Im alten Bremen

So kam ich aus einer alten Handels- und Hansastadt in die andere, und die Einblicke, die mir in die kommerzielle und industrielle Welt gewährt wurden, waren für meine spätere politische und parlamentarische Betätigung sehr vorteilhaft.

Man hatte mir indessen mehrfach gesagt, in Bremen sei es sehr langweilig, die Bevölkerung sei im Verkehr steif und namentlich gegen Fremde ablehnend, was ein ausgewiesener Sozialdemokrat doppelt peinlich empfinden müsse. Ich war deshalb in begreiflich düsterer Stimmung, als ich die liebenswürdigen Parteigenossen in Hannover verlassen hatte und in Bremen anlangte. Ich sollte hier aufs angenehmste enttäuscht werden. Denn außer Braunschweig, dessen Bevölkerung mir sechsmal ihre Vertretung im Reichstag anvertraut hat, ist mir keine norddeutsche Stadt so lieb und heimisch geworden wie Bremen.

Mein Freund Neißer befand sich zurzeit auf Brautwerbung in Oberschlesien und hatte in seiner fürsorglichen Liebenswürdigkeit seine völlig eingerichtete Familienwohnung einstweilen mir überlassen. Auch eine freundliche alte Aufwärterin stellte sich ein, so daß ich mich bald behaglich fühlte.

Neißer war ein Jahr zuvor von einem herben Geschick betroffen worden.

Er hatte eine leidenschaftliche Neigung zu der hübschen Tochter einer angesehenen bürgerlichen Bremer Familie gefaßt, und seine Neigung war ebenso leidenschaftlich erwidert worden. Das tapfere Mädchen setzte die Heirat durch, obwohl ihre Familie sich lange und hartnäckig gegen den »Sozialdemokraten und Juden« sträubte. Die überaus glückliche Ehe war leider nur kurz, denn die junge Frau starb im ersten Wochenbett, nachdem sie Zwillinge zur Welt gebracht. Ihre zierlichen Gewänder und bunten Fähnchen hingen noch in den Schränken und riefen bei der alten Aufwärterin oft eine wehmütige Stimmung hervor. Neißer gab durch seine baldige Wiederverheiratung den Kindern eine zweite Mutter, die ihre Pflichten gewissenhaft erfüllt hat.

Die Parteikneipe in Bremen wurde damals von Wilhelm Frick, einem früheren Lassalleaner, gehalten, der auch sozialdemokratischer Reichstagskandidat für Bremen war. Bei ihm traf ich gleich zwei Leidensgenossen. Wie schon bemerkt, hatte man in dem weiten »Belagerungsgebiet« um Friedrichsruh herum nur zwei Arbeiter ausfindig machen können, die man als Sozialdemokraten ausweisen konnte, und diese befanden sich hier. Es waren ein Matrose und ein Schuhmacher. Der letztere hatte zu Hause eine zahlreiche Familie und überließ ihr die kärgliche Unterstützung,[11] die ihm die Partei gewähren konnte.1 Er selbst hungerte und quälte sich so durch. Äußerlich trug er sein Unglück mit Fassung. Manchmal aber strömte der in strenger Arbeit gehärtete und nun zum Müßiggang gezwungene Mann – er erhielt lange keine Arbeit – seinen Seelenschmerz gegen mich aus.

Die Fricksche Wirtschaft ward natürlich ständig von der Polizei belauert und belästigt. Denn es liefen hier die unsichtbaren Fäden des Parteilebens zusammen. Frick brachte manches Opfer, indem er öfter den Verfolgten unentgeltliche Mahlzeiten verabreichte oder Kredit gab, soweit möglich denn die Wirtschaft rentierte sich natürlich nicht glänzend. Bei dieser Gelegenheit möchte ich anläßlich der harten und gehässigen Angriffe, die heute manchmal von terroristischen Abstinenten gegen die Gastwirte gerichtet werden, darauf hinweisen, daß unter dem Sozialistengesetz die Gastwirte der Partei unschätzbare Dienste geleistet haben, trotzdem sie dabei großen Gefahren ausgesetzt waren.

In § 22 des Sozialistengesetzes heißt es:

»Gegen Personen, welche sich die Agitation für die sozialdemokratischen usw: Bestrebungen zum Geschäft machen, kann im Falle einer Verurteilung wegen Zuwiderhandlung gegen die §§ 17–20 (Teilnahme von verbotenen Vereinen, resp. geheimen Versammlungen, an Verbreitung verbotener Schriften und Hergabe von Lokalen für solche Zwecke) neben der Freiheitsstrafe auf die Zulässigkeit der Einschränkung ihres Aufenthalts erkannt werden.«

Und weiter heißt es in § 23:

»Unter den in § 22 bezeichneten Voraussetzungen kann gegen Gastwirte, Schankwirte, mit Branntwein oder Spiritus Kleinhandel treibende Personen, Buchdrucker, Buchhändler, Bibliothekare und Inhaber von Lesekabinetten neben der Freiheitsstrafe auf Untersagung ihres Gewerbebetriebes erkannt werden.«

Die Gastwirte, die als Sozialdemokraten bekannt waren, wurden verhältnismäßig am meisten mit Haussuchungen bedacht, denn die Polizei witterte natürlich, daß bei ihnen verbotene Schriften vertrieben und geheime Versammlungen abgehalten würden. Und dennoch haben Hunderte und aber Hunderte von Gastwirten ihre Lokalitäten für geheime sozialdemokratische Agitation zur Verfügung gestellt. Sehr viele sind in den Schlingen und Fußangeln des Sozialistengesetzes hängen geblieben, sind eingesteckt, ausgewiesen, aus ihrem Beruf gedrängt worden und ihres Vermögens verlustig gegangen. Ich habe oft Gelegenheit gehabt, ihre Kühnheit und ihren Opfermut zu bewundern, wenn ich an geheimen Versammlungen teilnahm. Das alles sollte man nicht so leicht vergessen.

Beiläufig hatten auch die Buchhändler in besonderem Maße unter den polizeilichen Schikanen zu leiden. Ich war öfters bei den Haussuchungen[12] in Geibs Geschäft zugegen, wo eine Buchhandlung mit Leihbibliothek betrieben wurde. Diese Haussuchungen waren sehr beschwerlich, weil die Polizisten jedes einzelne Buch nach etwa darin verborgenen Briefschaften oder verbotenen Schriften durchblätterten. Das dauerte oft den ganzen Tage, und die Kunden wurden verscheucht.

Aber ehe ich mich in Bremen näher umsehen und informieren konnte, kam ein Naturereignis, welches momentan alles andere zurücktreten ließ. Es trat nämlich eine Ueberschwemmung ein, eine der größten oder vielleicht die größte, die Bremen jemals gesehen. Die weite Ebene, auf der Bremen zu beiden Teilen der Weser liegt, war vollkommen von den ausgetrenen schmutziggelben Fluten des Stromes bedeckte. Auf der am linken Weserufer sich ausbreitenden großen Wiese ragte von dem dort stehenden Gasthaus »Zum Kuhhirten« nur noch das Türmchen auf dem Dach aus dem Wasser hervor. Die Wassermassen wälzten sich brausend durch die der Weser nächstgelegenen Straßen und kamen dem Rathaus nahe, so daß den Bremern um ihren vielgeliebten Ratskeller bange war. Die Deiche drohten zu brechen, und unabsehbares Unglück bedrohte die alte Hansastadt. Bei dem Vorort Hastedt oberhalb der Stadt wurden viele Tausende von Sandsäcken in die Weser geworfen, um den gewaltigen Anprall der Gewässer an den Deichen abzuwehren. Es gelang dies auch, und die empörten Wasserfluten verliefen sich langsam, nachdem sie großen Schaden an gerichtet. In der Umgebung der Stadt blieb das Wasser an einzelnen Orten noch monatelang zwischen den Deichen stehen, namentlich im Blockland, dem zum bremischen Staate gehörigen Landgebiete auf dem rechten Weserufer, wo man förmliche Seen sah.

Längere Zeit nach dieser Ueberschwemmung begleitete ich einen mir befreundeten Katasterfeldmesser nach dem Blockland, wo er die Tiefe eines solchen Sees feststellen sollte. Er hatte zwei mit derben Wasserstiefeln versehene Leute mit sich, die für diese Tour gut bezahlt wurden. Als wir an Ort und Stelle waren, kam uns der Besitzer des dort auf einer Anhöhe gelegenen stattlichen Bauernhofes devotest entgegen und führte uns in seine Behausung. Über eine große Tenne, wo das Vieh hinter einem Verschlag stand, ging es in die große Stube, wo wir mit Speck und Kornschnaps bewirtet wurden. Hier sah ich auch jene merkwürdigen Betten, die in einem Wandschrank eingelassen sind. Wir setzten uns dann auf einen Baumstamm vor dem Hause und rauchten gemütlich, während der Bauer das mitgebrachte Senkblei nahm und in das Wasser watete, um dessen Tiefe zu messen. Das Wasser ging ihm bis an die Hüften. So tat er – übrigens unaufgefordert – die Arbeit für die Leute, die dafür, und zwar auch auf seine Kosten, bezahlt wurden. Ich dachte mein Teil darüber, was man doch mit manchen Bauern immer noch aufstellen kann.

Auch Frick erlaubte sich manche Spässe mit den Bauern. So kam ein solcher, der einen Ochsen vorteilhaft verkauft hatte, an einem Montag in Fricks Wirtschaft, wo er sich bis zur Bewußtlosigkeit in Schnaps betrank. Frick schleppte die »Leiche« auf seinen Hof und legte sie dort auf[13] den Steinplatten nieder, wo sie mehrere Stunden liegen blieb. Abends fiel ein Platzregen, die »Leiche« ward wieder lebendig und der Bauer kam verstört herein. Er fragte, wie lange er draußen gelegen. »Am Montag sind Sie gekommen und haben bis heute im Hof gelegen; heute ist Mittwoch!« antwortete Frick. Der Bauer rannte wie rasend hinaus und brüllte: »Is Mittwöcken, is Mittwöcken, min armen Fru un Kinn –«

Die prächtige alte Stadt mit ihrer holländischen Reinlichkeit gefiel mir sehr. Mit hohem Interesse betrachtete ich ihre historischen Denkmäler, namentlich die berühmte Rolandsäule vor dem Rathause, welcher Friedrich Rückert die vielzitierten Stabreime gewidmet hat:


»Roland, der Ries', am Rathaus zu Bremen

Steht er im Standbild standhaft und wacht.«


Das prächtige Rathaus, der Dom mit seinem Bleikeller und den Mumien darin, der Schütting, das Vaßmerkreuz – wie oft hingen meine Gedanken an diesen Zeugen alter Zeiten! Selbstverständlich widmete ich mein Interesse auch dem Ratskeller, den Heinrich Heine so schön besungen und dem Wilhelm Hauff so wunderbaren poetischen Duft und Schmelz verliehen hat. Die Herrlichkeiten und Genüsse des Ratskeller waren einem ausgewiesenen Sozialdemokraten mit meinem kärglichen Mitteln so ziemlich verschlossen; sie wurden mir aber später zugänglich durch eine liebenswürdige Gönnerschaft, die allerdings ihrer Munifizenz eine zweckmäßigere Form hätte geben können. Indessen wurde mir in jenen »heiligen Hallen« manche frohe Stunde bereitet, während deren ich meine prekäre Situation vergaß.

An den Ratskeller knüpft sich eine Bismarck-Anekdote, die wohl wenig bekannt ist. In den siebziger Jahren waltete dort ein Ratskellermeister, der ein Original und als sehr grob bekannt wir. Bismarck fand Gefallen an dieser derben und urwüchsigen Erscheinung, und als einst sein Sohn Herbert nach Bremen reiste, trug er diesem einen Gruß an den Kellermeister auf. Der letztere hielt gerade sein Mittagsschläfchen, als Herbert Bismarck ankam. Des Kellermeisters Töchterlein suchte auf der Treppe den Besuch vergebens zurückzuhalten, weil ihr Vater so entsetzlich grob sei, wenn man seinen Mittagsschlaf störe. Aber Herbert Bismarck bestand auf Anmeldung und als sie geschah, hörte er durch die offenstehende Tür, wie der Kellermeister zornig brüllte: »De Ol is mi schon recht, aber de Jung kann mi ...!« Worauf sich Herbert Bismarck schleunigst verzog. Der alte Bismarck soll über diese Geschichte unbändig gelacht haben.

Meine Beschäftigung im Neißerschen Bureau bestand zunächst in der Herstellung einer »farblosen« Zeitungskorrespondenz, welche lithographiert wurde und deren Ertrag mir Neißer vollständig überließ. Sodann gab er noch die wöchentliche »Sozialpolitische Korrespondenz« heraus. Diese Korrespondenz war von Karl Höchberg subventioniert, dessen Gönnerschaft sich Neißer in hohem Maße erworben hatte. Höchberg[14] hat für Neißers literarische Unternehmungen sehr viel Geld aufgewendet. Die »Sozialpolitische Korrespondenz« sollte einer »sozialliberalen« Richtung Bahn brechen. Mit der Redaktion und dem ganzen Inhalt dieser Korrespondenz hatte ich nichts zu tun; ich war nur für ihre Expedition engagiert. Jede Woche mußte ich eine enorme Anzahl Kreuzbänder anfertigen und versenden.2 Meine Einnahmen waren natürlich mäßig, aber ich war meinem Freunde Neißer außerordentlich dankbar, denn ich konnte mich so in dieser schweren Zeit über Wasser halten. Nach und nach gelang es mir, durch allerlei literarische Arbeiten meine Einnahmen zu verbessern, nachdem es sich ereignet, daß ich einmal nur noch drei Mark besaß, die ich meiner Frau für sich und unser Kind gab, während ich selber einen Freund suchen ging, um eine Anleihe zu erheben, was damals nicht allzu leicht war.

Aber nicht nur Neißer, sondern auch andere Parteigenossen standen mir mit Rat und Tat bei oder machten mich in fröhlicher Gesellschaft mein trübes Schicksal vergessen. Ich denke an Imwolde, Fuhse, Weddingfeld, Steinebach und andere in Bremen, an Kühn, Hug und Morisse in Wilhelmshaven.

Im allgemeinen war das Parteileben in Bremen angenehm, trotz aller Gefahren und Polizeischwierigkeiten. Die Bewegung wurde geleitet von einer Anzahl intelligenter und opfermutiger Männer, welche der Situation durchaus gewachsen waren. In der Organisation waren, wenn ich mich recht erinnern kann, die Zigarrenarbeiter und die Maurer am zahlreichsten. Die ersteren waren ein sehr bewegliches und tätiges Element, die Maurer bildeten den besten Kern des Ganzen. Sie traten äußerlich wie ihre Hamburger Kollegen auf, und von ihnen galt das Wort des verstorbenen Parteigenossen Lüttichau in Braunschweig: »Wenn der Maurer vom Bau herunter ist, muß er wie ein Kaufmann aussehen.« An Streitigkeiten fehlte es selbstverständlich in dieser ernsten Zeit mit ihren Wirrnissen auch hier nicht; namentlich gab es unter den Berliner und Hamburger Ausgewiesenen einige, die gleich alles umgestalten wollten und damit die Bremer Parteigenossen, unter denen viel kleinbürgerliche, aber darum nicht minder tüchtige Elemente waren, verletzten. Aber diese Streitigkeiten spielten sich in den geheimen Versammlungen ab; nach außen stand die Partei stets geschlossen da.

Der Bremer Senat, welcher seit der 1837 erfolgten Hinrichtung der berüchtigten Giftmischerin Gesche oder Gesine Gottfried kein Todesurteil mehr hatte vollziehen lassen,3 war damals nicht gesonnen, das[15] Sozialistengesetz in seiner ganzen Strenge zu handhaben. Wo es dennoch geschah, kam es von dem übertriebenen Eifer subalterner Polizeibeamten her, die sich damit bei der Regierung in Gunst zu setzen glaubten. Wir waren wie mit einem Netz von Spionage umgeben, wie einst ein Bremer Bürger, mit dem ich befreundet war, sich wütend ausdrückte.

Der bremische Polizeisenator Schulz war nicht allzustreng und namentlich nicht gegen mich. Dies hatte seine besondere Bewandtnis. Als ich nämlich meine Möbel durch einen Fuhrmann von Hamburg nach Bremen bringen ließ, wurde der Wagen an der Zollgrenze angehalten und von der Zollbehörde – wozu diese durch eine bundesrätliche Verordnung ermächtigt war – nach verbotenen Schriften durchsucht. Meine Sachen, namentlich Kleider, Wäsche, Schuhwerk usw., wurden wie Kraut und Rüben durcheinander geworfen. Etwa 80 Bücher und Broschüren wurden konfisziert. Da aber der Besitz eines einzelnen Exemplars einer verbotenen Schrift zulässig war – und es waren nur Einzelexemplare – so wurden mir auf meine Reklamation die konfiszierten Drucksachen wieder zugestellt. Senator Schulz bestellte mich zu sich, bedauerte den Irrtum der Zollbehörde und ließ Packpapier kommen, in welches er höchst liebenswürdig eigenhändig die verbotenen Bücher einschnüren half. Währenddem erzählte er mir, daß er öfter im Sommer nach meiner Vaterstadt Wertheim komme und dort mit Verwandten von mir verkehrt, auch mut diesen über mich gesprochen habe. So konnte ich mir seine Höflichkeit erklären.

Auf einem Nebentische lag ein großes blaßrotes Heft, auf dem in zwei Zoll hohen Buchstaben mein Name stand. Das waren meine Polizeiakten. Der Senator lächelte, als ich neugierig darauf blickte. Als er einmal hinausging, kehrte er unter der Tür um und schloß das Heft ein. Wie gerne hätte ich einmal hineingesehen! Aber es gelang nicht, obschon ich das Heft von außen noch öfter zu sehen bekam.

Die Geheimorganisation der Sozialdemokratie in Bremen aufzuspüren und bloßzulegen gelang auch den eifrigsten Spürnasen der niederen Polizei nicht. Wir vermieden die geheimen Versammlungen in Bremen selbst so viel als möglich. Sie fanden meist auf der weiten Fläche statt, die sich gleich unterhalb Bremens ausdehnt. Es ist dies das ehemalige Stedingerland, und dort liegt auch an der Weser das Dörfchen Altenesch, wo die tapferen Stedinger Bauern 1234 ihren letzten Kampf gegen das Kreuzheer der Junker und Pfaffen so heldenmütig bestanden und so ruhmvoll untergingen. Es war, als gewährten uns die Geister der Stedinger, da wir gleich ihnen in Acht und Bann erhärt waren, Gastfreundschaft auf der einst mit ihrem Blute getränkten Walstatt. Dies Gebiet gehörte damals zum Großherzogtum Oldenburg, in dem die sozialistische Bewegung, die Orte um Wilhelmshaven ausgenommen, noch kaum zu verspüren war. Darum kümmerte sich die oldenburgische Polizei auch vorläufig fast gar nicht um das Sozialistengesetz. Wir hielten ungestört unsere geheimen Versammlungen im ehemaligen Reich der Stedinger, angesichts der Türm: von Bremen, bei einer Baumgruppe oder inmitten[16] von Hecken oder zwischen den Deichen. Wir brauchten auch nicht, wie sonst im Walde üblich, Wachen auszustellen, denn man konnte das Land weithin übersehen. Die Bauern störten uns nicht.

In Bremen beschäftigte ich mich auch mit den Ueberresten und Erinnerungen von 1848. Von den damals bekannten Persönlichkeiten lebte noch H. H. Meier, der Bremen im Reichstage vertrat, eine Verkörperung bremischen Protzentums, der den Bremer Lloyd mitbegründet hatte. Viel sympathischer war Marie Mindermann, die sich wegen Kränklichkeit in ein Stift zurückgezogen hatte. Sie war 1848 so entschieden für die Demokratie eingetreten, daß der Senat sie hatte einkerkern lassen. Später gab sie einen vortrefflichen »Spruchschatz« heraus. Sie genoß in Bremen noch viel Verehrung und Anhänglichkeit, wie sich bei ihrem Tode zeigte, denn sie war standhafter gewesen, als die meisten männlichen Elemente der bremischen Demokratie von 1848. Ich trat mit ihr in Verbindung und fand ihren Idealismus noch unerschüttert.

In Bremen befanden sich noch einige Reste der 1848 von dem demokratischen Pastor Rudolf Dulon begründeten freien Gemeinde. Dieser hatte auch 1848 die »Tageschronik« herausgegeben, die eines der angesehensten Organe der Demokratie wurde. In den Versammlungen dieser freireligiösen Elemente fanden wir einen Unterschlupf, so lange man uns das öffentliche Auftreten verwehrte. Dulon wurde in Nordamerika der Schwiegervater des bekannten republikanischen Generals Sigel, mit dem ich später befreundet wurde. Es befanden sich auch noch einzelne Arbeiter in Bremen, welche die Erinnerung an die Zeit des Kommunistenbundes pflegten und oft von dem nach 1848 durch Stieber und Genossen angestifteten Totenbund-Prozeß sprachen; ebenso gab es noch verschiedene Personen, die sich zur Zeit der Arbeiter-Agitation Lassalles an der sozialistischen Bewegung beteiligt hatten.

Inzwischen kam Neißer von der Brautschau zurück, welcher nach einiger Zeit die Heirat folgte. Bis dahin wirtschafteten wir in seiner Wohnung zusammen. Neißer blieb in der Partei, machte aber zugleich für seinen »Sozialismus« Propaganda, womit er aber in der Partei nichts ausrichtete. Ich hielt unverbrüchlich an der Sozialdemokratie fest. Das führte manchmal zu lebhaften Diskussionen, aber unsere persönliche Freundschaft wurde dadurch nicht berührt. Solche Dinge waren nur unter den damaligen Verhältnissen möglich.

Wir suchten uns mit möglichst geringen Kosten einzurichten. Die Wohnung wurde von der alten Aufwartefrau in Ordnung gehalten. Wir taten uns Konserven an Fleisch und Früchten ein. Zu Mittag ließen wir uns zwei Portionen aus der Volksküche holen, die in folge der Zuschüsse, die sie aus der Bürgerschaft erhielt, eine sehr reichliche, vortreffliche und sehr billige Beköstigung lieferte. Es blieb so viel übrig, daß wir nicht nur die Aufwartefrau speisen, sondern auch manchmal Gäste einladen konnten. Als Vahlteich bei seinem Abgang nach Amerika durch Bremen kam, speiste er bei uns und wollte sich halb totlachen, als er mich in der weißen Schürze den Tisch decken sah.[17]

Es gab damals in Bremen ein Bierlokal, dessen innerer Raum lang und kahl war, so daß man es »die Scheune« taufte, wie es heute noch heißt, obschon es nunmehr ausgeschmückt ist. Hier befand sich ein Stammtisch, wo sich Schriftsteller. Künstler und was sich um sie zu gruppieren pflegt, zwanglos zusammenfanden. Namentlich waren die beiden Bremer Poeten August Freudenthal und Fritz Dannemann hier zu finden; der letztere war der leibhaftige »hungernde Dichter«, wie er in den »Fliegenden Blättern« dargestellt wird. Ihn luden wir oft zu Gaste und es schmeckte ihm sehr. Verschiedene Theaterleute fühlten sich in der Scheune sehr wohl. Außer Neißer und mir fanden sich hier noch verschiedene Parteigenossen ein; Heinrich Oehme war oft in der Scheune zu sehen. Es war eine anregende und lustige Gesellschaft trotz der politischen Gegensätze. Auch die chronique scandaleuse Bremens, wo es hinter der Kulisse der Prüderie fabelhafte Abenteuer und Erzesse gab, spielte hier eine große Rolle, und von Freudenthal wurde die »Berliner Messalina«, eine damals sehr bekannte Persönlichkeit, in ergötzlichen Knittelversen besungen; desgleichen ein Ball in Adams- und Evakostüm, wo sich Leute aus den »besseren Ständen« trafen und mitten im Vergnügen von der Polizei überrumpelt wurden.

Anfang Sommer kam meine Frau nach Bremen und ich gab den gemeinsamen Haushalt mit Neißer auf.

Das Leben war in Bremen billig, namentlich was die Wohnungen betraf. Ich hatte in der Nähe der Willehadikirche ein Einfamilienhaus, wie es so viele in Bremen gibt, mit vier – allerdings kleinen – Zimmern, zwei Kammern, Küche im Souterrain, Gärtchen vorn und hinten, für 275 Mark jährlich.

In dieser Zeit wurde mein lieber Sohn Willy geboren, den ich leider so bald verlieren sollte.

»Ein Kind des Exils!« sagte Dr. Voigt wehmütig, als er mich in Bremen besuchte.

Zwei radikale Blätter, der »Landbote« in Winterthur und die »Volkszeitung« in Berlin, luden mich damals zur Mitarbeiterschaft ein. In Winterthur war es namentlich der uns nahestehende Demokrat Bleuler, der den verfolgten sozialdemokratischen Schriftstellern auf diesem Wege beizuspringen trachtete. Er schrieb mir einen wahrhaft prächtigen und erhebenden Brief. Der bekannte Sozialist Friedrich Albert Lange, der Verfasser der »Geschichte des Materialismus« und der »Arbeiterfrage«, war längere Zeit Mitglied der Redaktion des »Landboten« gewesen. Von der »Volkszeitung« in Berlin, die damals auf dem äußersten linken Flügel der bürgerlichen Demokratie stand, kam der Chefredakteur Dr. Phillips, als er durch Bremen reiste, zu mir, um mich zur Mitarbeiterschaft einzuladen. Es arbeiteten damals mehrere bekannte sozialistische Schriftsteller für sein Blatt. Phillips war der Sohn des Abgeordneten Phillips aus Elbing, der 1848 Mitglied der Berliner Vereinbarungs-Versammlung wurde. Er hatte den Steuerverweigerungsantrag mitunterzeichnet und Friedrich Wilhelm IV. ließ ihn, den späteren Oberbürgermeister[18] von Elbing, seine besondere Ungnade empfinden. Philipps, der Sohn, wurde 1881 Abgeordneter im Reichstage für Mainz-Oppenheim. Mit ihm, der ein sehr trinkfester Ostpreuße war, und seiner jungen, schönen und liebenswürdigen Frau verbrachte ich einen sehr netten Abend im Ratskeller.

Phillips, dieser vortreffliche Charakter, starb schon 1886, erst 41 Jahre alt. Bei seinem Abgang hörten die Beziehungen sozialdemokratischer Schriftsteller zur »Volkszeitung« auf. Meine Mitarbeiterschaft am »Landboten« in Winterthur aber dauerte noch lange Jahre, nachdem an Stelle Bleulers der Oberst Ziegler getreten war, den ich mehrere Male in Winterthur besuchte. Übrigens wurde meine Mitarbeiterschaft am »Landboten« mehrere Male von journalistischen Spitzeln gehässig denunziert.

Die bürgerliche Presse war von den Wutkrämpfen, die sie im Jahre 1878 so heftig befallen, zwar im allgemeinen genesen, aber sie bekam häufige Rückfälle. Immerhin wurden wir tagtäglich mit einer Fülle von Gehässigkeiten und Verleumdungen überschüttet, und die härtesten Maßregeln, welche die Behörden über die Partei verhängten, fanden den meisten Beifall. Nicht einmal für die Schandtaten der Polizeispitzel hatte die bürgerlich: Presse ein Fünkchen Empörung übrig; sie entrüstete sich erst später, als die Spitzeleien so toll wurden, daß man sich vor dem Auslande schämen mußte. Es gab nur wenige, um so ehrenwertere Ausnahmen in der deutschen Presse, unter denen in erster Linie die »Frankfurter Zeitung« zu nennen ist. Dies große und einflußreiche, damals radikal-demokratische Blatt, welches wie ein Bollwerk gegen die Bismarcksche Gewaltpolitik errichtet war, hat das Sozialistengesetz und seine Wirkungen unablässig aufs äußerste bekämpfte und nicht wenig zu dessen Vernichtung und zum Sturze seines Urhebers beigetragen.

Aber im ganzen hat die bürgerliche Presse damals das Werk vollendet, das sie schon 1848 begonnen und beim Auftreten Lassalles mit neuem Eifer aufgenommen hatte. Dies Werk war, die Sozialdemokratie in ein so dichtes Netz von Entstellungen, Verdrehungen, Lügen und Verleumdungen einzuspinnen, daß sie dem nicht selbständig denken und urteilsunfähigen Teil des Bürgertums, der naturgemäß dessen Mehrheit bildet, in abschreckender Verzerrung erscheinen mußte. Die wissenschaftlichen Grundlagen des demokratischen Sozialismus blieben dieser Bevölkerungsschicht fast gänzlich unbekannt. Ein Sozialdemokrat erschien ihr von vornherein als mit allen »sittlichen Mängeln« behaftet.4

Der Sozialdemokrat ist von vornherein gesellschaftlich geächtet. Wenn er ein Geschäft auftut, so ist dies von vornherein schon stillschweigend boykottiert. Wenn sich die Sozialdemokratie einmal wehrt und bürgerliche[19] Geschäfte boykoitiert, so wird in der bürgerlichen Presse ein fürchterliches Geschrei darob erhoben. So hat es diese Presse fertiggebracht, die weitesten bürgerlichen Kreise mit blinden Vorurteilen und mit Haß und Verachtung gegen die Sozialdemokratie zu erfüllen, deren Anhänger man als Schurken oder Narren, im günstigsten Fall als »Schwärmer« betrachtet.5

Selbst wenn die Sozialdemokratie für die Gesamtheit Ersprießliches leistet, darf es nicht anerkannt werden, denn es werden damit »nur agitatorische Zwecke« verfolgt. Die kapitalistische Weltge braucht die von ihr abhängige Presse zu einem bestimmten Zweck; die Sozialdemokratie soll verhaßt gemacht werden, damit es den herrschenden Klassen erleichtert wird, staatliche Unterdrückungsmaßregeln gegen das klassenbewußte Proletariat zu erreichen und die kapitalistische Ausbeutung zu verschleiern oder zu rechtfertigen.

Auch nachdem die Zahl der Sozialdemokraten in die Millionen hineingestiegen, kann der Spießbürger in Deutschland sich nicht enthalten, die von seiner Presse ihm eingebläuten läppischen Vorurteile bei jeder Gelegenheit kundzutun, ohne zu begreifen, wie er damit vor dem Auslande die Gesamtheit unseres Volkes heruntersetzt.

Tief angewidert von den Preßtreibereien vertiefte ich mich, wozu mir reichlich Zeit blieb, in historische Studien und begann schon damals die Materialien zu sammeln, die für meine späteren Werke erforderlich waren. Mit dem sorgfältigen Studium der großen französischen Revolution hatte ich schon in Mainz begonnen, wo ich mannigfache Anregungen empfing; es wurde in Bremen fortgeführt, wo mir große öffentliche Bibliotheken zugänglich waren. Hier begann ich auch das Studium der Bewegung von 1848 und 1849, wozu mir ein alter Parteigenosse, der Bäckermeister Meyer, seine reichhaltige Sammlung von 48er Drucksachen zur Verfügung stellte. Zugleich begann ich hier das Studium der Reformationszeit im allgemeinen und des großen Bauernkrieges von 1525 im besonderen. Dieses letztere Studium erweckte in mir heimatliche Empfindungen und zog mich um so mächtiger an. Ich wußte wohl, daß die heute politisch so indolente Bauernschaft des Taubergrundes sich hervorragend an jener großen Revolution beteiligt hatte, aber nun drang ich erst in die Details ein. Ich versenkte mich in die merkwürdige Geschichte des Pfeiferhänsleins, der seine Massenversammlungen in dem nur einige Stunden von Wertheim an der Tauber liegenden Dorfe Niklashausen hielt. Tausende und aber Tausende strömten zu diesem weltfernen Ort, um auf dem Platze vor der Kirche oder auf der gegenüberliegenden[20] Gamburger Wiese die Predigten des Hirten anzuhören, welcher gegen die Üppigkeit und Hoffart der Zeit eiferte und forderte, es sollten kein Kaiser, kein Papst, keine weltliche oder geistliche Herrschaft, keine Leibeigenschaft, Frohn, Steuer, keine Zehn ten und Zollstätten mehr sein. Jeder sollte frei jagen und fischen können, aber durch eigene Arbeit sein Brot verdienen müssen. Der geplante große Aufstand, der vom Adel der Umgegend heimlich gefördert wurde, weil dieser bei solcher Gelegenheit die Kirchengüter an sich zu bringen trachtete, wurde durch die Gefangennahme und Hinrichtung des Pfeiferhänsleins vereitelt. Die Erinnerungen an jene Zeit sind nicht erstorben, und in Niklashausen heißt jetzt noch der Platz, auf dem während der Massenversammlungen die Verkaufsbuden mit Lebensmitteln für die Pilger standen, die »Marketendergärten«. Heute hat man ein Festspiel zurechtgemacht, welches die Pfeiferhänslein-Episode behandelt und mit einer Apotheose Kaiser Wilhelm I. und Bismarcks schließt. Der Fanatismus der umwohnenden katholischen Bevölkerung hat bewirkt, daß die Aufführungen des Stückes eingestellt werden mußten.

1525 tobte der Bauernkrieg durch diese Gegend, und der Graf von Wertheim schlug sich selbst auf die Seite des Aufstandes. Schwerlich tat er es aus Begeisterung für die »evangelische Freiheit«, aber er führte dem Volksheer sein Geschütz und seine Reisigen zu. Als es mit der Volkssache abwärts ging, fiel er ab und suchte seine eigenen Bauern mit Feuer und Schwert heim. Sie belagerten ihn im Wertheimer Schloß, und er wurde erst durch die Hilfe des schwäbischen Bundes befreit. Dafür mußten sie natürlich hart büßen. Die Bauern der Umgegend hatten das Würzburger Schloß belagern helfen und hatten in den Schlachten von Königshofen und Ingolstatt mitgefochten; einer von ihnen. Peter Locher, von Külsheim, saß im Bundesrat des fränkischen Bauernheeres zu Würzburg und wurde als Abgeordneter nach Heilbronn gesandt, um im dort zusammengetretenen Bauernparlament für das Zustandekommen der von Wendel Hipler entworfenen Reichsverfassung zu wirken.

Je mehr ich mich in diese großen Erinnerungen versenkte, desto mehr traten in mir Regungen hervor, die meinen persönlichen Neigungen entsprachen und es angemessener erscheinen ließen, eine große Sache mit den Waffen zu verfechten und stolz zu siegen oder ruhmvoll unterzugehen, statt sich mit der Polizei herumzubalgen.

Daraus ergab sich von selbst, daß mir ein gewisses Phrasenkraftmeiertum mit dem damals so mancher seine revolutionäre Gesinnung bezeugen wollte, nicht anziehend erscheinen konnte.6[21]

Alle Anwandlungen von Revolutionsromantik verschwanden indessen bald vor der Einsicht, daß der moderne Klassenkampf des Proletariats etwas anderes ist als die Erhebung der Bauern und die Revolution des Bürgertums.

Immerhin bewirkte das Studium der großen französischen Revolution, daß mir Carnot bedeutend sympathischer und größer erschien als Robespierre. Die Intrigen, die Gehässigkeiten und demagogischen Künste dieses Mannes waren mir zuwider, ebenso stieß es mich ab, daß hinter seinem Tugendfanatismus oft der gewöhnliche Spießbürger steckte. Kläglich war, daß er, nachdem ihm die Macht zugefallen, mit dieser nichts Rechtes anzufangen wußte. Selbstverständlich maße ich mir nicht an, seine großen Verdienste um jene Revolution verkleinern zu wollen. Zu dieser Auffassung mag beigetragen haben, daß sich aus irgend einem literarischen Anlaß schon in Hamburg zwischen dem damals noch lebenden Sohne des berühmten »Organisators des Sieges« und mir eine Korrespondenz an geknüpft hatte, die durch die Jahrzehnte dauerte.

Unter solchen Studien verfloß mir rasch die erste Zeit meines Aufenthalts in Bremen, wo ich so angenehm enttäuscht worden und wo ein ansehnlicher Kreis von Parteigenossen und Freunden bereitwillig bemüht war, mir über die aus dem Ausnahmegesetz erwachsenden Schwierigkeiten hinwegzuhelfen. Auch den schönen Künsten widmete ich mich, soweit es meine Mittel erlaubten, und bei einer Aufführung der damals noch neuen Operette »Fatinitza« hatte ich das Vergnügen, deren Komponisten Suppé, einen sehr gemütlichen Wiener, kennen zu lernen. Im übrigen waren die Zustände in Bremen denen in Hamburg insofern ähnlich, als auch hier noch eine eingesessene Bürgerschaft je nach Macht und Besitz sich mit einem Wall von Vorrechten mehr oder weniger gegen den übrigen Teil der Bevölkerung verschanzt hatte und eine Welt für sich bildete. Bremen, wo die große Kaufmannschaft ungeheure Kapitalien angesammelt hat und das man darum gern als eine der reichsten Städte der Welt bezeichnet, hatte auch wie Hamburg sein Finanzwesen zum Vorteil der Großkapitalisten eingerichtet. Während es dort Reeder gab, die ganze Flotten auf dem Meere schwimmen hatten, stöhnte der Bremer Staat in ewigen Geldnöten. So sehr waren die öffentlichen Lasten zugunsten der reichen Leute verteilt.

Dieser Zustand konnte nicht besser charakterisiert werden als durch den Staats-Bettelsack, den die Bremer Finanzkünstler ausgeheckt hatten. Ich war ganz »paff«, als ich ihn zuerst sah. In unserer Straße erschien ein Mann in Zylinderhut. Frack und weißer Weste, sehr elegant, welcher in der Hand ein Säckchen aus blankem schwarzen Leder trug. Treppauf, treppab klopfte er die Häuser ab und ersuchte um freiwillige Beiträge für die Staatskasse. Beamte und Geschäftsleute sahen sich genötigt. Beiträge zu leisten; die Leute aus dem Volke, die von der alten Geldaristokratenrepublik ohnehin schwer mit Steuern belastet waren, lehn ten durchweg ab. Ob diese schöne Einrichtung noch besteht, weiß ich nicht.[22]

Nur einmal im Jahr verbrüderte sich die ganze Bevölkerung, nämlich bei der großen Messe, Freimarkt genannt. Da ging es sehr lustig zu und wer nur das »steife« Bremen kannte, wie es sich in den bürgerlichen Kreisen so oft zeigte, der konnte glauben, es sei alles auf den Kopf gestellt. Der Senat öffnete alle Räume des Ratskellers. Jedermann konnte zur »Rose« gelangen und dem »Bacchus« seine Aufwartung machen, der majestätisch mit seinem Feigenblatt auf dem Fasse saß. Da wurden die Weinvorräte des Ratskellers reichlich in Anspruch genommen. Dabei zeigte sich das weibliche Element recht ausgelassen. Vielleicht kam dies daher, daß zu jener Zeit den Frauen außer dem Ratskeller nur noch zwei Restaurants zur Verfügung standen; in fast allen anderen war ihr Besuch verpönt. Doch änderte sich dies rasch, und die oben geschilderte »Scheune« hat in dieser Beziehung bahnbrechend gewirkt.

Sehr schmerzlich war mir zu jener Zeit, daß mein brieflicher Verkehr mit Friedrich Engels gestört wurde. Unsere Korrespondenz war lebhaft gewesen; ich hatte über hundert Briefe von ihm erhalten, die mir auf meinen Kreuz- und Querzügen leider verloren gegangen oder auch,[23] wie sieben Briefe von Johann Jacoby, entwendet worden sind. Schade darum; es waren manche von dauerndem Interesse darunter. Viele hatte ich zu Artikeln verarbeitet, da ich Engels oft um Rat anging, den er auch stets liebenswürdig und prompt erteilte. Von Bremen aus schrieb ich ihm einmal einen Brief in trüber Stimmung und schilderte ihm, wie schwer es für einen sozialdemokratischen Journalisten sei, sich durchzubringen, da alle Blatter, die zu uns hielten, mit geringen Ausnahmen verboten wurden oder sonst zugrunde gingen.7 Darauf antwortete mir Engels: »Was ist das für eine Trübsal, das Sie mir da blasen.« Und dann setzte er mit auseinander, daß es ein Gluck für die Arbeiterbewegung wäre, wenn dieser »bureaukratische Apparat« der »farblosen Blätter« völlig hinweggefegt würde. Diese Antwort verletzte mich begreiflicher Weise und kam mir brutal vor. Vielleicht war ich etwas zu empfindlich; indessen wurde ich dies aus den damaligen Verhältnissen erklären. Jeden falls kam diese Wendung in meinen Beziehungen zu Engels nicht von ungefähr; über die Einflüsse, die sie bewirkt haben mögen, kann ich mich nicht äußern, da ich nur Vermutungen habe. Engels hatte mir Vertrauen geschenkt, wie wohl nicht viel anderen; so hatte er einer Familie, die ihm eine sehr bedeutende Summe schuldete, auf ein paar Zeilen von mir die Rückzahlung auf beliebige Zeit hinaus gestundet. Die mir so lieb gewordene Korrespondenz geriet nun ins Stocken und schlief fast ganz ein. Später näherten wir uns wieder. Engels hatte sich früher das Studium des deutschen Bauernkriegs zur Spezialität erlesen und 1850 seine bekannte vortreffliche Abhandlung über diese große deutsche Revolution herausgegeben. Als ich Zimmermanns »Großen deutschen Bauernkrieg« neu herausgab, bekundete er mehrmals seine hohe Freude über dieses Unternehmen.

Um diese Zeit unternahmen in Petersburg die Revolutionäre Andres Scheljabow, Nikolaus Ryssakow, Timotheus Michailow, Sophie Perowskaja, Nikolaus Kibaltschitsch und Jesse Helfmann das Attentat auf den Zaren Alexander II., bei dem dieser getötet wurde. Ich ging in Bremen eben über den Domplatz, als mir das Ereignis, das so große Aufregung in die politische Welt brachte, von einem Beamten mitgeteilt wurde. Sofort eilte ich zu der nahen Börse, wo ich Näheres zu erfahren hoffte. Das Börsenpublikum war auffallend beruhig, was schließlich begreiflich, denn der Tod des Selbstherrschers bewirkte keine Veränderung der Kurse. Dagegen hörte ich mehrfach sagen: »Es ist nur gut, daß die Bomben auch einige von der Polizei getroffen haben.«

Wenige Wochen nachher wurden fünf Mitglieder der Verschwörung, deren Seele Sophie Perowskaja, die Tochter eines hohen Staatsbeamten, gewesen, gehängt.

Sophie Perowskaja hatte freiwillig die Annehmlichkeiten verschmäht, die ihr durch die Stellung ihrer Familie geboten waren, um sich ganz[24] dem Kampfe für die Befreiung des russischen Volkes zu widmen. Sie war erst 27 Jahre alt, als sie durch den Henker starb.

Bei einem früheren Attentat hatten diese Revolutionäre, mit einem »polizeitechnischen« Ausdruck »Nihilisten« genannt8, eine Proklamation erlassen, wo es hieß:

»Wir verabscheuen jeden Mord, aber wenn wir jedes gesetzlichen Mittels beraubt sind, uns des Unrechts zu erwehren und einen Verbrecher zur Strafe zu ziehen, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als Selbsthilfe zu üben und Rächer und Richter in einer Person zu sein.«

Im übrigen forderten diese »Nihilisten« sehr positive Dinge, nämlich eine moderne Verfassung und allgemeines Wahlrecht.[25]

Fußnoten

1 Es war hauptsächlich Bebels Verdienst, daß eine Unterstützungskasse zustande gekommen war, die natürlich nur von den in schwerer Bedrängnis befindlichen Opfern des Sozialistengesetzes in Anspruch genommen wurde.


2 Ich schämte mich dieser Arbeit nicht, was ich für einen Parteigenossen bemerke, von dem ich gehört hatte, er sei in pekuniärer Bedrängnis und dem ich eine Schreibmaschinenabschrift gegen Honorar zuwendete, was aber als eine Beleidigung zurückgewiesen wurde.


3 Dies fürchterliche sinnlich-mordlustige Frauenzimmer hatte achtundzwanzig Giftmorde auf dem Gewissen. Die Stelle, wo sie hingerichtet worden, bezeichnete auf dem Domplatz ein großer Pflasterstein, in den ein Kreuz eingemeißelt war. Dieser Stein war immer bespuckt, womit die Bremer Bevölkerung noch nach fast einem halben Jahrhundert traditionell ihren Abscheu gegen die Giftmischerin bekundete. Ob der »bespuckte Stein« noch existiert, ist mir nicht bekannt; vor zehn Jahren war es, wie ich mich überzeugte, noch der Fall.


4 Pfaffen, Bürokraten, höhere und niedere »Schreiber« taten hier noch ein übriges. Ich erfuhr dies persönlich. Ich verkehrte viel in einem süddeutschen Dorfe, wo mir die Bauern sehr freundlich entgegenkamen. Mit einem Male wurden sie zurückhaltend. Ich konnte mir dies erst gar nicht erklären; später erst erfuhr ich, daß ein höherer »Schreiber« ihnen gesagt hatte, ein Sozialdemokrat habe, wie er auch sonst sei, immer einen moralischen Defekt. Da ich meine Quelle nicht verraten konnte, so konnte ich die Schreiberseele auch nicht öffentlich züchtigen.


5 Ein charakteristisches Beispiel. Ein »liberales« Blatt hatte die Gewohnheit, bei gewissen Gerichtsverhandlungen den Angeklagten stets zu bezeichnen als »einen alten Lumpen und Sozialdemokraten« oder als »einen alten Vagabunden und Sozialdemokraten«. Als sogar aus bürgerlichen Leserkreisen gegen solche infame Art Einspruch erhoben wurde, antwortete das edle Blatt: »Nicht alle Sozialdemokraten sind Lumpen, aber alle Lumpen sind Sozialdemokraten!« Durch öftere Wiederholung des sinnigen Spruches pflegen gewisse Spießbürgerkreise den Zeitgenossen ihren geistigen Tiefstand zu offenbaren.


6 Die Arbeiter nahmen solche Dinge oft mit sehr gemischten Gefühlen auf. So war in einer süddeutschen Stadt der Sonderabzug eines Artikels verbreitet wor den, in dem die nationalliberale Partei angegriffen war. Sie verdiente gewiß eine harte Züchtigung, aber hier war in der Anwendung von Kraftwörtern denn doch die Grenze des Menschlichen überschritten. Das Flugblatt wurde an alle liberalen Großen besonders verschickt. Die Urheber waren sehr befriedigt. Aber am anderen Morgen kam ein Arbeiter, ein treuer Anhänger der Partei, zu mir und sagte in äußerster Erregung: »Und wir sollen nun wieder bei den nationalliberalen Fabrikanten arbeiten.«


7 Eine Unterstützung hatte ich nicht verlangt; das vermieden wir alle peinlich, da wir wußten, daß die pekuniäre Existenz von Marx durch Engels garantiert wurde.


8 Das Wort kommt zuerst in dem Roman »Vater und Sohne« von Turgenjew vor.


Quelle:
Blos, Wilhelm: Denkwürdigkeiten eines Sozialdemokraten. 2 Bde, 2. Band. München 1919, S. 27.
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