Achtzehnte Wahrnehmung.

[345] Einer der hervorstechendsten Züge in dem Seelenbilde dieser Menschen ist der Hang nach zerstreuenden Vergnügungen. Der große Zweck ihres täglichen Lebens ist der, zu ergetzen, und sich ergetzen zu lassen. Der Grad, wie jemand diesen doppelten Zweck zu erreichen weiß, bestimmt die Begriffe, die man sich von seinem Verdienste um Andere und von seiner eigenen Glückseligkeit macht. »Er ist ein amüsanter Mann, sie ist eine amüsante Frau,« das ist das höchste Lob, welches von Seiten dieser Herren und Damen einem Sterblichen in ihrer deutsch-französischen Sprech-art widerfahren kann, weil es den Glücklichen, der damit beehrt wird, zu gleich für den liebenswürdigen, besten und verdienstvollsten Menschen erklärt. »Er oder sie ist weder[345] amüsant, noch amüsable,« das ist das traurige Verwerfungsurtheil, welches den Unglücklichen, über den es ausgesprochen wird, von allem Verdienste entblößt und ihn dem Kaltsinne und der Geringschätzung, wo nicht gar der Verachtung der ganzen Gesellschaft preis gibt.

Nicht ohne Ursache scheinen die höhern Klassen zur Bezeichnung ihres Vergnügens das französische Wort amüsiren dem ihm antwortenden deutschen vorgezogen zu haben. Der deutsche Ausdruck Vergnügen oder Ergetzen begreift nämlich auch alle die simpeln, natürlichen, reinen und wohlthätigen Freuden, die recht eigentlich menschlichen Freuden der Thätigkeit, der Geistesbeschäftigungen, des Naturgenusses, der freundschaftlichen Herzensergießung, der Mitfreuden über Anderer Wohlergehn und die der stillen häuslichen Glückseligkeit in sich – Dinge, wofür die verfeinerten und üppigen Weltleute so ganz keine Genießkraft mehr zu haben pflegen! Das französische Amüsiren hingegen deutet mehr und fast ausschließlich auf die erkünstelten und starkgewürzten Vergnügungen des Witzes und der Einbildungskraft, an denen das Herz entweder gar keinen, oder nur einen geringen Antheil nimmt; Vergnügungen, welche nur zerstreuen, welche den Menschen nur aus sich selbst herauslocken, um ihn zu einer behaglichen Vergessenheit seiner selbst und seiner Pflichten einzuwiegen.[346] Und diese Arten von Zerstreuungen sind es also, nach denen die durch verfeinernde Ueppigkeit entmenschten Menschen einen so überwiegenden Hang in sich zu empfinden pflegen.

Aber verstehe mich nicht unrecht, mein Kind! Ich bin weit davon entfernt, die Mönchslehre predigen zu wollen; weit entfernt, alle Arten von Vergnügungen der feinen Welt an sich selbst für schädlich, oder, welches völlig einerlei ist, für sündlich zu erklären. Viele derselben sind vielmehr von der Art, daß auch ein wohlgebildetes, tugendhaftes Gemüth, der Reinigkeit seiner Gesinnungen unbeschadet, gar wohl Antheil daran nehmen darf. Aber der so häufige Mißbrauch dieser erkünstelten Ergetzlichkeiten, das dabei so gewöhnliche Hinüberschweifen über die Gränzen der Mäßigkeit, der Ordnung, der Sittsamkeit, und vornehmlich der viel zu häufige und zu lange Genuß derselben, die sind es, welche auch die unschuldigsten unter ihnen in Gift verwandeln; welche alle Häuslichkeit aufheben, allen Geschmack an Naturfreuden und Familienglückseligkeit zernichten, alle Nerven des Geistes und des Leibes schlaff machen, alle Lust und Fähigkeit zu einer einförmigen und ausdauernden Geschäftigkeit in uns ersticken, und in der wüsten Seele nichts als Ekel an unsern Berufspflichten und ein immerwiederkehrendes Sehnen nach neuen berauschenden Zerstreuungen zurücklassen.[347] Man fängt an, sich selbst zur Last zu fallen, sobald man allein oder in Gesellschaft seiner gewöhnlichen Hausgenossen ist; die an stärkere Spannungen nun einmahl gewöhnte Seele fühlt sich wie vernichtet, sobald diese Spannungen aufhören; es geht ihr dabei, wie dem an den unnatürlichen Zwang der Schnürbrust gewöhnten Leibe unserer Damen, der zusammenfällt, sobald er von der stützenden Kraft des Fischbeins entkleidet wird. Dann fällt auch sie, ihrer nur durch Kunst unterhaltenen Federkraft beraubt, in sich selbst zusammen; weiß mit sich selbst nicht zu bleiben; alles um sie her kommt ihr nun so öde, so einförmig, so kahl vor! Sie fühlte Bedürfnisse, und weiß nicht, welche; greift bald zu diesem, bald zu jenem Nothbehelf von Beschäftigung und Unterhaltung, und wird durch keinen befriediget. Endlich schlägt die frohe Stunde der Prachtversammlung (Assemblee) des Schauspiels, des Larventanzes oder einer ähnlichen Zusammenkunft der schönen Welt: und sie erwacht aus dem Zustande der Vernichtung; ihre Schnellkraft ist plötzlich wieder hergestellt, und fröhlich wallt sie dahin, wie ein Fisch, der eine Zeitlang auf dem Trockenen lag, und durch einen glücklichen Sprung sich nun auf einmahl wieder in seinen natürlichen Lebensstoff versetzt siehet.

Dieser Hang zu Zerstreuungen und dieser Ekel an allem, was einfach, natürlich und häuslich heißt,[348] ist eine so unausbleibliche Folge des großen Weltlebens, daß wir vollkommen berechtiget sind, ihn, so wie ich jetzt gethan habe, unter die Hauptkarakterzuge der verfeinerten Menschheit zu rechnen.

Quelle:
Campe, Joachim Heinrich: Vaeterlicher Rath für meine Tochter. Braunschweig 1796 [Nachdruck Paderborn 1988], S. 345-349.
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