gesagt, die kommende deutsche Revolution werde so furchtbar sein, daß die Kommune-Erhebung dagegen als eine Idylle erscheinen werde. Diese alberne Aufschneiderei versetzte die politische Welt von Leipzig in lebhafte Bewegung.

Aus Köln erhielt ich in diesen Tagen die Offerte, dort die Redaktion eines neu herauszugebenden täglichen Blattes zu übernehmen. Der Parteigenosse Schumacher, später Abgeordneter für Solingen, schrieb mir, das Blatt solle, in Erinnerung an die »Rebellin« von 184812, »Neue Rheinische Zeitung« heißen. Ich zitiere, was Engels über diese Sache am 21. September 1874 an Marx schrieb:[166]

»In Leipzig wirst Du vielleicht Blos gesehen haben, der morgen oder übermorgen frei kommt, jedenfalls aber gehört haben, daß Kölner Arbeiter ein tägliches Blatt herausgeben wollen und Blos sich an mich gewandt hat, ob sie es »Neue Rheinische Zeitung« nennen dürfen. Blos soll es redigieren. Da es im Anfang deines Karlsbader Aufenthaltes und ehe irgend Nachricht von Dir eingetroffen – unmöglich war mit Dir zu konferieren, mußte ich provisorisch entscheiden. In Anbetracht, daß dies das erste Mal ist, daß die Leute sich in angemessener Weise an uns wandten, zweitens, daß wir schwerlich je wieder eine »Neue Rheinische Zeitung« herausgeben werden, schon wegen der provinziellen Lage von Köln, habe ich, was mich betrifft, nichts dagegen gehabt und auch die Vermutung ausgesprochen, daß Du ebenfals einwilligen würdest. Jenny,13 die ich als Deine Repräsentantin konsultierte, war ebenfalls dieser Ansicht. Es hätte bei den rheinischen Arbeitern einen sehr schäbigen Eindruck gemacht, hätten wir refüsiert. Hast Du indes Bedenken, so ist es immer noch Zeit, die Sache rückgängig zu machen.« –14

Wenn ich mich recht erinnere, gab Karl Marx auch seine Zustimmung. Aber die Sache kam nicht zustande, weil die Kölner Parteigenossen die erforderlichen Mittel nicht aufbringen konnten.

Liebknecht meinte, die Mittel des »Volksstaat« reichten für zwei Redakteure nicht aus; auch seien diese nicht hinreichend beschäftigt. Zugleich teilte er mir mit, daß ich die Redaktion der »Süddeutschen Volksstimme« in Mainz haben könne. Mein körperliches Befinden war damals so elend, daß ich mit Freuden die Gelegenheit ergriff, von Leipzig wegzukommen, denn ein Arzt hatte mir gesagt, nur eine Luftveränderung könne noch eine Besserung herbeiführen. Ich nahm deshalb die Stellung in Mainz an. Der Partei-Ausschuß in Hamburg nahm es mir übel, daß ich, ohne mich mit ihm ins Benehmen zu setzen, meine Stellung in Leipzig aufgab. Ich versprach aber dem Ausschusse, ihm jederzeit zur Verfügung zu stehen.

Bevor ich nach Mainz abging, präsidierte ich einem großen Parteischiedsgericht in Apolda und bei dieser Gelegenheit traf ich in Eisenach mit meiner Verlobten aus Überlingen zusammen, die eigens zu einer Aussprache dahin gekommen war. Angesichts meines körperlichen Zustandes kamen wir überein, uns frei zu geben. Sie heiratete gleich darauf einen Handwerksmeister, starb aber nach kurzer und unglücklicher Ehe.[167]

Fußnoten

1 Kommandeur der Blusenbatterie im badischen Aufstand von 1849.


2 Kommandeur der Volkswehren im badischen Aufstand von 1849.


3 Georg Herwegh hat zu jener Zeit für den »Volksstaat« das bekannte Gedicht geliefert, das beginnt:


»Achtzehnhundertvierzig und acht,

Ei wie hat es im März gekracht!«


4 Roßmäßler, der bekannte Naturforscher, war Mitglied des Frankfurter Parlaments gewesen; Götz ist der heutige nationalliberale Turnmeister, und Dolge, wegen Teilnahme am Dresdener Maiaufstand zum Tode verurteilt und zu Zuchthaus begnadigt, ward später Großindustrieller in Nordamerika.


5 Notula = kurzer Schriftsatz.


6 Es ist dies dieselbe Affäre, die Gustav Mayer in seiner Biographie Schweitzers behandelt hat.


7 Dieser damals viel Aufsehen erregende Schritt wurde und wird noch in den Geschichts- und Nachschlagewerken der herrschenden Klassen meistens verschwiegen.


8 Diese Broschüren sind mit Recht im Dunkel der Vergangenheit verschwunden.


9 Heiterkeit.


10 Siehe den Brief von Marx im Anhang.


11 Der Platz, wo sich das Polizeigebäude befand.


12 So nannte Freiligrath die »Neue Rheinische Zeitung« in dem berühmten Abschiedswort der roten Nummer.


13 Frau Marx.


14 Siehe Briefwechsel zwischen Marx und Engels, Stuttgart 1913, J. H. W. Dietz Nachf.


Quelle:
Blos, Wilhelm: Denkwürdigkeiten eines Sozialdemokraten. 2 Bde, 1. Band. München 1914, S. 169.
Lizenz:

Buchempfehlung

Brachvogel, Albert Emil

Narziß. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Narziß. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Albert Brachvogel zeichnet in seinem Trauerspiel den Weg des schönen Sohnes des Flussgottes nach, der von beiden Geschlechtern umworben und begehrt wird, doch in seiner Selbstliebe allein seinem Spiegelbild verfällt.

68 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon