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[12] So verlebte ich meine Jugend in der alten Bischofsstadt Naumburg und sog meine geistigen Interessen für die Zukunft auf dem dortigen Domgymnasium ein, das ich mit der Versetzung nach Obersekunda[12] verließ. Erst später von der Fremde aus bekam ich Augen für die Schönheit der landschaftlichen Umgebung Naumburgs und vor allem auch für die Schönheit seines Domes, dessen Stiftergestalten ich immer als mein persönliches Eigentum empfinde. Denn ich habe sie in jeder Lebensperiode in mir neu und tiefer erlebt. Ich war kein tatkräftiger Junge, ganz verträumt und daher auch kein fleißiger Schüler. Zweimal blieb ich sitzen, brauchte vor der Versetzung in der Regel Nachhilfestunden und kam meistens als Letzter mit. Er muß sich sein Träumen abgewöhnen, hieß es in der Regel auf der Zensur, und später wurde dann auch noch in ihr von seiner schädlichen Vielleserei gesprochen. Was habe ich in den Jahren des Heranwachsens alles verschlungen! Die Marlitt und wer sonst noch in den alten Jahrgängen der Gartenlaube geschrieben hatte, unzählige Schundromane in Lieferungen, die mir andere borgten, auch zeitweise Indianergeschichten, Gerstäcker inbegriffen, bis man sich dann zu Gustav Freytag, Scheffel, Dickens, Scott u.a. hinauflas. Ich war ein Kind, das wenig spielte und nicht mitlachte, wenn die Klasse in ausgelassener Heiterkeit über den Witz des Lehrers erdröhnte, so daß mich dieser »den Philosoph« nannte. So wurde ich leider, muß ich zu meinem Leidwesen gestehen, insofern ein Musterschüler, als ich meine Lehrer nie ärgerte. Der Lohn blieb nicht aus, als ich von der Schule abging, bekam ich noch feierlich in der Aula außerhalb der gewöhnlichen Prämienverteilung eine besondere Trostprämie für meine Haltung als Schüler mit der privaten Prophezeiung des Direktors, ich würde wohl wiederkommen, um das Schulstudium zum Abschluß zu bringen. Aber ich wußte es selbst besser, daß ich eigentlich gar nichts wußte, sondern nur immer riet. Einmal glückte es mit gut, dann gab es eine zwei, das andere Mal mißglückte es und es gab eine vier. Beides glich sich dann zu einer drei aus.
So wurde ich mit sechzehn Jahren Lehrling auf einem Rittergut bei Merseburg, fern jeder Landstraße. Zwarhatte ich auch daran gedacht, in Verfolg meiner Leseliebhaberei Buchhändler zu werden,[13] aber der Vater riet mir zur alten Familientradition, und ich hoffte, daß wenigstens ein Teil von ihr mir im Blute liegen würde. Ich habe nach bestandener Lehrzeit noch zwei Stellungen als Verwalter gehabt, die letzte auf dem Rittergut Kreipitzsch, zu dem auch die Rudelsburg bei Bad Kösen gehört. Ich tat als »lütter Onkel Bräsig« oder auch als »Fritz Triddelsitz« meine Pflicht, aber ohne innere Anteilnahme an Kühen, Schweinen und anderem Viehzeug. Bei den Feldfrüchten schmeckte ich mehr die harte Arbeit, als daß mich die Beobachtung ihres Wachsens innerlich beschäftigte. Im Grunde geizte ich nach jeder freien Stunde, in der ich mir angehören konnte. Irgendwie war ein dunkler Drang in mir, über mich hinauszukommen, darum las ich bis tief in die Nächte hinein. Allotria treiben nannte es der Chef, der es ungern sah. Später wurde mir klar: Meine Entwicklung mußte erst durch viele Menschen, Bücher und Bilder hindurchgehen, ehe ich in das nahe Verhältnis zu Natur und Geistigem kam, das ich heute habe.
Da kam es anders über Nacht. Am 31. März abends zog ich noch fröhlich auf dem Turm des Schlosses die Fahne auf, damit sie am 1. April zu Bismarcks Geburtstag weit über das Saaletal hinflattern sollte. Am anderen Morgen war mir die Gestalt Bismarcks etwas ganz Fremdes. Eine rätselhafte Entschlußunfähigkeit und tiefe Selbstvorwürfe waren über mich gekommen, ich war zu allem Handeln unfähig. Die Schwermut, die alte Familienkrankheit, hatte mich überfallen und sollte dreiundzwanzig Jahre mein Leben in periodischem Auf und Ab bestimmen.
Das erste Gegenmittel waren allerlei ärztliche Heilversuche. Fort vom Lande! Dann ein anderer Beruf und Dazwischenlegen des Militärdienstjahres als Einjähriger in Dresden.
Dann wurde ich mit einundzwanzig Jahren Buchhändler.
Ich hatte bei dieser Wahl weniger eine bestimmte Vorstellung, was mir dieser Beruf geben würde, als daß ich mir sagte, ich wollte den Beruf wählen, bei dem Lesen nicht ein Hindernis sei.
So lernte ich, mehr durch Zufall hingeraten, vom 1. Oktober 1888[14] an in dem theologischen Verlag Eugen Strien in Halle und ging darauf zur Ausbildung im Sortiment in die Stubersche Universitätsbuchhandlung nach Würzburg. Dann unterbrach ich meine buchhändlerische Tätigkeit durch einen Sommeraufenthalt in Genf, um dort Französisch sprechen zu lernen. Im Anschluß daran unternahm ich eine große Radtour durch Savoyen und über die Provence nach Marseille, dann die Pyrenäen entlang an der Küste bis Bordeaux und zuletzt quer durch Südfrankreich bis Lyon. Im Herbst nahm ich wieder bei Max Mencke in Erlangen Stellung, orientierte mich dann später in der Stellung eines Geschäftsführers in der Huwaldschen Buchhandlung in Sangerhausen über die Ansprüche der Kleinstadt, und schließlich suchte ich in der Bielefeldschen Hofbuchhandlung in Karlsruhe hinter die Geheimnisse des Antiquariats zu kommen. Mittlerweile war ich nahezu achtundzwanzig Jahre alt geworden, da starb 1895 mein Vater, und ich hatte mein bescheidenes väterliches Vermögen selbst in der Hand. Nun stand es fest: ich gehe wenigstens ein Jahr lang auf Wanderung mit Tornister nach Italien, um endlich einmal nicht mehr täglich in verkrampftem Willen zu leben, um Lebensmut zu gewinnen und Schönheit zu trinken.
Wie ich im Ausgang meiner buchhändlerischen Wanderzeit über meine menschlichen Erfahrungen im Kollegenkreis dachte, zeigt mein erster, in einem Gehilfenblatt »Unser Blatt« (1894) veröffentlichter Aufsatz, der das Thema behandelte: »Erzieht der Buchhandel Charaktere?« Dort heißt es u.a.: »Es ist ein Dünkel, immer von den Idealen des Buchhändlers zu reden, die schließlich bloß darauf hinauslaufen, sich hinter Bücher zu vergraben und sich um das Weltgetriebe möglichst wenig zu kümmern. – Welche Naturen sind es überhaupt, die sich aus Neigung zum Buchhandel wenden? Sind es diejenigen, welche in wilden Indianerkämpfen Häuptlinge sind, oder sind es die, welche zur Mutter nie mit zerrissener Hofe kommen, die sogenannten artigen Kinder? Gewiß letztere, denn wenn jene herumtollen, schmökern und streben sie zu Hause, schauen höchstens verliebt nach des Nachbars Töchterlein mit den langen Zöpfen, bis sie[15] sich einmal mit einem allzu liebenswürdigen Lehrer herumärgern und dann auf die Schuldisziplin pfeifend sich den Weg in die Freiheit bahnen und mit dem Einjährigen in der Tasche, manchmal auch ohne dasselbe, sich dem Buchhandel in die Arme werfen. Denn man handelt dort nicht mit Heringen, Butter und Käse, sondern hat das Neueste der Literatur zur Hand und wird dadurch spielend von selbst klüger! O goldene Freiheit, zumal wenn du in eine Lehrlingsfabrik geraten bist! Dort wird der Unglückliche in Reinkultur gezüchtet und bleibt drei Jahre lang an einem Posten, er übt sich im Leiterklettern, Fakturenordnen, Bindfadenzusammenknüpfen, Büchereinpacken und – im Bedienen der Kunden. Doch sollen es nicht alle, wenn man dem Gerücht glauben darf, zu letzterem bringen; manchmal ist man auch zu schüchtern, um mit dem Publikum zu verkehren. Aber da ein bescheidenes Wesen stets eine Tugend ist, so kommt es vor, daß er solche Bescheidenheit noch als besonderes Lob ins Zeugnis bekommt. In der Tat, bescheiden kann man ja nie genug in der Stellung seiner Gehaltsansprüche sein. Wie bezeichnend! Im Erwerbsleben heißt es stets, wie komme ich meinem Konkurrenten vor, und derjenige ist der beste Geschäftsmann, der ein offenes Auge zum Sehen und Urteilen hat. Sicherlich hat mancher Kaufmann, zumal wenn er sich in fremden Ländern herumgetrieben hat, ein klareres Urteil und mehr gesunden Menschenverstand, als mancher Gelehrte, der die Welt mit dickleibigen Folianten beglückt. Doch dazu ist keine Bescheidenheit nötig, sondern Rücksichtslosigkeit und kühnes Wagen. Wenn man auch von den Wanderjahren des Buchhändlers redet, so gibt es doch noch genug, die ausgelernt haben und dann noch jahrelang in derselben Stellung bleiben und glauben, es sei ein Beweis besonderer Tüchtigkeit, solange ausgehalten zu haben. Arbeitsmaschinen sind sie geworden und bleiben es auch, und sollte einmal der Verband Gelder übrig haben, wäre es kein Fehler, wenn er sie ins Seebad schickte zur Stärkung des Rückgrates. Doch auch das Leben derer, die wandern, ist nicht übermäßig anspannend. Ein Geschäftsreisender kommt oft genug ungelegen und meistens hängt es von seiner Menschenkenntnis,[16] die die Stimmung des Käufers zu Rate zieht, von seiner Geschicklichkeit resp. Mundwerk ab, wie sich neue Artikel einführen. Das Publikum hingegen, welches in den Laden kommt, will Bücher kaufen, Ansichtssendungen erfordern nur ein kürzeres Einarbeiten in den Geschmack bestimmter Leute, die stets in den Konten wiederkehren, die Ausläufer sind auch nicht so rabiat wie polnische Pferdeknechte, und so ärgert man sich höchstens über seinen nervösen Chef, bis man es gewohnt ist und sich nichts mehr draus macht. Schließlich wird man über all dem Kleinigkeitskram selbst nervös, im Laufe der Zeit vielleicht auch Chef und ist nicht ein Haar besser als die, an denen man früher so manches auszusetzen hatte.«
Ich habe aber als Gehilfe nie abseits von meinen Kollegen gestanden und gehörte damals auch mit zu den Gründern der »Allgemeinen Vereinigung Deutscher Buchhandlungsgehilfen«.
Einen Winter lang bereitete ich mich nun im Elternhaus zu Naumburg für Italien vor. Noch wußte ich gar nicht, in welcher Weise ich selbständig werden wollte und ob ich mir überhaupt die nötige Nervenkraft zum Lebenskampf zutrauen dürfe, da kam der Entschluß, Verleger zu werden, beinahe über Nacht. Ich hatte in Karlsruhe den jungen Maler E.R. Weiß kennengelernt. Er war bereits trotz seiner achtzehn Jahre Mitarbeiter am »Pan«, der neugegründeten großen Kultur- und Kunstzeitschrift, die die künstlerische und literarische Revolution der neuen Zeit einleitete. Seinem Einfluß habe ich hauptsächlich meine spätere Hinwendung zu neuzeitlicher Bücherausstattung zu danken. Seine Not aber, einen Verleger für seine Gedichte zu finden, zeitigte meinen Entschluß, Verleger zu werden. Ich habe die näheren Einzelheiten unserer Bekanntschaft in einem längeren Aufsatz erzählt, den ich für die zu seinem fünfzigjährigen Geburtstag im Insel-Verlag erschienene Festschrift schrieb.
Schon war ich Frühjahr 1896 bereits in Italien unterwegs, da bekam ich die Zusage von Ferdinand Avenarius, dem Kunstwart-Herausgeber in Dresden, daß er seine kommenden Bücher bei mir[17] verlegen wolle. Er wolle gern bis zu meiner Rückkehr warten, schrieb er, aber ich möge doch wenigstens in diesem Jahre noch sein Gedichtbuch »Lebe« in neuer Auflage herausbringen. So kam es, daß ich im Herbst 1896, früher als ich eigentlich wollte, nämlich am 14.September, dem Geburtstag meiner Mutter, offiziell die Börsenblattanzeige über die Verlagsgründung veröffentlichte. Auf dem von E.R. Weiß mit dem Marzocco geschmückten Briefbogen aber stand: »Verlag für moderne Bestrebungen in Literatur, Sozialwissenschaft und Theosophie.« Zu der letzteren ist es nie gekommen, ihr Begriff war für mich damals eine etwas unklare Synthese von Philosophie und Religion. Freilich der Verlag als solcher kümmerte mich im ersten Verlagsjahre noch herzlich wenig mit seinen drei Gedichtbüchern. Freund Thal in Leipzig nahm mir die Herstellungsarbeiten und den Vertrieb ab. Die Ausstattung seiner Gedichtbücher nahm Weiß aber selbst in die Hand, und es wurde grundsätzlich nicht das geringste Geld dabei gespart. Natürlich wurde die Auflage von »Die blassen Cantilenen« gleich ganz auf Japanpapier und »Elenora« auf kostbarem Elfenbeinkarton gedruckt. Ich zog weiter auf Wanderungen kreuz und quer, bald war ich im Apennin, bald in dem italienischen Alpengebiet, bald an der Adria, dann wie der an der Riviera, in Marseille und Korsika. Im Winter dann in Rom, Neapel, Sizilien und Tunis. Ich wollte gerade zu den Exkursionen des Archäologischen Instituts nach Griechenland gehen, zu denen ich mich angemeldet hatte, da brach der Krieg Griechenlands mit der Türkei aus. So kehrte ich im Mai 1897 früher nach Deutschland zurück als ich beabsichtigt hatte, mit dem Entschluß, mich in Leipzig niederzulassen. Inzwischen hatte ich im Winter von Rom aus Hans Blum zu einem Buch über die Revolution 1848 gewonnen und zu gleicher Zeit mit Wilhelm Bölsche ein Buch über das Liebesleben in der Natur verabredet, das sich zu dem bekannten dreibändigen Werk auswuchs.
Wenn ich von Landsleuten in Italien gefragt wurde, warum ich von Ort zu Ort zog, antwortete ich: Ich wolle meine Persönlichkeit[18] ausbilden. Auf diese Antwort hin unterblieben in der Regel alle weiteren neugierigen Fragen. Was hatte ich eigentlich in Italien für meinen Beruf gewonnen? Ich wußte es erst nachher, was ich dort gewollt hatte. Ich hatte dort im Verkehr mit Künstlern, mit Volk und Landschaft, das angelesene Denken abgestreift. Ich begann unbefangen dem, was ich sah, gegenüberzustehen und mir aus dem Erleben heraus ein Urteil zu bilden. Etwas schüchtern geschah das auch der alten Kunst gegenüber, ich war aber noch zu wenig vorgebildet und schloß mich eng an Jakob Burckhardt an. Aber über Raffael war man trotzdem hinaus und lebte hauptsächlich in der Frührenaissance.
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