Neue Kämpfe

Zu dieser Zeit tauchte eine neue Erscheinung in der inneren Politik auf: Bismarcks Sozialreform. Es konnte dem leiten den Staatsmann nicht verborgen bleiben, daß die mit dem Ausnahmegesetz verfolgten und drangsalierten Arbeiter immer mehr in Erbitterung versetzt und zu unversöhnlichen Feinden des herrschenden Systems gemacht werden mußten. Darum entschloß er sich zu »sozialen Reformen«. 1880 brachte er den Entwurf eines Unfallversicherungsgesetzes ein und da konnte er sehen, wie sehr er den Reichskarren verfahren hatte. Die Sozialdemokraten stimmten zwar dem Grundgedanken des Gesetzes zu, aber sie gaben kund, daß sie von dem Vater des Sozialistengesetzes durch eine »unübersteigliche Kluft« getrennt seien. Die Bourgeoisie witterte in der Vorlage ein ihr gefährliches sozialistisches Zugeständnis, das die Bahn zum sozialistischen Staat eröffne. Ohnehin hatte sich die Bismarck bisher so gefällige nationalliberale Partei gespalten. Die entschiedenen Freihändler hatten eine »Sezession« gebildet.

Dem nun kommenden Wahlkampfe ging die Verhängung des »kleinen Belagerungszustandes« über Leipzig und Umgebung voraus. Bebel, Liebknecht, Hasenclever und zahlreiche andere Parteigenossen wurden ausgewiesen.

Die Neuwahlen zum Reichstage waren auf den 27. Oktober 1881 festgesetzt. Mir wurde lange vor den Wahlen die Kandidatur für den zweiten hamburgischen Wahlkreis angeboten; ich lehnte aber ab, weil ich meinem alten Wahlkreis Reuß älterer Linie treu zu bleiben mich entschlossen hatte, worauf die Kandidatur des zweiten hamburgischen Kreises dem Parteigenossen Dietz übertragen wurde.

Die Wahlen gingen unter einem unerhörten Polizeidruck vor sich. Unsere Wahlflugblätter wurden konfisziert, die Wahlversammlungen verboten. Verbreiter von Flugblättern und Stimmzetteln wurden zahlreich verhaftet und oft lange in Haft behalten. Gensdarmen und Ortspolizisten holten, wo sie konnten, die verbreiteten Flugblätter und Stimmzettel aus den Häusern wieder ab und vernichteten sie. Es wurde der Schwindel verbreitet, sozialdemokratische Stimmen seien überhaupt ungültig. Die sozialdemokratischen Kandidaten waren in vielen Wahlkreisen förmlich unter Polizeiaufsicht gestellt.

Bismarck machte große Anstrengungen, die Arbeiter zu gewinnen. Der bekannte Nationalökonom Adolf Wagner verkündete in seinem Auftrage, es solle ein Tabakmonopol für das Reich eingeführt werden, dessen Ertrag den Arbeitern als »Patrimonium der Enterbten«1 zugewendet[29] werden solle. Kurz darauf verkündete die »Norddeutsche Allgemeine Zeitung«, daß die Regierung darnach trachte, »durch Befriedigung der gerechten Forderungen der Arbeiter den gesunden Kern der sozialistischen Ideen zu verwirklichen und dadurch der revolutionären Richtung der Sozialdemokratie den Boden zu entziehen.« Durch diese Reformen werde das Sozialistengesetz überflüssig werden.

Daß die klassenbewußten Arbeiter dies »Wohlwollen« Bismarcks von sich wiesen, war zu begreifen. Sie wurden noch besonders erbittert durch das Auftreten seines jüngsten Sohnes, der »zum Volk hernieder stieg« und in einer Berliner Versammlung erklärte, der »kleine Belagerungszustand« sei nicht so drückend wie die Hundesperre.

Dabei wurde von den bürgerlichen Parteien, die bürgerliche Demokratie ausgenommen, die Parole von 1878 ausgegeben:

»Fort mit der Sozialdemokratie aus dem Reichstag!

Das Wahlresultat brachte den Regierungen und den bürgerlichen Parteien eine Überraschung.

1878 hatte die Sozialdemokratie noch 437000 Stimmen erhalten. Nunmehr glaubte man sie mit dem Sozialistengesetz niedergerungen und niedergehetzt zu haben. Aber die geächtete Partei erhielt im ersten Wahlgang 311000 Stimmen. Das hatte man nicht er wartet. Die sozialistischen Arbeiter zeigten den herrschenden Gewalten die Zähne. Die Spießbürger, deren Hoffnung die Bismarcksche Polizeiweisheit war, wurden nervös; das »rote Gespenst« erschien ihnen nun nicht nur im Traum, sondern auch in der Wirklichkeit.

Allerdings war im ersten Wahlgang von der Sozialdemokratie kein Mandat erobert, wozu die vielen Unregelmäßigkeiten und der polizeilich-bureaukratische Druck ihr vollgerüttelt Maß beigetragen hatten. Aber die Partei stand in zweiundzwanzig Stichwahlen und eroberte in diesen zwölf Mandate. Ursprünglich waren es dreizehn; aber Liebknecht, der in Mainz und Offenbach gewählt war, gab das Mainzer Mandat ab. Bei der Nachwahl unterlag der nunmehr in Mainz kandidierende Bebel und blieb vorläufig ohne Mandat. Der Fraktion fehlte dieser bedeutende parlamentarische Kämpfer sehr.

Auch ich wurde in Reuß älterer Linie wieder gewählt. Die Parteigenossen hatten mir geschrieben, ich brauchte, wenn ich nicht wollte, nicht persönlich zu kommen; öffentliche Versammlungen würden von der Polizei ausnahmslos verboten und ich sei den Wählern des kleinen Kreises persönlich hinlänglich bekannt. So könnten die Kosten einer Wahlreise erspart werden, und die Verteilung der Drucksachen wollten sie schon besorgen. Mein Hauptgegner war ein großer Bierbrauer, der alsbald das Freibier in Strömen fließen ließ; man erzählte, die Leute hätten es sich in Gießkannen nach Hause geholt. Sie tranken es mit Vergnügen, aber sie wählten den Brauer nicht. Er erhielt zwar im ersten Wahlgang etwa hundert Stimmen mehr als ich, aber es kam zur Stichwahl, und in dieser siegte ich mit 4711 gegen 2613 Stimmen. Diese überraschend starke Mehrheit[30] kam daher, daß mein Gegner Schutzzöllner war, weshalb die Unternehmer der in Reuß so zahlreich vertretenen Textilindustrie nicht nur für mich stimmten, sondern auch für mich agitierten, da ich mich als Gegner der Bismarckschen Schutzzollpolitik bekannt hatte. In Fabrikanten- resp. Protzenviertel zu Greiz fielen die Stimmen so zahlreich auf mich, daß man scherzhaft vorschlug, dort die Hauptstraße nach mir zu benennen.

Die neue sozialdemokratische Fraktion bestand aus Hasenclever (Breslau-Ost), Kräcker (Breslau-West), Liebknecht (Offenbach), Frohme (Hanau), Rittinghausen (Solingen), Grillenberger (Nürnberg), Dietz (Hamburg), von Vollmar (Mittweida), Kayser (Freiberg), Geiser (Chemnitz), Stolle (Zwickau) und Blos (Greiz).

Die Regierung des Bundesstaates Reuß ältere Linie, welche von einem »renitenten Hessen«2 geleitet wurde, hatte ihren Vertreter im Bundesrat gegen das Sozialistengesetz stimmen lassen, weil es ein »preußisches« Gesetz sei. Aber das Gesetz wurde trotzdem sehr strenge angewendet. Mir wurde es einfach unmöglich gemacht, öffentlich zu meinen Wählern zu sprechen. Wenn ich als Redner in einer Versammlung angegeben war, so wurde diese verboten; trat ich aber in der Diskussion als Redner auf, so wurde die Versammlung sogleich von der Polizei aufgelöst. Dieser Zustand brachte in der Masse der Bevölkerung nur Erbitterung hervor. Der Polizeidruck wurde noch stärker, als ich es wagte, den leitenden Staatsmann von Reuß älterer Linie im Reichstage zu verspotten. Als über die Ausführungen des Krankenkassengesetzes durch die Einzelregierungen verhandelt wurde, bat ich, den Mann mit dieser neuen Arbeit zu verschonen. Er vereinige auf sich alle Ministerien, müsse das Auswärtige und das Innere, die Justiz, den Unterricht und den Kultus, die Finanzen, die Armee und die Marine verwalten, und da könne man ihm solche Überanstrengung nicht zumuten. Dieser Spott wurde mir dick angestrichen. Man suchte mir die Verbindung mit meinen Wählern abzuschneiden, was natürlich nicht gelang, denn wir pflegten trotz der übereifrigen Polizeischnüffelei die geheimen Verbindungen um so nachdrücklicher. Dabei machten wir uns häufig das Vergnügen, die Polizei zu foppen und sie dem Gespött der Arbeiter preiszugeben. Dies geschah bald nach der Wahl, als ich in Begleitung Grillenbergers einen Besuch in Greiz abstattete.

Wir beiden hatten als alte Freunde uns sehr gefreut, uns in Berlin wieder zu treffen, und wohnten dort lange Zeit in einem kleinen Zimmer zusammen. Als ich Grillenberger mitteilte, daß ich der Greizer Polizei ein Schnippchen schlagen und ohne ihre Erlaubnis öffentlich sprechen wolle, ging er gleich mit, denn er liebte solche Scherze sehr, und es waren ohnehin einige sitzungsfreie Tage.

Es wurde von den Webern in Greiz ein einfaches Tanzvergnügen veranstaltet und unter der Hand verbreitet, daß ich dazu erscheinen würde. Dies bewirkte, daß meine Wähler, ob nun Weber oder nicht, sich zahlreich[31] einfanden. Auch die Polizei vernahm, daß ich kommen werde, und so wurde ein Gensdarm zu dem Tanzvergnügen abgeordnet, um zu verhindern, daß dort »politische Sachen« vorkämen; namentlich sollte er es verhindern, daß ich zu den Anwesenden spreche, und sollte in diesem Falle sogleich das Tanzvergnügen schließen.

Das Fest verlief von acht bis gegen zehn Uhr ohne Zwischenfall. In zwischen aber nahmen einige Sozialistinnen die Ausführung der infernalischen Planes, den wir ausgeheckt, in die Hand. Der Gensdarm hatte Langeweile und plauderte mit den Leuten, die ihm zunächst saßen. Einige hübsche junge Mädchen setzten sich um ihn herum und brachten eine Flasche delikaten Liqueurs zum Vorschein. Gebrannte Wässerlein – die waren, wie sie wohl wußten, eine Schwäche des Herrn Gensdarmen. Schmunzelnd nahm er erst ein Gläschen, dann noch eins, dann noch eins – dann wollte er aber aufhören, denn »man könnte es sehen und unter den Webern seien gar boshafte Leute«. Die Mädchen wußten ihm aber so um den Bart zu gehen, und der Duft des Liqueurs stieg so köstlich verführerisch in seine Nase, daß er sich schließlich in ein Hinterzimmer führen ließ, um dort ungestört dem Schnapse zu huldigen. »Halb zogen sie ihn, halb sank er hin.« Grillenberger, der mit mir verstohlen die Szene beobachtete, wollte sich, wie Frau Aja sagt, »einen Buckel lachen«. Nach einer Stunde erschien eine der »Verführerinnen« bei mir und meldete mit holdem Lächeln und im schönsten Dialekt: »Är is besorcht und uffgehuben.« Daraufhin nahm ich das Wort zu einer Ansprache an meine Wähler. Daß sie schon darum jubelnd aufgenommen wurde, weil der Polizei ein Schnippchen geschlagen war, läßt sich denken. Auch Grillenberger sprach und seine zündenden Worte erregten eine Begeisterung, die wohl als Bürgschaft dienen konnte, daß man diese Arbeiter mit den kläglichen Polizeimitteln nicht beugen werde. Wir blieben noch lange unter Gesängen und Deklamationen mit den Parteigenossen zusammen.

Als wir unser Nachtquartier aufsuchten, das uns in einem Kämmerchen desselben Hauses bereitet war, ging plötzlich die Tür auf, und es erschien wie ein Geist der unglückliche Gensdarm, der nun seinen Rausch ausgeschlafen hatte. Er beklagte sich bitter über die »Weibsleute«, die ihn »vull gemocht« und »Herr Gänsdarm« angeredet hätten. Er wolle, sagte er, keine An zeige machen, aber ich müsse auch schweigen. Dies sagte ich lachend zu. Daraufhin gewann er sein Selbstbewußtsein wieder, trat vor Grillenberger hin und sagte mit aller polizeilichen Würde: »Und wer sein Sie? Können Sie sich legitimieren?« – Das war mir aber zu bunt. »Augenblicklich scheren Sie sich zum Teufel!« fuhr ich den Menschen an. »Marsch, sonst mache ich morgen einen Bericht ans Landratsamt!« Er knickte zusammen und verschwand.

Die reußische Polizei, welche nicht so gewandt war, wie die preußische in Berlin oder Frankfurt, wurde von uns oft zum besten gehalten. All dies zu erzählen wurde zu weit führen; mag es darum bei dem obigen sein Bewenden haben. –[32]

In Bremen war damals das öffentliche Leben sehr bewegt geworden, nachdem Bismarcks Plan, ein Tabakmonopol einzuführen, bekannt geworden war. Hier, an einem Hauptsitze des Tabakhandels und der Tabakindustrie, waren von diesem Monopol besonders viele Existenzen in Frage gestellt. Die Geschäftsleute wollte sich ihren Gewinn nicht entgehen lassen, und die Arbeiter sollten eine ganz ungenügende Entschädigung erhalten dafür, daß man sie aus ihrem Beruf drängte. Es sah in Bremen manchmal aus, als ob man in einer Revolutionszeit lebte, so aufgeregt waren die Menschen. Wir waren natürlich gegen das Monopol; abgesehen von allem anderen wollten wir der Regierung, die uns mit dem Sozialistengesetz bedrängte, keine Mittel für sozialdemagogische Experimente bewilligen, die uns Abbruch tun sollten. Die Bremer Sozialdemokratie war darum der Bürgerschaft eine willkommene Unterstützung, und ich ward eingeladen, in der großen Versammlung zu sprechen, welche die Kaufmannschaft in der Börse abhielt und wo Dr. Barth das Referat hatte. Ich sprach auch dort und mußte nur staunen, wie die Nationalliberalen gegen ihren sonst so abgöttisch verehrten Bismarck tobten und wetterten. Er hatte sie aber auch an der empfindlichsten Stelle, am Geldbeutel, gepackt.

Sogar der hochmütige Plutokrat H. H. Meier, der Reichstagsabgeordnete für Bremen, stieg nun von der Hohe seines Geldsackbewußtseins hernieder zu den Proletariern. Er erschien in einer Versammlung der Tabakarbeiter, um gegen das Monopol zu sprechen. Man hatte für ihn und für mich einen Tisch weiß gedeckt, an welchem er schon Platz genommen hatte, als ich eintrat. Er wollte mich recht freundlich begrüßen, ich blieb aber sehr kühl und setzte mich auch nicht zu ihm, denn er hatte für das Sozialistengesetz gestimmt, und ich vermochte nicht freundlich zu sein gegen die Leute, die uns geächtet hatten. Unter den anwesenden Tabakarbeitern befanden sich, wie Meier wohl wußte, neun Zehntel Sozialdemokraten. Dessenungeachtet entdeckte er, der zu unseren erbittertsten Feinden gehörte, plötzlich eine Menge von Tugenden an ihnen und schmeichelte ihnen in plumper Weise. Dies Schauspiel, einen der Vertreter des größten Protzentums um materieller Vorteile willen so vor den ihm innerlich tief verhaßten Proletariern kriechen zu sehen, widerte mich an. Ich gab dieser Empfindung in meiner Rede auch Ausdruck, was Meier mit einem versteinerten Lächeln anhörte. –

In dem neuen Reichstag waren die Parteiverhältnisse so verschoben, daß weder eine konservativ-nationalliberale noch eine ultramontan-konservative Mehrheit gebildet werden konnte. Bismarck war offenbar sehr verstimmt. Er warf nun der liberalen Bourgeoisie vor sie habe ihn zu dem Sozialistengesetz getrieben, das die Arbeiter gegen seine Regierung widerspenstig mache und ihm seine »Sozialreform« erschwere, während nun die gleiche Bourgeoisie mit den Arbeitern gegen das Tabakmonopol und die Sozialreform ankämpfe, obgleich doch die Arbeiter die natürlichen Feinde der Bourgeoisie seien.[33]

In dieser »verwickelten« Situation setzte Bismarck seine Versuche, die Arbeiter auf die Seite der Regierung zu ziehen, fort. Man hat ihm nachgerühmt, daß er einer der trefflichsten Kenner des deutschen Volkscharakters sei. Aber er hat den Beweis geliefert, daß er den Klassencharakter der deutschen Arbeiter gar nicht kannte. Sonst hätte er wissen müssen, daß er die Lockpfeife der »Sozialreform« vergebens blasen würde.

Am 17. November 1881 wurde der Reichstag eröffnet mit der bekannten kaiserlichen Botschaft, in welcher die »Sozialreform« angekündigt war. Es hieß, daß es nicht genüge, die Ausschreitungen der Sozialdemokratie zu bekämpfen, sondern es müsse auch das »positive Wohl« der Arbeiter gefördert werden. Die Unfallversicherungsvorlage3 werde dem Reichstage in neuer Bearbeitung wieder vorgelegt werden; dazu auch eine Vorlage betreffend die gleichmäßige Organisation des Krankenkassenwesens. Invaliditätsversicherung und Altersfürsorge sollten nachfolgen. Der engere Anschluß an die realen Kräfte des christlichen Volkslebens und deren Zusammenfassung in der Form korporativer Genossenschaften unter staatlichem Schutz und staatlicher Förderung werde die Lösung von Aufgaben möglich machen, denen die Staatsregierung allein in gleichem Umfang nicht gewachsen sei. Dabei würde auch die Aufwendung erheblicher Mittel notwendig sein, und ebenso weise die Durchführung der begonnenen Steuerreform auf die Erschließung ergiebiger Einnahmequellen aus indirekten Reichssteuern hin, wofür drückende direkte Landessteuern abgeschafft und die Gemeinden entlastet werden könnten. Der sicherste Weg dazu sei das Tabakmonopol und die stärkere Besteuerung der Getränke.

Mit diesem von der Regierungspresse als »hochbedeutsam« bezeichneten Akt einer kaiserlichen Willenskundgebung wurde die »Aera der Sozialreform« eingeleitet. Aber so laut man auch die in der Botschaft enthaltene »Staatsweisheit« pries, so war für die Einsichtigen doch nicht zu verkennen, daß Bismarck sich in einer dunklen Sackgasse befand, aus der er sich herauszutasten suchte. Er versprach den Arbeitern für ihr »positives Wohl« zu sorgen und wollte es doch auch nicht mit den Industriellen verderben, die dabei nervös wurden. Darum versuchte er es mit einem Eiertanz. Den Industriellen gab er die Versicherung, er werde sie mit einer eingreifenden Fabrikgesetzgebung, welche sie am meisten fürchteten, verschonen; gegen die Arbeiter wurde nach der Verkündigung der kaiserlichen Botschaft plötzlich eine »milde Praxis« in der Handhabung des Sozialistengesetzes angewendet. Diese bestand darin, daß man die Arbeiter etwas weniger drangsalierte, als in den drei Jahren zuvor. Versammlungen wurden öfter gestattet; die Arbeiter sollten sich über die ihnen von der Regierung zugedachten »Wohltaten« aussprechen und sich öffentlich von den sozialdemokratischen »Agitoren« lossagen können. Die von Sozialisten gegründeten Blätter ließ man länger bestehen, als bisher,[34] und es wurde auch geduldet, daß sich neue Ansätze zu einer gewerkschaftlichen Bewegung bildeten. Aber der polizeiliche und juristische Apparat des Klassenstaats, der so lange und so intensiv funktioniert hatte, konnte nicht mit einem Male gänzlich stillestehen; das Sozialistengesetz wurde weiter angewendet; es gab Ausweisungen, Verhaftungen und Verurteilungen in Masse. Die »milde Praxis« steigerte nur das Mißtrauen der Arbeiter, während das Tabakmonopol von der Bourgeoisie, als Vorstufe zum sozialdemokratischen Staat dargestellt wurde.

Unter diesen Verhältnissen begann die neue Fraktion ihre Tätigkeit im Reichstage. Sie war aber nicht nur parlamentarische Vertretung der Partei, sondern zugleich auch die Parteileitung, was sich ganz von selbst aus den Umständen ergab, denn das Reichstagsgebäude war der einzige Platz in Deutschland, wo Sozialdemokraten unbehelligt von der Polizei zusammenkommen konnten. Mit dem Verschwinden des Sozialistengesetzes wurde die Fraktion wie der einfache parlamentarische Vertretung. Sie stand aber auch während des Sozialistengesetzes nicht, wie man glaubte, an der Spitze einer allgemeinen geheimen sozialdemokratischen Verbindung, die sich über ganz Deutschland erstreckte. Eine solche wurde, namentlich auf Betreiben Bebels, sorgfältig vermieden, um einen großen Prozeß zu vermeiden. Die geheimen Verbindungen blieben lokal, was nicht verhinderte, daß der Einfluß der Fraktion als Parteileitung ein mächtiger wurde. Die vielen Geheimbundprozesse, die später uns gemacht wurden, mußten sich auf einzelne Orte oder Bezirke beschränken, und erst 1889 machte ein preußischer Staatsanwalt den Versuch, die Sozialdemokratie als einen über Deutschland sich erstreckenden Geheimbund vor Gericht zu bringen. Aber der Anfang fiel für den Staatsanwalt negativ aus.

Im neuen Reichstage wurde die Sozialdemokratie anders empfangen als früher, nachdem sie sich als eine Macht erwiesen, die weder durch die Polizei- und Staatsgewalt, noch durch den gehässigsten Kampf der bürgerlichen Parteien zu überwinden war. Dazu kam, daß der streng konservative Herr von Levetzow, der zum Präsidenten gewählt war, sein Amt mit vollendeter Unparteilichkeit und mit ritterlichem Anstand ausübte. Als er sein Amt antrat, sagte er, daß er die Würde des Reichstages wahren werde, gegen wen es auch sei. Dies galt dem nebenansitzenden Reichskanzler. Levetzow benahm sich speziell gegen uns liebenswürdig und gerecht. Dieser Vollblutjunker trat hier in den vorteilhaftesten Gegensatz zu dem ehemaligen Demokraten Forckenbeck. Als später Levetzow zu den Überagrariern ging, schlug sein Benehmen gegen uns ins Gegenteil um.

Er besaß viel Mutterwitz. Als bei einer sehr langen Debatte ein Redner von ihm öfter unterbrochen wurde und sich beschwerte, daß er in seinen Ausführungen dadurch beschränkt sei, antwortete Levetzow: »Jeder Redner ist beschränkt.«

Die bürgerlichen Parteien begannen jetzt auch vom »positiven Wohl« der Arbeiter zu reden; als wir aber einen Antrag auf Aufhebung aller[35] Ausnahmegesetze stellten, konnten wir nur mit Mühe die uns fehlenden drei Unterschriften aufbringen.

Am 10. Dezember 1881 kam die Anwendung des Sozialistengesetztes im Reichstage zur Sprache. In seiner Geschichte der deutschen Sozialdemokratie sagt Franz Mehring über diese Verhandlung:

»In der Debatte über die Jahresberichte, die den kleinen Belagerungszustand in Berlin, Hamburg und Leipzig begründen sollten, sprachen diesmal Hasenclever und Blos als Redner der Partei. Sie schnitten nicht so gut ab, wie neun Monate früher Auer und Bebel; einzelne ihrer Äußerungen führten zu lebhaften und scharfen Auseinandersetzungen im »Sozialdemokrat«. Immerhin aber gelang es ihnen, den Fechterkunststückchen Puttkamers durch die Parade zu fahren. Es war so recht in der Manier dieses Poseurs, daß es seine Niederlage damit verdecken wollte, daß er sagte. Hasenclever habe die Frage nicht aus »großen Gesichtspunkten« aufgefaßt. Das fehlte gerade noch, die Polizeischurkereien der Horsch und Rumpf4 zu besingen, wie Vater Homer die Taten Achills und Hektors besungen hat.«

Indem ich heute die zu dieser Affaire gehörigen Materlallen überblicke, gestehe ich gerne und aufrichtig zu, daß meine damalige Rede kein Meisterstück war und viel besser hätte sein können. Ich darf mich aber wohl damit trösten, daß auch sonst die Reden, die im Reichstage gehalten werden die sozialistischen mit inbegriffen, nicht lauter Meisterstücke sind. Jedenfalls war das Geschrei, das einige deutsche sozialistische Blätter im Ausland erhoben, weil ich ihre Phraseologie nicht angewendet, übertrieben; am überflüssigsten war wohl der Lärm, den ein Mann machte, der fern vom Schuß seine Existenzmittel aus der liberalen bürgerlichen Presse zog und später an der Panamaaffaire beteiligt war.

Ernsthaft war dagegen der Angriff, welchen der »Sozialdemokrat« gegen mich unternahm, weil ich einen seiner Artikel gewissermaßen desavouiert hatte, der von der Ermordung eines österreichischen Aristokraten durch seinen Diener handelte und mir sehr unbequem wurde, weil er von Puttkamer in niederträchtigster Weise gegen uns ausgenutzt werden konnte. Ferner wurde eine Stelle in meiner Rede so ausgelegt, als hatte ich bestritten, daß der »Sozialdemokrat« ein Organ der deutschen Sozialdemokratie sei. Der betreffende Satz war in der Tat ungeschickt gefaßt und dazu mag sein Teil beigetragen haben, daß ich infolge eines vorhergegangenen Streites nervös und verärgert auf die Rednerbühne gekommen war.

Ich erklärte sogleich, daß ich den »Sozialdemokrat« durchaus als Organ der deutschen Sozialdemokratie anerkenne; wie ich immer treulich die Parteidisziplin inne gehalten. Die Fraktion gab alsdann in Nr. 8 des »Sozialdemokrat« vom 16. September 1882 eine Erklärung ab, welche den Streit schlichtete und beide Teile befriedigte. Sie lautete:[36]

»Um ein für allemal falschen Auffassungen des Verhältnisses der deutschen Sozialdemokratie zu dem in Zürich erscheinenden »Sozialdemokrat« zu begegnen, erklären wir:

»Der »Sozialdemokrat« ist das offizielle Organ der deutschen Sozialdemokratie und hat den Zweck und die Aufgabe, die Parteigenossen in bezug auf die Parteibewegung auf dem laufenden zu halten und die Grundsätze der Partei, wie sie in unserem Programm niedergelegt sind, zu verfechten. Das Blatt soll ferner ein getreuer Spiegel der Anschauungen und Stimmungen sein, die unter dem Druck des Ausnahmegesetzes innerhalb der Partei zutage treten, und demgemäß ist die Redaktion verpflichtet, allen derartigen Anschauungen und Stimmungen Raum zu geben, vorausgesetzt, daß dieselben den Prinzipien und Interessen der Partei nicht widersprechen.

Indem wir also den »Sozialdemokrat«, der seit seinem Bestehen dieser Aufgabe nach Möglichkeit gerecht geworden ist, rücksichtslos als das offizielle Parteiorgan anerkennen. übernehmen wir aber nicht die Verantwortlichkeit für jeden einzelnen Artikel oder jeden einzelnen Ausdruck. Eine so weit gehende Verantwortlichkeit hat auch den früheren Parteiorganen gegenüber nicht bestanden und kann jetzt um so weniger bestehen, als schon der Erscheinungsort des Blattes den Parteigenossen in Deutschland eine unmittelbare Einwirkung im einzelnen zur Unmöglichkeit macht.«

Diese Erklärung, die mich vollständig deckte, war außer von sämtlichen Fraktionsmitgliedern auch von Auer und Bebel unterschrieben, die damals der Fraktion nicht angehörten.

Da ich in einer persönlichen Erklärung bemerkt hatte, daß zur Betätigung einer sozialdemokratischen Gesinnung nicht immer revolutionäre Kraftphrasen notwendig seien, so entspann sich über diese Frage noch eine Debatte im »Sozialdemokrat«, an der ich mich aber nicht mehr beteiligte.

Aber viel näher als alle diese Dinge ging mir ein schmerzliches Ereignis um diese Zeit, das mich tief bewegte. Am 2. Dezember 1881 war Jenny Marx gestorben, die Gattin unseres großen Vorkämpfers. Wir hatten öfter miteinander korrespondiert, und ich hatte sie nur einmal – in Mainz – gesehen, aber der Eindruck, den die seltene Frau auf mich machte, war ein dauernder geblieben. Sie war damals etwas über sechzig Jahre alt gewesen, hatte aber den Eindruck einer rüstigen Fünfzigerin gemacht. So gut hatte ihre treffliche Konstitution und ihr unerschütterlicher Lebensmut den schrecklichen Widerwärtigkeiten, die sie erdulden mußte, widerstanden. Man kann sich denken, was der Verlust dieser Lebensgefährtin für Karl Marx bedeutete, die sein ganzes Dasein erhellte und erwärmte. »Sie hat«, sagte Engels in einem Nachruf, »die Schicksale, die Arbeiten, die Kämpfe ihres Mannes nicht nur geteilt, sie hat daran mit dem höchsten Verständnis, mit der glühendsten Leidenschaft Anteil genommen.«[37]

Der Achtundvierziger Stefan Born – später Professor an der Universität Basel – berichtet in seinen Lebenserinnerungen über einen Besuch, den er zu Anfang des Jahres 1849 bei der Familie Marx, die er von Brüssel und Paris her kannte, in Köln machte. Er erzählt:

»Zum ersten Male kam in meiner Gegenwart das Gespräch auf Familienverhältnisse. Es war die Rede von der politischen Stellung des Herrn von Westphalen 5 im Revolutionsjahr; er wir ein ausgesprochener Reaktionär. »Dein Bruder«, sagte lachend Marx zu seiner Frau, »ist so dumm, daß er noch einmal preußischer Minister wird.« Frau Marx, die über diese mehr als freimütige Bemerkung errötete, lenkte das Gespräch auf einen anderen Gegenstand. Die Prophezeiung ihres Mannes ist bekanntlich eingetroffen. Ich habe einige Jahre später mich manchmal jenes Wortes erinnert und dabei an den Gegensatz zwischen den beiden Geschwistern gedacht. Er, der höchste Staatsbeamte in der Zeit der härtesten Reaktion und deren willigster Diener; sie im Exil und nur zu oft die Beute der drückendsten Lebenssorge; doch treu sich anschließend an den Gegenpol ihres Bruders, von dem eine Welt sie für immer schied. Mich berührte der Gedanke daran stets als tief tragisch.«

Zwischen den Zeilen ist hier zu lesen, daß der biedere Born in einer kleinen Anwandlung von Philisterhaftigkeit den Marxschen Witz über seinen Schwager in Gegenwart von dessen Schwester als etwas »frivol« empfunden hat. Daß Frau Marx auch so empfunden haben soll, kann ich mir nicht denken, denn sie besaß einen echten Humor und mußte Dinge erleben, die viel tragischer waren, als das Verhältnis zu ihrem Bruder. Wenn sie errötete, dann vielleicht darüber, daß sie solch einen Bruder hatte! –

Der Reichstag lehnte das Tabakmonopol, das von Vollmar in einer glänzenden Rede bekämpft wurde, ab und damit war das »Patrimonium der Enterbten« in blauem Dunst verflüchtigt. Dann ging man an die Beratung des von der Regierung vorgelegten Kranken- und Unfallversicherungsgesetzes, welche beiden Entwürfe einstweilen in einer Kommission verschwanden.[38]

Fußnoten

1 Väterliches Erbteil.


2 Ein Kurhesse, der die in seinem Vaterland 1866 vorgegangenen Veränderungen nicht anerkennen will.


3 Der erste Entwurf wir von den bürgerlichen Parteien so zugerichtet worden, daß ihn der Bundesrat ablehnen mußte.


4 Horsch, ein Lockspitzel in Frankfurt; Rumpf, der später in Frankfurt ermordete Polizeirat und Sozialistenvertilger.


5 Der schon erwähnte Bruder von Jenny Marx, der von 1850 bis 1858 preußischer Reaktionsminister war; er starb 1876 im 77. Jahre.


Quelle:
Blos, Wilhelm: Denkwürdigkeiten eines Sozialdemokraten. 2 Bde, 2. Band. München 1919, S. 39.
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