[386] Ich finde nöthig, meine geneigsten Leser, zu benachrichtigen, daß uns die Herren Vertheidiger der Practischen Religion Jesu, in dem, was ich aus Ihnen § 44 dieses 2ten Theils meines Lebens-Laufs p. 471 angeführet, mit einer sogenannten dienstwilligen Lügen, oder einem, der werthen Christenheit zu allen Zeiten fast unentbehrlichen Gottsehligen Betruge aufgewartet.
Ein guter Freund hatte ihnen in einem Send-Schreiben, wegen der, bey aller Gelegenheit von ihnen auf das äußerste heruntergemachten Menschlichen Natur, ein wenig das Gewißen gerühret, und ihnen wohlmeinend zu bedencken gegeben, ob sie auch den Rechten Weg zur Vertheidigung der practischen Religion Jesu eingeschlagen haben möchten, wenn sie fortfahren solten, der Menschlichen Natur alle Kräfte abzusprechen, etwas Gutes zu thun?
Die guten Herren schienen über diese unvermuthete Zwischen-Rede, allerdings in ziemliche Verlegenheit gerathen zu seyn, und sahen wohl, daß sie gegen Leute, die die Biblischen Aussprüche vor nichts anders, als Gedancken fehlbarer Menschen ansahen, nicht mit Beweis-Gründen aus der Bibel, bey diesem Satze aufgezogen kommen müßten: Gleichwohl war ihnen an ihrem bisher erworbenen Ansehen viel zu viel gelegen, als daß sie aufrichtig hätten gestehen sollen, daß sie gefehlet hätten.
Es war also nichts anders zu thun2, als abermal einen, in vorigen Zeiten schon öfters gelungenen, sogenannten Gottsehligen Betrug zu wagen, und ihren, grösten Theils gläubigen und sich auf ihre Redlichkeit verlaßenden Lesern, weiß zu machen, es hätten auch kluge Heyden das angegebene Verderben der Menschlichen Natur, bereits aus dem Lichte der Vernunft erkannt. Der ehrliche Seneca muste es also auf sich nehmen, Ihnen zu gefallen, sich selbst zu widersprechen,[387] und die Natur, die Er anderweit ohne Mängel beschrieben, nunmehro für böse auszugeben.
Sie zwickten aus dem 26sten Capitel seines dritten Buchs vom Zorne, ein Spruchelchen heraus, in welches sie aus Gefälligkeit, nicht mehr, als ein eintziges Wörtchen einflickten, wodurch der gute Seneca, zum wenigsten bey denen, die entweder zu faul waren, Ihn selber nachzuschlagen, oder sonst, eher des Himmels Einfall vermutheten, als daß sie von ihren vor so treu gehaltenen Seelen-Wächtern, hintergangen werden solten, völlig zu behaupten schien, daß wir alle von Natur böse wären.
Ich selber dachte damals, als ich den 44sten Absatz dieses 2ten Theils schrieb, noch an nichts weniger, als daß diese Herren, bey Anziehung dieses Sprüchelchens nicht redlich verfahren haben solten, indem ich mir unmöglich einfallen laßen konte, daß sie eben zu der Zeit, da sie die Unverdorbenheit der Bibel gegen die Frey-Geister zu vertheidigen im Begrif waren, so ausverschämt seyn solten, vor den Augen aller Sehenden, selber ein unverwerfliches Probe-Stückchen von der geistlichen Spitzbuberey abzulegen, und einen Scribenten zu verfälschen, von dem sie, ohne eine besondere Offenbarung, wißen mußten, daß Er fast in aller Gelehrten Händen war, oder doch leicht erhalten werden konnte.
Allein, alle diese Betrachtungen, die sonst einen jeden, der noch einen redlichen Bluts-Tropfen und ein Fünckchen Schaam übrig hat, fast mit Gewalt zurück halten solten, sich, um kein Ding in der Welt, auf einem so häßlich fahlen Pferde ertappen zu laßen, scheinen den Vertheidigern der Practischen Religion Jesu, nicht eingefallen zu seyn: Sie würden sonst leicht den Schluß haben machen können: Wenn man uns als Lügner erfindet, was müßen die Gegner von der Practischen Religion dencken, die wir zu vertheidigen suchen.
Ich schlug die Stelle, in welcher Seneca gesagt haben solte, daß wir alle von Natur böse wären, nach einiger Zeit zur Curiosité, anfangs nur in einer frantzösischen Uebersetzung nach, und siehe da, das Wort von Natur, fand sich nicht in derselben: Ich trauete noch nicht, sondern schlug nach diesen, noch zwey verschiedene Lateinische Auflagen von eben diesem Scribenten nach: Allein nirgend sagte Er mehr, als: Wir sind alle böse. Das Wort: von Natur, hatten die unwürdigen Verleumder dieser Göttlichen Gnaden-Gabe, dem guten Seneca, wider alles Recht und Billigkeit, aufgebürdet,[388] und sich dadurch vor der gantzen Wahrheit- und Redlichkeitliebenden Welt, als die unverschämtesten Betrüger bloßgestellet.3
Denn ich sahe mich hernach noch weiter in dem Seneca um, und fand, daß Er an verschiedenen Orten gerad das Gegentheil von der Natur lehrete, was Er nach dem Nothzwang, den Ihm diese Heiligen anthaten, solte geschrieben haben. Nur ein Paar Stellen davon anzuführen, so sagt Er in der 94sten Epistel des 1sten Buchs p.m. 780 Du irrest, wenn Du meinest, daß die Laster mit uns gebohren werden; Sie sind von Außen über uns kommen, sie sind eingeführet worden. Wir müßen also die Meinungen, die um uns herum thönen, durch öftere Ermahnungen betäuben; die Natur läßt uns mit keinem Laster in Freundschaft leben. Sie hat uns frey und unschuldig erzeuget.
Und abermals in der 122sten Epistel p.m. 881. heißt es: alle Laster streiten wider die Natur. Ist es also nicht eine recht leichtfertige Boßheit, einen Mann, der so herrlich und vortreflich von der Natur schreibet, bloß seinen angenommenen, unsinnigen Meinungen zu gefallen, mit zum Verderber derselben machen? Doch das bringt die practische Religion der Christen nicht anders mit sich. Lügen und Verleumdungen Unschuldiger sind der Grund worauf sie errichtet ist, und Jesus, wenn Er auf Erden noch was zu sprechen hätte, müste um seiner eigenen Ehre Willen, diesen Betrügern längst den Abschied gegeben haben. Es erhellet aber eben aus dem, daß Er das nicht thut, daß nicht wahr sey, was sie von Ihm schreiben, daß Er gesagt habe: Ihm sey alle Gewalt gegeben, im Himmel und auf Erden. So tröstet Euch nun mit diesen Worten unter einander!
Berlin den 22sten December 1752.
1 In der Abschrift steht § 44 p. 42.
2 Edelmanns boshafte Natur leuchtet daraus hervor, daß ihm auch nicht einmal einleuchten will, es könnte diese Herablassung auch heidnische Stellen anzuführen auch aus Liebe zu denjenigen geschehen seyn, dem Worte Gottes nicht glauben wollen.
3 Welch einen Lärm fangt Edelm. über diesen Zusatz an! Was wollte er nun sagen, wenn wir über seine Uebersetzung des Eusebius Thl. 2 §. 20 eben so urtheilen wollten! Weiß er doch nicht einmal, ob sie nicht bona side die Stelle so angeführt haben. Die Hauptsache bleibt ferner das omnes und wenn wir dies urgiren wollten, würden wir von dem Zusatz: »von Natur« auch nicht sehr fern seyn. Endlich ist zu bedenken, daß die Anführung der Heiden nur zeigen soll, daß ähnliche Ideen schon in ihnen aufdämmerten. Billigen wollen wir übrigens eine solche Gleichmachung der heidnischen Ideen mit den christlichen nicht. Die Stellen, welche Edelmann anführt aus Senecas Werken stehen nach der Ausgabe von Fickert (Leipzig 1842.) Epist. lib. XV Ep. 2 p. 511 und Lib. XX. Ep. 5. p. 712
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