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[198] Wir befinden uns in einem Zeitalter, in dem die Naturwissenschaften ungeheure Fortschritte gemacht haben. Wenn man das Volksleben aber näher betrachtet, dann kommt man zu der Erkenntnis, daß wir noch immer stark im Mittelalter stecken. Der Aberglaube ist noch in einem Maße in weiten Volkskreisen verbreitet, wie man es nicht für möglich halten sollte. In der deutschen Reichshauptstadt, in der »Metropole der Intelligenz« herrscht selbst in gebildeten Kreisen ein Aberglaube, der lebhaft an das Mittelalter. erinnert. In fast allen größeren Gerichtsverhandlungen spielen »kluge Frauen«, die aus dem Eiweiß, dem Kaffeegrund, aus Spielkarten, Bilderkarten, Spiritusflammen und aus den Handlinien die Zukunft enthüllen, eine Rolle. Es gibt in Berlin eine Anzahl Kartenlegerinnen, die eine so große Kundschaft, selbst aus den besten Gesellschaftskreisen, haben, daß, wenn man überhaupt empfangen werden will, man sich am Tage vorher telephonisch oder schriftlich anmelden muß. In den elegantesten Equipagen und Automobilen kommen die feinsten Damen, zum Teil auch Herren bei diesen »Sybillen« vorgefahren, um sich gegen Bezahlung die Zukunft enthüllen zu lassen. Und nicht minder ist der Spiritismus verbreitet. Vor etwa 20 Jahren machte sich im Dorfe Resau bei Werder, Kreis Potsdam, ein siebzehnjähriger Bauernbursche den Scherz, in der Abenddämmerung mit Kartoffeln, Bratpfannen, Tellern, Gläsern usw. zu werfen. Da der junge Mann diesen Scherz allabendlich wiederholte und die Wurfgeschosse in einer Weise geflogen kamen, daß eine Erklärung der Ursache nicht zu erkennen war, bemächtigte sich der Dorfbewohner ein furchtbarer Schrecken. Es stand bei ihnen[198] fest, daß es Spukgeister waren, die allabendlich ihr Wesen trieben. Am dritten Abend wurde die allgemeine Angst so groß, daß man beschloß, den Herrn Pfarrer zu ersuchen, sich in das Spukhaus zu bemühen. Der Pfarrer erschien mit einem Gebetbuch. Der erwähnte Bauernbursche, Karl Wolter war sein Name, ließ sich aber durch die Anwesenheit des Pfarrers nicht beirren. Er gefiel sich anscheinend in der Rolle, die Dorfbewohner und noch mehr die Dorfbewohnerinnen durch seine Fertigkeit im Bratpfannen- und Kartoffelwerfen in Angst zu versetzen. Als der Pfarrer im Spukhause erschien, da schliefen anscheinend die Spukgeister noch. Sehr bald begannen sie aber zu arbeiten. Teller, Gläser, Kartoffeln kamen geflogen; es blieb rätselhaft, woher alle diese Gegenstände kamen. Da plötzlich sauste eine Bratpfanne durch die Lüfte und traf den Herrn Pfarrer in ziemlich heftiger Weise in den Rücken. Der Pfarrer wurde selbst ein wenig ängstlich: »Liebe Gemeinde, sagte der Geistliche, solchen Mächten gegenüber bleibt uns nichts weiter übrig als zu beten.«
Da der Pfarrer gegen den Spuk nichts auszurichten vermochte, so wandten sich die geängstigten Dorfbewohner an die Polizei, denn es hatte ganz den Anschein, als sei der Teufel in leibhaftiger Gestalt im Dorfe erschienen und treibe in den Abendstunden die schlimmsten Allotria. Da faßte die Gendarmerie im Spukhause Posto. Dieser realen Macht gelang es sehr bald, festzustellen, daß der fingerfertige Bauernjunge Karl Wolter die Wurfgeschosse entsende. Die Gendarmen nahmen den jungen Mann fest, und der Spuk hatte ein Ende. Karl Wolter hatte sich im Januar 1889 vor dem Schöffengericht in Werder wegen groben Unfugs zu verantworten. Er wurde von dem jetzigen Berliner Justizrat Dr. Bieber, der damals noch Referendar war, verteidigt und wegen groben Unfugs und vorsätzlicher Sachbeschädigung zu einigen Wochen Gefängnis verurteilt. Im März 1889 kam die Angelegenheit infolge eingelegter Berufung vor der Potsdamer Strafkammer zur nochmaligen Verhandlung. Als die Großmama des schalkhaften Bauernburschen, in deren Hause der Spuk vor sich gegangen war,[199] in Potsdam vor den Zeugentisch trat, begann eine auf diesem liegende Bratpfanne, jedenfalls infolge einer Rüttelung des Tisches, sich zu bewegen. »Et spoikt, et spoikt,« rief die alte Frau unter allgemeiner Heiterkeit im Gerichtssaal. Der Vorsitzende hatte alle Mühe, die alte Frau zu beruhigen. Die Strafkammer verwarf die Berufung und auch das Kammergericht die deshalb eingelegte Revision. Nach Beendigung dieser Prozedur wurde Karl Wolter von dem Kgl. Hofzauberkünstler Rösner engagiert. Rösner trat mit dem schalkhaften Bauernburschen im Berliner Wintergarten auf. Das Engagement Wolters bei Rösner war aber nur von kurzer Dauer. Wie man hörte, eignete sich Karl Wolter doch nicht zum Künstler.
Einige Jahre später wurde vom Schöffengericht des Amtsgerichts Berlin I Frau Valeska Töpffer, eins der »berühmtesten« Medien wegen Betruges zu 1 1/2 Jahren Gefängnis verurteilt. Die fünfte Straf- (Berufungs-) Kammer des Landgerichts Berlin I setzte die Strafe auf 6 Monate herab. Justizrat Wronker, der die Frau verteidigte, bemerkte: Wenn ich bei einem Taschenspieler drei Mark Entree zahle und dieser, obwohl er laut öffentlicher Ankündigung es versprochen, nichts Übernatürliches vorführt, so kann ich mich doch unmöglich im Sinne des § 263 des Strafgesetzbuches betrogen fühlen.
Im Jahre 1895 hatte sich eine Anzahl sehr angesehener Bürger von Düsseldorf, unter diesen mehrere höhere Offiziere a.D. zu spirististischen Sitzungen zusammengefunden. Es wurde proklamiert, daß sie unter Ehrenwort sitzen, d.h. sämtliche Anwesende hatten sich auf Ehrenwort verpflichtet, keinerlei Humbug zu treiben und nichts zu unternehmen, was als ein Vorgreifen der zu zitierenden Geister bezeichnet werden könnte. In diese Gesellschaft war auch ein junger Referendar, der jetzige Schriftsteller Dr. Hans Heinz Ewers eingeführt. Dieser praktizierte eines Abends seinem Nachbar die Blüte eines Tausendmarkscheins in die linke Rocktasche. Dies Manöver wurde entdeckt und der junge Referendar mit Beleidigungen überhäuft. Dr. Ewers forderte die Herren zum Zweikampf. Die Forderungen wurden sämtlich mit dem Bemerken abgelehnt: Dr. Ewers[200] sei nicht satisfaktionsfähig, da er sein Ehrenwort gebrochen habe. Das Militär-Ehrengericht entschied jedoch, daß der Zweikampf stattfinden müsse. Die Mitglieder des militärischen Ehrengerichts wurden aus Anlaß ihrer Entscheidung beleidigt. Es kam infolgedessen Ende Oktober 1896 vor der Strafkammer in Düsseldorf zu einem ausgedehnten Strafprozeß wegen Beleidigung und Herausforderung zum Zweikampf.
Im Jahre 1901 wurde die Schöneberger und Berliner Polizei benachrichtigt: bei einer Frau Anna Rothe in Schöneberg werden spiritistische Sitzungen abgehalten, bei denen ein Eintrittsgeld von 2 und 3 Mark erhoben werde. Es würden in den Sitzungen Geistererscheinungen, Tischrücken, Blumenapporte und andere dere derartige Dinge in Szene gesetzt. Der Schöneberger Kriminalkommissar Leonhardt und der Berliner Kriminalkommissar v. Kracht verschafften sich mit der Polizeiagentin Fräulein Binswanger Zutritt zu den Sitzungen. Eines Abends, im Dezember 1901, gelang es den Kriminalkommissaren, das Medium zu entlarven und zur Haft zu bringen. Frau Rothe hatte sich im März 1903 vor der ersten Strafkammer des Landgerichts Berlin II wegen Betruges zu verantworten. Den Vorsitz des Gerichtshofes führte Geh. Justizrat Landgerichtsdirektor Gartz. Die öffentliche Anklage vertrat Staatsanwalt Friedheim. Die Verteidigung führten Rechtsanwalt Dr. Schwindt und Rechtsanwalt Dr. Willy Thiele. Die Verhandlung, die eine volle Woche die ganze Kulturwelt in Spannung hielt, lieferte den Beweis, daß die Zahl der gläubigen Spiritisten eine sehr große ist und daß selbst Männer der Wissenschaft, die hohe Staatsstellungen bekleiden, zu ihnen gehören. Interessant war es, zu beobachten, mit welcher Überlegenheit, ja, mit welcher mitleidigen Verachtung die als Zeugen erschienenen Spiritisten auf die »Ungläubigen«, d.h. auf diejenigen Erdenbürger, die an die spiritistischen Wunderdinge nicht glauben, herabschauten. Die Anklage war wegen 61 vollendeter und 9 versuchter Betrugsfälle erhoben. Die angeklagte Frau Anna Rothe, geborene Johl, war 1850 in Altenburg geboren. Ihr Gatte war Kesselschmied. Sie war von ziemlich großer, schlanker Figur. Ihre großen[201] Augen hatten ein unheimliches Feuer; ihre schmalen Lippen waren zusammengekniffen, ihre Finger bewegten sich in nervöser Unruhe auf der Einfriedigung des Anklageraumes. Im übrigen bot diese Frau ein Bild der Armseligkeit. Außer den unheimlich stechenden, außergewöhnlich großen Augen war nichts Interessantes an ihr zu beobachten. Sie bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden: Vor etwa 12 Jahren sei der Bräutigam ihrer Tochter gestorben. Nachdem dieser schon lange beerdigt war, habe sie ihn in der gewohnten Weise in ihrer Wohnung auf dem Sofa sitzen sehen; sie konnte sich auch mit ihm unterhalten. Schon als Mädchen von zehn Jahren sah sie Personen, die andere nicht sehen könnten. Als sie das Aussehen dieser Personen schilderte, wurde ihr gesagt, auf welche bereits verstorbenen Personen die Schilderung paßte. Sie sei infolgedessen von den Spiritisten als vorzügliches Medium erkannt worden. Sie habe auf Auffordern spiritistische Sitzungen abgehalten, diese aber niemals geschäftsmäßig betrieben. Seit etwa vier Jahren war ihr Impresario ein ehemaliger Volksschullehrer namens Jentsch. Mit diesem sei sie auf ausdrückliche Einladung in Paris, Zürich, Brüssel und vielen Orten Deutschlands gewesen und habe überall spiritistische Sitzungen abgehalten. Jentsch habe die große Korrespondenz erledigt und die Sitzungen vorbereitet. bereitet. Sie habe viele Jahre in Chemnitz gewohnt. Vor einigen Jahren sei sie von Chemnitz nach Schöneberg bei Berlin übergesiedelt.
Vors.: Wie kamen Sie darauf, Ihre Sitzungen mit Gebet zu eröffnen?
Angekl.: Das ganze Leben ist ja für mich ein Gebet.
Vors.: Woher hatten Sie die Gebete? Waren es freie Eingebungen oder hatten Sie sie auswendig gelernt?
Angekl.: Wenn ich bete, bete ich so, wie es mir einkommt. Meistens habe ich etwas aus dem Gesangbuch vorgelesen.
Vors.: Wann hörte in den Sitzungen Ihr Bewußtsein auf?
Angekl.: Sobald mir die Leute scharf ins Auge sahen, verfiel ich in den sogenannten Trancezustand.
Vors.: Wie erklären Sie sich das?
Angekl.: Das kann ich mir gar nicht erklären.
Vors.: Sie kamen schließlich wieder zum Bewußtsein, was geschah dann?
Angekl.: Ich habe alsdann gesprochen und bin darauf[202] bald wieder in den Zustand der Bewußtlosigkeit verfallen.
Vors.: Bisweilen fanden im Anschluß an die Sitzungen auch gemeinschaftliche Essen statt?
Angekl.: Ja, bisweilen, ich habe mir das aber schließlich verbeten.
Vors.: Sie sollen auch während des Essens bisweilen das Bewußtsein verloren haben?
Angekl.: Das ist richtig.
Vors.: Im Trance sollen Sie Gespräche geführt haben. Durch Ihren Mund sollen die Geister Verstorbener gesprochen haben?
Angekl.: Das ist mir gesagt worden, ich weiß es nicht.
Vors.: Sie sollen Paul Flemming und Zwingli haben sprechen lassen, ganz besonders aber ein Kind, namens Friedchen?
Angekl.: Das wurde mir mitgeteilt.
Vors.: Hatten Sie gar kein Bewußtsein, daß Sie mit Friedchen in Verbindung gestanden haben?
Angekl.: Nein.
Vors.: Früher haben Sie angegeben, Sie hätten sich mit den Geistern Ihrer verstorbenen Kinder unterhalten?
Angekl.: Jawohl. Die Angeklagte beginnt zu weinen.
Vors.: Die erste Sitzung hat am 19. Oktober 1900 in Ihrer Wohnung in Schöneberg stattgefunden. Es sollen nur wenige Personen zugegen gewesen sein, die etwa insgesamt 130 Mark geopfert haben?
Angekl.: Ich habe mich darum nicht gekümmert.
Vors.: Die Sitzungen wurden schließlich sehr zahlreich reich besucht, es soll dabei ein erheblicher Betrag eingekommen sein?
Angekl.: Ich habe mich darum nicht gekümmert.
Als erster Zeuge wurde Kriminalkommissar Leonhardt vernommen: Am 19. November 1901 habe er zum ersten Male im dienstlichen Auftrage den Sitzungen der Angeklagten beigewohnt. Durch Vermittelung eines Bekannten habe er eine Einlaßkarte für drei Mark erhalten. Nach Betreten eines Vorraums, der etwas Auffälliges nicht bot, sei er in ein Nebenzimmer geführt worden, das fast vollständig ausgeräumt war. Nur ein mit einer Decke behangener ziemlich großer Tisch sei in der Stube gewesen. Um den Tisch standen Stühle, die bei seinem Eintritt fast sämtlich besetzt waren. Frau Rothe saß an einem Ende des Tisches in der Nähe des Fensters. Als weitere Gäste nicht erwartet wurden, begann die Sitzung, die von Jentsch mit einer geistlichen Ansprache eröffnet wurde. Alsdann wurde das[203] Zimmer etwas dunkler. Während tiefe Stille herrschte, verfiel Frau Rothe in einen traumartigen Zustand, sie hielt dabei aber die Augen offen. Nach einer Weile kamen, anscheinend von der Decke, Blumen herabgeflogen. Er habe Frau Rothe scharf beobachtet und wahrgenommen, daß sie mit der linken Hand eine verdächtige Bewegung nach ihren Beinen machte. Einmal hatte sie auch eine Zitrone oder Apfelsine in der linken Hand. Er hatte bereits reits am ersten Abend die Überzeugung erlangt, daß Schwindel im Spiele war. Vors.: Erklärte nicht Jentsch, welche Intelligenzen aus Frau Rothe sprechen?
Zeuge: Jentsch sagte: Der Geist Paul Flemmings, Zwinglis und ganz besonders der Geist des Kindes Friedchen spreche aus Frau Rothe.
Das Friedchen sprach mit einer deutlichen Kinderstimme, aber – ebenso wie die Angeklagte selbst – mit einem ausgeprägten sächsischen Dialekt.
Vors.: Sächselten denn alle Geister, die aus der Angeklagten sprachen? Zeuge: Jawohl.
Auf Befragen der Verteidiger bemerkte der Zeuge: Er hatte die Überzeugung, daß die Angeklagte auch im Trancezustande bei vollem Bewußtsein war. Er beobachtete, daß die Angeklagte mit halb geöffneten Augen während ihres angeblichen Trancezustandes die Anwesenden genau musterte.
Vert.: R.-A. Dr. Thiele: Ist es dem Zeugen bekannt, daß auch hypnotisierte Personen, obwohl sie wirklich hypnotisiert sind, die Augen oftmals geöffnet halten? Zeuge: Ich war fest davon überzeugt, daß die Angeklagte genau die Zuschauer beobachtete.
Auf weiteres Befragen bekundete der Zeuge: Zu der Sitzung, in der wir die Entlarvung vornehmen wollten, hatten wir alle Mühe, Einlaß zu erhalten, es gelang aber schließlich doch. Die Sitzung fand im Zimmer mer des Jentsch statt. Ich suchte in die Nähe der Rothe zu kommen und setzte mich deshalb auf das Sofa. Ich hatte mich mit dem Kriminalkommissar v. Kracht verabredet, Frau Rothe zu entlarven, sobald sie Blumen produzieren sollte. Wir warteten deshalb den ersten Apport ab; es waren Blumen, die Frau Rothe einem uns gegenübersitzenden Berichterstatter überreichte. In diesem Augenblick sprang v. Kracht auf, rief »Halt« und hielt der Angeklagten beide Hände fest. Ich eilte hinzu. Frau Rothe[204] schien zunächst in Ohnmacht zu fallen, sie leistete aber schließlich ganz erheblichen Widerstand. Die Zuschauer nahmen zunächst für Frau Rothe Partei, sie mußten erst darauf hingewiesen werden, daß wir im Namen des Gesetzes handelten. Als die Männer aus dem Zimmer geschickt wurden und die Angeklagte von Fräulein Binswanger untersucht werden sollte, sträubte sie sich mit Händen und Füßen. Schließlich sah sie wohl ein, daß der Widerstand nutzlos sei, und nun wurden in ihrem Unterrock, den sie tütenartig um den Leib hatte, 157 Blumen, ferner Apfelsinen und Zitronen vorgefunden. Jentsch suchte uns vorzureden, daß die Blumen nicht bei der Rothe gewesen, sondern wahrscheinlich infolge des ungerechten Angriffs »materialisiert« worden seien.
Vors.: Nun, Frau Rothe, was sagen Sie dazu?
Angekl.: Ich habe den Unterrock, den ich in Paris gekauft habe, so angezogen wie jeden anderen. Erst hieß es, ich habe eine Tasche im Unterrock, alsdann sollte er einen doppelten Boden gehabt haben. Man braucht doch nur den Rock anzusehen, um zu begreifen, daß es nicht möglich ist, so viele Blumen zu beherbergen.
Der nächste Zeuge, Kriminalkommissar v. Kracht, bestätigte die Bekundung des Vorzeugen und bemerkte: Bei der ersten Sitzung, der ich beiwohnte, hörte ich Klopftöne, durch welche angeblich die Geister ihre Annäherung ankündigen. Alsdann fiel die Rothe anscheinend in Trance. Sie gab zunächst eine allgemeine religiöse Darstellung, sprach von der Nächstenliebe und sagte: Die Menschen müßten sich von menschlichen Dingen abwenden und ihren Sinn auf überirdische Dinge richten. Um mich möglichst unverdächtig zu machen, gab ich selbst ein wirklich wahres Erlebnis zum besten. Ich erzählte, daß ich als Primaner eines Sonntags zum Gottesdienst im Dom war. Da war mir der Gedanke gekommen, welchen Eindruck es wohl machen würde, wenn jemand plötzlich eine Granate in die andächtige Menge werfen würde. Unmittelbar darauf fiel ein Schuß; ein junger Mann hatte auf den Geistlichen, der die Liturgie leitete, geschossen. Jentsch versetzte: »Das ist eine Willensübertragung.« Alsdann hob sich ein paarmal der Tisch und Frau Rothe verfiel in Trance. Sie sagte plötzlich, sie sehe[205] einen grünen Wald und darin einen alten Herrn mit graumeliertem Vollbart. Ich versetzte: mein verstorbener Vater hat einen graumelierten Vollbart getragen. Frau Rothe sagte weiter: Sie sehe etwas Blankes auf der Brust des Herrn, es scheinen drei Orden zu sein. Ich sagte: Mein Vater hat drei Ordensauszeichnungen besessen. Alsdann erschien plötzlich auf der rechten Seite der Rothe ein großer, schöner Tannenzweig, der eine ganz frische Bruchstelle hatte. Frau Rothe ging um den Tisch herum und sagte zu mir, indem sie mir den Zweig überreichte: »Ich danke dir, daß du dich in dieser feierlichen Stunde liebend mir genähert hast.« Bald darauf holte sie Blumen anscheinend aus der Luft und sagte: Sie sehe die Figur eines Mannes, der sie segne. Kriminalkommissar v. Kracht bekundete im weiteren: ich kam schließlich zu der Überzeugung, daß es höchste Zeit sei, dem Humbug ein Ende zu machen, um so mehr, da mir bekannt war, daß Frau Rothe schon einmal im Jahre 1884 entlarvt worden ist. Ich hatte als »Landwirt Naumann« auch zur letzten Sitzung Zutritt erhalten. Als die Rothe plötzlich ein Büschel blühender Blumen zutage förderte und sie als Gruß eines verstorbenen Freundes dem anwesenden Berichterstatter Fließ überreichte, folgte die Katastrophe. Ich hielt der Frau Rothe beide Hände fest, damit nicht etwa eine günstige Gelegenheit benutzt werden konnte, um sämtliche Blumen auf einmal aus der vierten Dimension herauszuzaubern. Die Rothe fiel zunächst zu Boden, leistete aber alsdann mit erstaunlicher Kraft Widerstand. Das Publikum, insbesondere die anwesenden Damen, waren außer sich. Ich erhielt verschiedene Stöße und Püffe. Man fand bei der Rothe im Unterrock außer den 157 Blumen auch zwei außergewöhnlich große Apfelsinen. Jentsch rief mir mit dem Zeichen des Entsetzens zu: »Sie werden das Medium totschlagen, es befindet sich ja im Trance.« Als alles nichts half, erinnerte sich die Rothe ihres in einer benachbarten Destillation sitzenden Ehemannes. Sie rief wiederholt »Vater, Vater!« Als ich auf dem Polizeipräsidium zu Herrn Rothe sagte: Sie sehen doch, daß es sich um ganz gemeinen Schwindel handelt, versetzte er: »Ich bin sprachlos.« Ich fragte: Wird denn Ihre Frau auch im Gefängnis Blumen[206] apportieren? Warum nicht, erwiderte Herr Rothe. Sie hat aber keine Blumen apportiert, wohl nicht einmal ihren Verteidigern. Am folgenden Tage sagte Herr Rothe: Meine Frau hat sicher keine Blumen gehabt; es ist ihr ergangen wie einem geängstigten Tier, die Blumen sind ihr in der Todesangst herausgekommen. Als Frau Rothe auf dem Polizeipräsidium vernommen wurde, tat sie so als ob sie in Trancezustand verfallen würde. Neben mir stand ein Schutzmann, dessen Frau 10 Monate vorher verstorben war. Der Schutzmann trug einen Trauerflor um den Arm. Frau Rothe muß wohl den Trauring gesehen haben, denn sie sagte plötzlich: sie sehe eine weibliche Person. Als die Sitzung begann, in der Frau Rothe entlarvt wurde, fiel es mir auf, daß Frau Rothe einen auffallend dicken Leib hatte und sich recht vorsichtig niedersetzte. Ich sagte mir: Heute muß sie eine gehörige Portion Blumen bei sich haben.
Fräulein Biuswanger, die im Auftrage der Kriminalkommissare die Angeklagte untersuchte, bekundete: Als die Angeklagte festgehalten wurde, rief sie aus: »Faßt mich nicht an, laßt mich los, ich bin im Trance, es kann mein Tod sein.« Die Angeklagte habe sich wie eine Wahnsinnige gewehrt; es habe wohl ein 20 Minuten währender Kampf mit ihr stattgefunden, bevor sie überwältigt war und ihres Oberkleides entledigt werden konnte. Die Angeklagte habe die Blumen durch den Schlitz ihres Kleides hervorgeholt.
Eine Frau Öhmichen bekundete als Zeugin: Die Angeklagte habe sie mit dem Geist ihres verstorbenen Ehemannes in Verbindung gebracht. Er habe ihr einen kleinen Tannenzweig überreicht. Sie sei überzeugt, daß der Zweig von ihrem Gatten war, denn Frau Rothe habe unmöglich wissen können, daß sie ihren Ehemann um einen Tannenzweig gebeten hatte. Ihr Ehemann habe ihr das auch bestätigt, als sie mit seinem Geiste in Verbindung trat. Er habe ihr auf ihre Frage geantwortet: »Die Naturgeister haben dir den Zweig gebracht, er ist von mir.«
Es erschienen darauf drei Blumenhändlerinnen, die auf dem Winterfeldplatz ihren Verkaufsstand hatten, als Zeuginnen. Die Angeklagte habe auch im Winter täglich Blumen und Tannenzweige gekauft. Sie war eine sehr gute Kundin. Sie habe einmal auf eine[207] an sie gestellte Frage gesagt: Sie gebrauche die Blumen zur Grabesausschmückung.
Eine Frau Urban bekundete als Zeugin: Sie sei Spiritistin und bisweilen hellsehend. Frau Rothe habe Blumen mit sehr zarten Stielen aus der Luft gegriffen, ferner Zweige mit sehr dünnen Stielen, Apfelsinen und so weiter. Ihr (der Zeugin) Sohn, der schon seit seinem vierten Lebensjahre hellsehend sei, habe immer vorher angekündigt, wenn sich etwas entwickelte. Frau Rothe griff alsdann einfach in die Luft und hatte eine Blume in der Hand. Sie (Zeugin) sei auch bisweilen hellsehend, sie könne aber keine Blumen aus der Luft greifen.
Vors.: Welche Farben hatten denn die Blumen? Zeugin: Es waren weiße Rosen mit langen zarten Stielen, die unbedingt zerbrechen mußten, wenn man sie verbergen wollte. Frau Rothe gab mir einmal eine Blume in die Hand, und während ich diese meiner Nachbarin zeigte, wuchsen plötzlich noch zwei blaue Blümchen heraus. (Gelächter im Zuhörerraum.) Zeugin (zum Publikum): Sie brauchen darüber gar nicht zu lachen, es ist ganz gewiß wahr. Sachverständiger, Oberarzt Dr. Henneberg: Sind Sie überzeugt, daß bei Frau Rothe ein echter Trancezustand herrschte? Zeugin: Ganz gewiß. Frau Rothe könnte ohne Trance solch wunderbare Reden gar nicht halten, so großartig kann kein Pastor reden.
Gerichtsarzt Professor Dr. Puppe bekundete als Sachverständiger: Die Angeklagte sei eine hysterische Person. Es sei ihm (Sachv.) überraschend schnell gelungen, die Angeklagte zu hypnotisieren, er sei aber im Zweifel gewesen, ob es eine echte Hypnose war. Bei einer mit der Angeklagten abgehaltenen Sitzung habe sie auch Predigten gehalten, die sehr komisch wirkten. Sie sprach gewissermaßen vom hohen Kothurn herab, aber im sächsischen Dialekt und mit allen möglichen Sprachfehlern. Es sei ihm vollständig klar gewesen, daß es ein Opus der Frau Rothe und nicht eines höheren Geistes war. Auf Befragen des Vert. R.-A. Dr. Thiele bemerkte der Sachverständige: Die Angeklagte sei nicht geisteskrank und sei sich höchstwahrscheinlich auch im Trancezustande ihres Handelns bewußt gewesen. Jedenfalls seien doch die Vorbereitungen zu den Sitzungen nicht im Trancezustande geschehen.
Im weiteren[208] Verlaufe der Verhandlung wurde mitgeteilt, daß an den Sitzungen in der Wohnung der Frau Rothe teilgenommen haben: Fürstin Karatschka, eine Gräfin Moltke, Generalleutnant z.D.v. Zastrow und Hofprediger a.D. Stoecker.
Eine Anzahl Zeugen bekundeten, daß sie sofort die Überzeugung gewonnen, es handle sich um Humbug, so daß sie um das Eintrittsgeld betrogen wurden; eine sehr große Zahl Zeugen bekundeten dagegen: Sie seien der Überzeugung, daß Frau Rothe keinen Schwindel getrieben habe. Ein Zeuge, namens Groll, der vorgab, Medizin studiert zu haben, bekundete auf Befragen des Vert. R.-A. Dr. Schwindt: Die Blumen kamen von einer irdischen Existenz, aber woher kamen sie? Da kommt die Theorie von der Dematerialisation und Rematerialisation in Frage. Ich weiß bestimmt, daß Frau Rothe die Hände auf dem Tisch liegen hatte, und als sie sie öffnete, fiel ihr ein Strauß von Blumen mit Wurzeln aus den Händen. Dieses Experiment der Frau Rothe fand in einem Restaurant nach einer Sitzung statt. Das Lokal war beleuchtet, und Frau Rothe konnte absolut keine Vorbereitungen getroffen haben. Hofkapellmeister Tiedemann (Koburg) war Zeuge dieses Ereignisses.
Eine Frau Marie Müller bekundete: Nachdem der Trancezustand bei Frau Rothe eingetreten war, habe sie mit Hilfe ihres Schutzgeistes, des kleinen Friedchen, das sie auch bisweilen mit dem Kosenamen Medibumsel belegte, die Äußerungen der Geister wiedergegeben. In der Regel seien es in salbungsvollem Tone gesprochene religiöse Äußerungen gewesen. Beim Apport seien allerlei Nippsachen, Fingerhüte, Berloques und andere Dinge hervorgetreten. Frau Rothe habe gesagt: Das sind Muster, die aus dem Jenseits kommen.
Vors.: Haben Sie denn das geglaubt? Zeugin: Jawohl.
Vors.: Sie sind also der Meinung, daß im Jenseits auch Muster gemacht werden? Zeugin: Ich habe mich später überzeugt, daß man diese Sachen auch in Berlin für 50 Pfennig kaufen kann.
Ein anderer Zeuge sagte aus: die Rothe habe ihm seine Großmutter erscheinen lassen; er habe die Großmutter deutlich an der Statur erkannt. Eine Zeugin aus Breslau bekundete: In einer Sitzung seien 15 Geister in den verschiedensten Größen erschienen; sie[209] seien sämtlich weiß gekleidet gewesen und haben geleuchtet; auch verbreiteten sie einen Phosphorgeruch. Die Gestalten seien aus einem Nebengemach gekommen, in welches weder die Rothe noch Jentsch jemals gekommen waren. Man hörte auch im Nebenzimmer sprechen. Eine Gestalt hatte ein Kind auf dem Arme; sie setzte sich nieder. In einer anderen Sitzung schwebte ein Geist über dem Haupte ihrer Schwester; der Geist war imstande, genaue Angaben über das Leben der Schwester zu machen. Dann sei in der Luft ein Myrtenzweig erschienen und habe sich ganz leise auf das Haupt der Schwester niedergesenkt. Nach dem Verschwinden der Geister habe sich ein Phosphorgeruch bemerkbar gemacht. Diesen Sitzungen haben hauptsächlich pensionierte Offiziere sowie Damen und Herren der Gesellschaft beigewohnt.
Rechtsanwalt und Notar Meyer (Lützen): Er habe die Rothe in Zwickau, wo sie wegen groben Unfugs verurteilt wurde, verteidigt. Er halte die Produktionen der Rothe für vollkommen echt. Er könne nicht begreifen, wie die materialistische Wissenschaft das Walten überirdischer Kräfte ableugnen könne.
Von großem Interesse war die Vernehmung des Präsidenten des Kassationsgerichts in Zürich, Georg Sulzer. Er bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Er sei zum Präsidenten des Kassationsgerichts gewählt und verwalte dies Amt seit sieben Jahren. 1899 sei die Rothe nach einem Vorort von Konstanz gekommen; er habe der dort abgehaltenen Sitzung als Gast beigewohnt. Frau Rothe sei von einem Damenkomiker untersucht worden. Schon bei der Ankunft der Rothe und des Jentsch sei deren Gepäck aufs genaueste untersucht worden. Er habe bei der Sitzung einen sehr günstigen Platz gehabt. Frau Rothe habe plötzlich eine Geisterstimme zu ihm sprechen lassen. Er habe deutlich erkannt, daß eine Verwandte von ihm etwas sagte, was ihn in Erstaunen setzen mußte, denn es traf wirklich zu. Es sei nämlich wahr, daß er sich längere Zeit vom christlichen Glauben abgewandt hatte und alsdann wieder zum Glauben zurückgekehrt war. Das konnte Frau Rothe unmöglich wissen. Der Geist, der aus ihr sprach, gab aber seiner Freude darüber Ausdruck. Alsdann sagte der Geist:[210] du hast vor einiger Zeit für dienen Vater gebetet, das hat ihm wohlgetan. Er hatte tatsächlich für seinen Vater gebetet Hierauf habe sich ein Geist durch Klopfen angemeldet; die Klopftöne kamen mitten aus dem Tisch. Die Rothe sagte: Sie sehe einen Geist hinter mir stehen, so fuhr Präsident Sulzer fort. Durch Befragen wurde festgestellt, daß es der Geist meiner verstorbenen Frau war. Frau Rothe sagte: der Geist halte die rechte Hand auf seiner linken Schulter. Der Zeuge schildert alsdann die Apporte, die sehr zahlreich waren. Jeder Anwesende habe Blumen bekommen. Das Zimmer war ganz hell erleuchtet. Man konnte deutlich sehen, daß die Rothe die Blumen aus der Luft holte. Außer den Blumen kamen auch noch Bijouteriewaren. Etwa zwei Jahre später kamen die Rothe und Jentsch nach Zürich. Sie hielten auf meine Einladung mehrere Sitzungen in meiner Wohnung ab, denen auch Prof. A. Sellin beiwohnte. Frau Rothe sagte zwei anwesenden Damen, die sie absolut nicht kannte, daß sie ihre Kinder verloren hätten. Ja, sie kannte sogar die Namen der Kinder. Mein Sohn hatte eine vollständig frische Seerose, die bekanntlich sehr schnell verwelken, erhalten, die Frau Rothe aus der Luft gegriffen hatte. Eine Dame erhielt ein vollkommen taufrisches Blatt von Farrnkraut. Auch mehrere ganz frische Rosen wurden apportiert, und zwar Exemplare einer besonderen Art, deren Stil ganz und gar mit kleinen Dornen besetzt ist. Ich habe diese Rosen ganz genau betrachtet und festgestellt, daß auch nicht ein einziger Dorn verletzt war. Wenn die Rothe diese Blumen in ihren Kleidern verborgen gehabt hätte, dann wäre das unmöglich gewesen. Als ich später hörte, Frau Rothe habe die Blumen vorher in einem Blumenladen gekauft, da sagte ich mir: ich stehe vor einem Rätsel. Ich kann nur annehmen, daß Frau Rothe die Blumen in einem Doppelbewußtsein gekauft, sie zunächst dematerialisiert und alsdann rematerialisiert habe. In einer zweiten Sitzung hat meine verstorbene Frau durch den Mund der Frau Rothe zu meinem Sohn gesprochen. Meine Frau hieß Anna. Sie sagte: »Anna hieß ich, Anna hieß sie; sie ist nicht für dich bestimmt, schlage sie dir aus dem Kopf.« Mein Sohn wurde bleich und gestand mir: er[211] habe ein Verhältnis, das er sich aber nunmehr aus dem Kopf schlagen werde. Die Rothe und Jentsch wurden von dritten Personen wegen des Blumenkaufs zur Rede gestellt. Es wurde ihnen zur Antwort: Die Geister können nur den Astralleib der Rothe benutzen; sie könnten, da es sich nicht um Blumen handle, die auf der Wiese wachsen, diese doch nicht stehlen, sie müßten also gekauft und dematerialisiert werden.
Vert. R.-A. Dr. Schwindt: Stammten die apportierten Seerosen nicht aus dem Züricher See? Zeuge: Nein, aber es ist festgestellt, daß sie aus einer Züricher Blumenhandlung stammten.
Dr. med. Langsdorf (Freiburg, Baden): Die Angeklagte hat einmal in meiner Privatwohnung in Gegenwart meiner erwachsenen Kinder eine Sitzung abgehalten. Als Frau Rothe sich im Trancezustand befand, hat sie genau das Aussehen meiner vor mehreren Jahren verstorbenen Tante beschrieben und genau all' die kennzeichnenden Bewegungen nachgeahmt, die der Verstorbenen eigen waren. Alle Anwesenden waren aufs höchste überrascht. Meine Frau ließ durch das Medium an den Geist die Frage richten: Tante, kannst du mich nicht von meinem Rheumatismus befreien? Jawohl, antwortete der Geist durch den Mund des Mediums. Meine Frau hatte die Empfindung, als streiche ihr eine Hand mehrere Male von oben bis unten über den Arm. Der Schmerz war sofort beseitigt. Meine Frau sagte: Tante, hast du nicht ein kleines Andenken für mich. Der Geist erwiderte: Ja, das sollst du haben. In der blauen Hinterstube steht ein alter Nachttisch. In der rechten hinteren Ecke der obersten Schublade liegt eine alte goldene Kette, die sollst du haben. Die Kette, von deren Existenz niemand mand eine Ahnung hatte, ist an der bezeichneten Stelle tatsächlich gefunden worden. Ich habe an der Existenz unsterblicher Seelen nicht mehr zweifeln können. Der betagte Arzt sieht sich im Saale um und sagt: »Nun frage ich jeden Menschen in diesem Saale, wenn einem so etwas passiert, soll man dann noch nicht daran glauben? Ich habe das erhebende Gefühl in mir: Du bist unsterblich.«
Frau Blöhmel: Sie sei überzeugte Spiritistin. Sie habe »Schwester« Rothe und »Bruder« Jentsch veranlaßt, bei ihr eine Sitzung abzuhalten. Sie habe die[212] Rothe in Tränen angetroffen. Frau Rothe habe gejammert: »Du lieber Gott, nimm mich doch bloß bald aus dieser Welt, die Welt will ja nichts mehr von der Wahrheit wissen.« Die bei ihr abgehaltene Sitzung schilderte die Zeugin in den glänzendsten Farben.
Frau Gleiße, die auf Befragen des Vorsitzenden bemerkt: Sie sei hellsehend, sehe manches, was andere nicht sehen können, bekundete auf Befragen des Vert. R.-A. Dr. Schwindt: Frau Exzellenz v. Moltke aus Potsdam habe fast jeder Sitzung bei Frau Rothe beigewohnt. Sie wurde von der Angeklagten geduzt, »Schwester Anna« genannt und sowohl beim Empfang als auch beim Abschied, wie alle Damen, von Frau Rothe geküßt.
Vert.: Kann die Zeugin noch Personen aus der Aristokratie nennen, die den Sitzungen beiwohnten? Zeugin: Eine Prinzeß Karaschka, mit der die Gräfin Moltke in lebhaftem brieflichem Verkehr stand, General v. Zastrow, Baronin v. Grünhof, ein Pastor, dessen Namen ich nicht weiß, einmal auch Hofprediger Stoecker, Gräfin Wachtmeister und die Mutter der Gräfin Moltke.
Redakteur Gerling bekundete: die Rothe pflegte, wenn sie Blumen aus der Luft griff, die Aufmerksamkeit zunächst dadurch abzulenken, daß sie die Hand demonstrativ in die Luft hob. Wenn dann alles gespannt nach dieser Gegend sah, warf sie, wie ich genau gesehen habe, mit der anderen Hand die Blumen mit einer erstaunlichen Geschicklichkeit in die Luft und fing sie mit ausgestreckter Hand wieder auf. Ich habe ihr von meinen Beobachtungen nichts gesagt, denn ich hatte gar nicht die Absicht, sie zu entlarven, sondern wollte mich nur selbst über den Zusammenhang der Dinge aufklären. Eine solche Entlarvung ist ja überhaupt sehr schwer und sehr undankbar, insbesondere in Berliner spiritistischen Kreisen, diese glauben alles. Jeder, der ihnen sagt, daß sie einem Schwindel zum Opfer gefallen sind, wird von ihnen selbst als Schwindler gebrandmarkt, und zwar nicht in den sanftesten Ausdrücken. Bei einer Sitzung passierte der Rothe das Malheur, daß aus ihren Röcken eine Apfelsine fiel und unter das Sofa rollte. Ein Herr wollte sich danach bücken. Da sprang aber Jentsch hinzu und sagte: »Um Gottes willen, lassen Sie das, das Medium darf nicht gestört werden.«[213] Einmal apportierte die Rothe die Glieder einer Kette, die angeblich aus den ägyptischen Königsgräbern stammte, es war aber eine Kette, die man in einem Basar in der Leipziger Straße für 50 Pfennig kaufen kann. Medien sind eitel. Die Rothe wollte nicht nur ein Blumen –, sondern auch ein Schreibmedium sein. Sie ließ einen Geist auf ein Blatt schreiben: »Lieber Bruder, kämpfe für uns,« d.h. also, ich sollte für sie Reklame machen. Die Schrift zeigte deutlich, daß sie von der Rothe unter dem Tisch geschrieben war. Ich halte die Rothe nicht für ein echtes Medium. Ich bin der Ansicht, Jentsch hat sie hypnotisiert und sie hat in der Hypnose gesprochen. Jentsch war der eigentliche Macher, er ging in den Sitzungen wie ein Raubvogel umher.
Vert. R.-A. Dr. Thiele: Kann denn jemand in einen solchen hypnotischen Zustand versetzt werden, der nicht das geringste Mediumistische an sich hat? Zeuge: 60 bis 80% aller Menschen kann man hypnotisieren. Man kann dem Menschen durch die Hypnose Befehle erteilen, die erst nach Stunden ausgeführt werden.
Dr. Spatzier bezeichnete die Rothe nicht als einwandfreies Medium. Er müsse aber sagen, es sei erstaunlich gewesen, daß ein zwei Zentner schwerer Tisch mit vier Auszugplatten sich dreimal hoch in die Höhe hob, und zwar ganz geräuschlos wie eine Feder. Er habe alsdann versucht, den Tisch in die Höhe zu heben, es sei ihm aber nicht möglich gewesen.
Fabrikant Otto Reinicke bekannte sich als überzeugter Spiritist. Sein 15jähriger Neffe habe sich als ganz vorzügliches Medium erwiesen. Mit Hilfe dieses Mediums seien unglaubliche Dinge geschehen. Er habe gesehen, wie ein Tisch durch die ganze Stube passierte, alsdann umgeworfen wurde, so daß die Beine nach oben kamen. Ein anderes Mal sei durch irgendeine »Intelligenz« plötzlich das Gas angezündet worden. Ein anderes Mal seien seinem Neffen die Arme auf den Rücken gebunden worden. Ein Geist hatte alsdann befohlen, ein Taschentuch auf die Erde zu legen, dies sei dann durch die Luft geflogen. Einmal haben die Geister seinen Neffen mit einer 60 Meter langen Waschleine umwickelt. Der junge Mann wurde gebunden wie ein Rollschinken, so daß er stöhnte. In demselben Augenblick stand er wieder[214] vor den Geistern. Er habe sich hierauf die Rothe aus Chemnitz kommen lassen. Er wollte sich klar darüber werden, ob es etwas Übernatürliches gebe. Es habe oftmals bei ihm geklopft; die Tür sei von unsichtbarer Hand geöffnet worden und wieder zugegangen. Ein Briefträger, der hellsehend sei, habe ihm gesagt: er sehe jedesmal, sobald sich die Tür öffne, einen Matrosen trosen hereinkommen. Er habe einen Bruder, der seit 1885 verschollen sei. Er habe dem Briefträger die Photographie des Bruders gezeigt. Der Briefträger habe gesagt: So sieht der Matrose aus, den ich zur Tür hereinkommen sehe. Die Rothe habe er vom Bahnhof abgeholt und aufs genaueste überwacht; die Apporte gelangen vortrefflich.
Magnetiseur Rosen: Als ich das erstemal zu Frau Rothe kam, sagte sie: Kommt nicht noch der andere Herr herein? Auf meine Antwort, daß niemand bei mir sei, versetzte Frau Rothe: Ich sehe doch aber einen großen, breitschulterigen blonden Mann mit krausem Haar. Diese Beschreibung paßte auf einen meiner verstorbenen Bekannten. Im Verlaufe der Sitzung wurden mir Mitteilungen über diesen Herrn gemacht.
Frau Steinmann: Sie habe eine hellsehende Nichte und ein mediales Dienstmädchen. Die Nichte habe, nachdem sie ein halbes Jahr hellsehend gewesen, Trancereden gehalten. Nachdem das Mädchen zu ihrer verstorbenen Mutter gebetet hatte, sie davon zu befreien, hörte das Hellsehen auf. Man hörte nun sehr häufig Klopftöne, und es schnurrte sehr laut, so wie eine Katze schnurrt. Das Mädchen sagte, es sei ein Geist, sie solle 20 Vaterunser beten, dann werde das Schnurren aufhören. Wenn das Mädchen in der Nähe war, dann hörte man auch häufig ein Krachen an der Bettstelle. Sie habe das Vaterunser gebetet, dann hörte das Schnurren auf. Das Mädchen habe ihrem Bruder vorausgesagt, daß ihm die linke Hand abgenommen werden würde; einer Verwandten habe sie eine wirklich eingetretene Krankheit vorausgesagt.
Vert. R.-A. Dr. Thiele: Wie alt ist jetzt Ihre Adoptivtochter? Zeugin: 21 Jahre.
Vert: Dann möchte ich beantragen, das Mädchen zu laden.
Staatsanwalt: Was will der Verteidiger mit der Zeugin beweisen? Vert.: Ich will beweisen,[215] daß es wirklich Leute gibt, die hellsehend sind. Wenn dies hier zeugeneidlich bekundet wird, dann liegt die Möglichkeit vor, daß auch Frau Rothe die Gabe der Hellseherei besitzt.
Ein Zeuge Welsche bekundet auf Befragen: Er sei hellsehend, er habe bei den Sitzungen der Rothe den Geist Zwinglis und auch den Geist des Friedchen gesehen.
Magnetiseur Geist: Jentsch sei bei der Auswahl der Teilnehmer an den Sitzungen sehr vorsichtig gewesen. Er wollte sogar einen Rechtsanwalt nicht zulassen. Jentsch und die Rothe haben sich einmal gerühmt, daß dem Hofprediger Stoecker ganze Pakete Blumen aus der Tasche gezogen worden seien. Die Rothe müsse ein sehr scharfsinniges psychologisches Gefühl besitzen, denn sie wußte Personen, die wirklich mißtrauisch waren, zu entfernen. Es sei ihm (Zeugen) ferner ner aufgefallen, daß die Angeklagte während der Sitzungen stets möglichst korpulente Leute neben sich hatte. Obertelegraphenassistent Kuhhaupt: Als die Angeklagte einmal in Trancezustand verfallen sei, habe sie zu einem ihr gegenübersitzenden Herrn gesagt: Ich sehe hinter Ihnen eine Frau, die einen eigentümlichen Kopfschmuck trägt, ähnlich wie eine Krankenschwester. Der Herr habe voller Staunen erwidert: Das ist meine verstorbene Mutter, diese trug einen derartigen Kopfschmuck. Der Zeuge erzählte alsdann: Frau Rothe hat einmal in meiner Wohnung eine Sitzung gegeben. Nachdem sie von meiner Frau und meiner Schwägerin untersucht worden, wurde sie in ein nur notdürftig erleuchtetes Zimmer geführt und in einen Sack gesteckt, der ihr bis an den Hals reichte. Der Sack, der aus neuer Leinwand hergestellt und mit doppelten Nähten versehen war, wurde am Halse zugeschnürt. Alsdann wurde der Sack mit einer starken Schnur viele Male umwickelt und die Nähte hinten und an den Seiten versiegelt. Dann ließ man Frau Rothe hinter dem Vorhang allein. Nach kurzer Zeit hörte man hinter dem Vorhang etwas zu Boden fallen. Genau nach sieben Minuten trat Frau Rothe, von jedem Anhängsel völlig befreit, hervor, der Sack wurde untersucht, er lag am Boden. Siegel, Nähte und Schnur waren unverletzt. Später apportierte Frau Rothe Blumen und Apfelsinen, die unmöglich zur[216] Stelle geschafft sein konnten. In einer von Frau Rothe in ihrer Wohnung abgehaltenen Sitzung saß die ganze Gesellschaft um einen schweren Tisch. Als Frau Rothe in Trancezustand verfallen war, begann der Tisch sich zu heben; außerdem vernahm man ein eigentümliches Klopfen. Frau Rothe hat nicht unmittelbar am Tisch gesessen, auch ihre Hände waren mit dem Tisch nicht in Berührung gekommen. Frau Rothe sagte, als der Tisch sich hob, zu einer ihr gegenübersitzenden 60jährigen Dame: »Es ist der Geist Ihres Mannes, der sich vernehmen läßt.« Der Tisch machte darauf wiederholt eine Bewegung nach der alten Dame zu. Letztere sagte nach einer Weile: »Gehe doch auch einmal zu meinem Sohn.« Sofort änderte der Tisch seine Richtung und wackelte zu dem bezeichneten jungen Herrn. Die ganze Gesellschaft legte alsdann die Hände auf den Tisch, da erhob sich dieser vom Fußboden und schwebte frei in der Luft.
Eine Frau Richter aus Leipzig bekundete: Frau Rothe habe in ihrer (der Zeugin) Leipziger Wohnung eine Sitzung abgehalten. Sie habe Frau Rothe, die nur ein kleines Handtäschchen bei sich trug, vom Bahnhof abgeholt. Frau Rothe habe ganz unendlich viele taufrische Blumen apportiert. In einem Leipziger Café habe Frau Rothe plötzlich zahlreiche Blumen in den Schoß fallen lassen. Sie mußten sich schleunigst aus dem Café entfernen, um nicht gar zu großes Aufsehen zu erregen. Ein anderes Mal habe Frau Rothe unendlich viele prachtvolle Blumen über die Frauen gestreut. Es war eine ganz seltene Blumenpracht; man zählte etwa 130 Blumen. Es war dies zu einer Jahreszeit, in der Frau Rothe sehr viel Geld hätte ausgeben müssen, um solche Blumen zu kaufen. Die Zeugin bekundete im weiteren, daß Frau Rothe Wunderdinge im Hellsehen geleistet habe. Sie habe einmal von dem Tode einer Person Mitteilung gemacht, noch ehe die briefliche Anzeige von dem Tode eingetroffen war.
Bankkassierer Städing bekundete: die Apporte der Rothe waren tadellos. Ein Offizier hatte sich überzeugt, daß ein Buch, das Frau Rothe in die Hand nahm, unbeschrieben war. Nach kurzer Zeit waren etwa 20 Seiten mit verschiedenen Handschriften beschrieben. Einmal kamen soviel Blumen von oben herab, daß ein anwesender[217] Arzt geradezu sprachlos war.
Der pensionierte Gymnasialprofessor Dr. Sellin erzählte alle möglichen Wunderdinge, die Frau Rothe verrichtet habe. Auch auf Fragen in englischer Sprache seien mit Hilfe der Klopftöne sehr genaue Antworten gegeben worden. Die Klopftöne, die er bei Frau Rothe wahrgenommen, waren stets die elektrischen Klopftöne. Was die Apporte anlange, so habe er sich von deren Echtheit vollständig überzeugt. Für ihn seien solche Apporte überhaupt nur das untere und oft unreine Ende der Stufenleiter von Phänomenen, die zur lichtesten Höhe führen. An der physikalischen Mediumschaft der Frau Rothe habe er nicht den geringsten Zweifel. Er habe einmal einen Apport in Gestalt eines Medaillons erhalten, das er aber nicht annehmen wollte. Er habe es auf den Tisch gelegt und »Friedchen« gebeten, es wieder mitzunehmen. Friedchen habe aber gesagt: »Lieber Onkel, laß das, ich kann es nicht wieder mitnehmen.« Der Zeuge erzählte noch eine große Reihe von Vorkommnissen wunderbarster Art, die ihm die Überzeugung beigebracht haben, daß von Schwindel gar keine Rede sein könne. Frau Rothe sei das kräftigste, interessanteste und reinste Medium, das ihm vorgekommen sei. Vors.: Wie stellen Sie sich zu der Tatsache, daß in der Entlarvungssitzung Blumen im Unterrock der Frau Rothe gefunden wurden? Zeuge: Wenn die Anklage auf Schwindel und Betrug erhoben werden soll, dann muß dieser doch ganz klar bewiesen werden.
Vors.: Vor Ihnen liegen doch die der Angeklagten abgenommenen Sachen, die den Schwindel beweisen? Zeuge: Da muß doch erst festgestellt werden, wo sind sie im Unterrock gefunden worden, wer ist der Zeuge dafür, wer hat sie gesehen?
Der Zeuge bemerkte im weiteren: Er habe durch den Mund der Rothe einmal mit seinem verstorbenen Freund, dem Rostocker Professor Baumgarten, mit dem er in Mecklenburg zehn Jahre lang für die Glaubensfreiheit gekämpft, ein Gespräch gehabt. Baumgarten habe zu ihm gesagt: »Mein lieber Freund, ich freue mich, daß ich einmal durch ein schwaches Weib zu dir sprechen kann. Ich will dir nur sagen, was ich in meinen Memoiren über dich geschrieben habe, ist unrecht. Ich habe dir unrecht getan, als ich mein[218] Bedauern aussprach, dich unter den Spiritisten zu sehen; ich sehe jetzt ein, daß du recht gehabt hast.« Sachverst. Oberarzt Dr. Henneberg: Ist bei Ihrem Zusammensein mit Frau Rothe jemals zu ungelegener Zeit, auf der Straße, der Eisenbahn, der Straßenbahn oder dergleichen jemals der Trancezustand eingetreten? Zeuge: Nein.
Vors.: Herr Sachverständiger, schließt der Trancezustand die freie Willensbestimmung aus? Sachv.: Es kommt ganz darauf an: Es gibt die verschiedensten Grade der Trance, ebenso wie bei der Hypnose und im Schlaf. Bei der Rothe schien in der Charité nur eine leichte Einschränkung des Bewußtseins bei dem Trancezustand vorzuliegen, so daß sie ganz genau sah, was um sie herum vorging. Andererseits ist sie zweifellos eine abnorm veranlagte, hysterische Person, die leicht in Antihypnose verfällt. Sie hat aber diesen Zustand vollständig in der Hand. Das geht schon daraus hervor, daß sie niemals Trancereden auf der Straße gehalten hat. Sie ist auch immer zur rechten Zeit wieder der aus dem Trancezustand herausgekommen. Es handelt sich also bei ihr nicht um tiefgreifende Anfälle von Bewußtseinstrübung, sondern nur um eine kleine Einschränkung des Bewußtseins. Ebenso wie es Leute gibt, die schlafen können, wann sie wollen, so kann sie auch nach Belieben in Trance verfallen. Es ist dabei zu erwägen, daß sie durch die vielen Vorstellungen eine gewisse Übung hatte. Ein abnormer Geisteszustand ist es aber trotzdem. Wenn wirklich echter Trancezustand vorläge, würde die Anwendbarkeit des § 51 des Str.-G.-B. gegeben sein.
Vors.: Wie stellen Sie sich zu der Frage des Hellsehens? Sachv.: Es handelt sich dabei um Gesichtshalluzinationen und wenn Klopftöne gehört werden, um solche akustischer Natur, wie sie beim Vorhandensein absonderlicher Stimmungen, namentlich aber bei solchen Zuständen der Gedankenkonzentration, in denen sich die Teilnehmer spiritistischer Sitzungen zu befinden pflegen, vorkommen. Zahlreiche abnorm veranlagte Personen haben Halluzinationen, ohne anstaltsbedürftig zu sein.
Vert. R.-A. Dr. Schwindt: Wenn die Angeklagte nach der Ansicht des Sachverständigen in der Lage ist, nach Belieben in einen Trancezustand zu verfallen, so ist es doch[219] wunderbar, warum sie nicht einmal dazu übergeht, dies hier ad oculus zu demonstrieren? Dr. Henneberg: Ebenso wie sie es in der Charité gekonnt, konnt, könnte sie es auch hier, wenn sie glaubte, daß es opportun wäre.
Vert. R.-A. Dr. Schwindt: Nun, das wäre doch ganz sicher opportun; vielleicht ist der lange Aufenthalt im Gefängnis der Anfang eines Gesundungsprozesses? Vert. R.-A. Dr. Thiele: Hatte die Angeklagte im Trancezustand Visionen? Sachv.: Ja, das gehörte aber gewissermaßen zum Programm. Wieweit dabei ein krankhafter Zustand oder Simulation vorliegt, kann ich nicht sagen.
Vert.: Liegt bei solchen Visionen eine Einengung des Bewußtseins im Sinne des § 51 vor?
Sachv.: Nein.
Ungemein interessant war die Aussage des Kaufmanns Paul Krüger: In einer Sitzung, an der vornehme Damen, wie Frau Gräfin v. Moltke und Frau Generalin v. Moltke teilnahmen, hat die Angeklagte die herrlichsten Blumen apportiert. Bald darauf fand eine Sitzung in der Niederwallstraße statt. Ich kam so spät aus Chemnitz, daß ich erst erschien, als die Sitzung fast zu Ende war. Ich ging zu Frau Rothe ins Nebenzimmer und reichte ihr beide Hände zur Begrüßung. Frau Rothe reichte mir auch beide Hände und während wir uns gegenseitig festhielten, fiel plötzlich ein förmlicher Blumenregen auf uns hernieder. Es ist ausgeschlossen, daß Frau Rothe eine Hand hierbei gebrauchen konnte. Bald darauf griff Frau Rothe in die Luft und hatte eine Apfelsine in der Hand. Eine ganz besondere Geschichte passierte mir im November 1901. Ich hatte im Westen Berlins eine Anzahl Geschäftsbesuche erledigt und stattete alsdann der Frau Rothe einen Besuch ab. Beim Betreten der Wohnung bemerkte ich, daß ich meinen Regenschirm in einem der Läden habe stehen lassen. Ich wollte umkehren, Frau Rothe sagte jedoch: Lassen Sie nur den Schirm, der wird sich schon finden. Ich setzte mich neben Frau Rothe aufs Sofa: Frau Rothe stopfte Strümpfe. Da sah ich plötzlich ganz deutlich, wie Frau Rothe nach der Fensterecke griff und meinen Schirm hervorholte. Im nächsten Augenblick war die Vision verschwunden. Nach etwa zehn Minuten begab ich mich auf die Suche nach meinem Regenschirm. Schon im zweiten Laden sagte man[220] mir: »Jawohl, hier ist Ihr Schirm.« Von dem Ladeninhaber wurde mir mitgeteilt: Kurz nach meinem Weggang erschien plötzlich eine Frau, ergriff den Schirm und fragte: wem der Schirm gehöre. In demselben Augenblick war die Frau mit dem Schirm verschwunden. Nach wenigen Minuten flog der Schirm durchs Fenster an die Stelle, wo er gestanden hatte.
Staatsanwalt: Kam der Schirm durchs offene oder durch das geschlossene Fenster? Zeuge: Das Fenster war geschlossen.
Staatsanwalt: Und die Scheiben gingen nicht entzwei? zwei? Zeuge: Nein. Eines Abends hatten wir nach einer bei Frau Rothe abgehaltenen Sitzung noch ein Café am Belle-Allianceplatz besucht. Nachdem wir Platz genommen hatten, sagte ich: ich wundere mich, daß ich noch keinen Apport erhalten habe. Da griff Frau Rothe in die Höhe in eine Vase hinein, die auf dem Sims stand: Sie brachte einen Mohnkuchen zum Vorschein, brach ihn durch und es fiel ein kleines Kreuz heraus. Sie überreichte es mir mit den Worten: »Hier, lieber Bruder, hast du deines.«
Vors.: War das Kreuz von Blech? Zeuge: Jawohl, es war Blech. (Allgemeine Heiterkeit.) Einmal sagte Frau Rothe im Trance zu mir: »Über Eurem Haupte weht eine schwarze Fahne.« Es ist auch später ein trauriges Familienereignis bei uns eingetreten.
Der nächste Zeuge, Schauspieler Max Berger, bekundete: Ich bin hellsehend. Als ich der ersten Sitzung bei Frau Rothe mit meiner Braut, jetzigen Frau, beiwohnte, hatte ich den Wunsch, einen Apport von verstorbenen Verwandten zu haben. Frau Rothe hielt eine herzerquickende Rede und überreichte mir schließlich von meinem Vater einen Myrtenstrauß, mit dem mein Vater mich und meine Braut segnete. Ich habe deutlich gesehen, wie sich an den Fingerspitzen der Frau Rothe ein Nebel bildete, aus dem der Myrtenstrauß entstand. Der Vater sagte dabei: »Hier, nimm diesen Myrtenstrauß.« Bei einer anderen Sitzung zung sah ich meine Großmutter mit einer Apfelsine in der Hand, an welcher ein Stengel mit drei bis vier Blättern saß. Ich fragte die Gestalt: »Wer bist du?« sie antwortete: Du hast mich ja schon geschaut, ich bin deine Großmutter. Vert. R.-A. Dr. Schwindt: Sie machen doch aus dem Hellsehen kein Gewerbe? Zeuge: Keineswegs.
[221] Vert.: Sie sind auch durch das Hellsehen nicht von der Religion abgewendet worden? Zeuge: Nein, im Gegenteil. Ich war früher freireligiös, durch den Spiritismus bin ich aber zum Glauben zurückgeführt worden. Der Glaube ist bei mir so felsenfest geworden, daß er mir über alle Schicksalsschläge hinweghilft. Sachv. Professor Dr. Dessoir: Aus vielfachen Erfahrungen wisse er, daß oft in der unbegreiflichsten Weise Tatsachen von Zuschauern entstellt werden, nicht aus bösem Willen, sondern infolge von Anregungen und Einwirkungen, die in der Umgebung der betreffenden Personen liegen. Ein Taschenspieler, der Liebhaber der Taschenspielerei war, habe einmal mediumistische Experimente nachgeahmt, ohne den Zuschauern etwas davon zu sagen, daß es sich nur um Nachahmungen handelte. Die Teilnehmer haben alsdann Berichte abgestattet über das, was sie gesehen haben. Die Berichte seien auch in spiritistischen Zeitschriften abgedruckt worden. Man konnte daraus ersehen, wie die einfachsten Taschenspielerkunststücke zu Phänomenen geworden waren. Zu einer genauen Beobachtung der Dinge seien auch gewisse technische Kenntnisse erforderlich. Er (Sachv.) habe mehreren Sitzungen bei Frau Rothe beigewohnt. Er könne nur sagen, daß das, was er gesehen, ein Schwindel war, und zwar ein in ganz kläglicher Weise ausgeführter Schwindel. Jeder Taschenspieler würde sich schämen, in so wenig ausreichender Weise zu arbeiten. Der Tisch war verhängt, der Stuhl, auf welchem Frau Rothe saß, war so gestellt, daß im Zimmer eine Art dunkles Dreieck entstand. Diese Dunkelkammer benutzte Frau Rothe, um von dort aus ihre Apporte zu bringen. Die Kleideruntersuchung war eine Farce, sie dauerte eine Minute. Zu einer vollkommenen Untersuchung gehörte, daß sich Frau Rothe splitternackt auszog; auch eine gynäkologische Untersuchung hätte vorgenommen werden müssen. Frau Rothe habe in recht plumper Weise die Aufmerksamkeit der Teilnehmer auf ihre rechte Hand gelenkt und mit der linken gearbeitet. Jede Pause benutzte sie, um in geschickter Weise das Kommende vorzubereiten. Ihre technischen Fertigkeiten seien gar nicht groß, aber sie habe die große Fertigkeit,[222] die Aufmerksamkeit abzulenken und die Schwäche der Anwesenden auszunutzen. Es sei immerhin möglich, daß sie mit veränderten Bewußtseinszuständen, nicht mit reinem und ungetrübtem Bewußtsein ihrer betrügerischen Maßnahmen gehandelt, gewissermaßen einen »heiligen Betrug« verübt habe in dem Glauben, eine höhere Mission zu erfüllen. Sie sei nicht durchaus und schlechtweg eine einfache Betrügerin; sie sei gewiß von ihren Fähigkeiten überzeugt. Außerdem habe sie die Gabe, großes Vertrauen zu erwecken.
Vors.: Würden Sie über einzelnes, was hier bekundet worden ist, Aufklärung geben können? Sachv.: Nein. Berichte einzelner Personen können nicht erklärt werden, denn ein einzelner Mensch kann vielerlei auf Täuschung beruhende Dinge als Tatsachen hinstellen. Ich erinnere an das bekannte Taschenspielerstückchen, in dem der Taschenspieler eine Apfelsine sechs- bis achtmal in immer höheren Abständen in die Luft wirft und jedesmal mit der Hand tiefer hinabgeht. Der letzte angebliche Wurf geht mit der ganz tief herabhängenden Hand vonstatten. Der Taschenspieler legt aber die Apfelsine auf seinen Schoß und tut nur so, als ob er sie in die Luft werfe. Alle Zuschauer sind aber überzeugt, daß sie in der Luft verschwunden ist. Das ist ein Beispiel, wie durch die Vorbereitung, durch Erregung der Erwartung Täuschungen hervorgerufen werden können. Staatsanwalt: Haben Sie eine Erklärung dafür, daß die Blumen unversehrt und »taufrisch« zum Vorschein kommen? Sachv.: Es ist möglich, daß dies mit Hilfe eines nassen Wachsleinwandbeutels geschehen ist.
Oberarzt Dr. Henneberg: Die Blumen können auch durch Eis konserviert worden sein.
Vert. R.-A. Dr. Schwindt: Herr Professor Dr. Dessoir! Können Sie das Hellsehen vom philosophischen Standpunkte aus erklären? Sachv.: Solche Täuschungen kommen auch bei ganz normalen Personen vor. In vielen Fällen handelt es sich nicht um Halluzinationen, sondern um Illusionen, indem man z.B. einen Vorhang für eine Gestalt ansieht.
R.-A. Dr. Schwindt: Sie nehmen alsdann wohl an, daß es reiner Zufall ist, wenn die Beschreibungen, die Frau Rothe von manchen Personen gegeben, richtig waren? Sachv.: Jawohl.
Vert.: Hat Ihre[223] Wissenschaft sich schon mit dem Spiritismus beschäftigt? Sachv.: Jawohl.
Vert.: Dann ist es doch merkwürdig, daß diese Probleme und Apporte wissenschaftlich noch nicht widerlegt worden sind? Sachv.: Man müßte ja alsdann unsre ganze Jahrtausende alte wissenschaftliche Erfahrung, die ganze wissenschaftliche Feststellung von dem Wesen der Materie über den Haufen werfen. Die Beweislast liegt auf der anderen Seite. Es muß ein ganz strikter und objektiver Beweis geführt werden, der nicht von der Beobachtungsfähigkeit des einzelnen abhängig ist.
Vert.: Wie ist es aber wohl zu erklären, daß die Angeklagte so viele Blumen aus ihrem Kleide praktiziert ziert haben soll? Sachv.: Es gibt viele Möglichkeiten, ich weiß nicht, weshalb ich mir den Kopf über Möglichkeiten zerbrechen soll.
Sachv. Oberarzt Dr. Henneberg: Aus meinen mit der Angeklagten in der Charité gemachten Erfahrungen muß ich bemerken, daß die Angeklagte ganz diffuse Beschreibungen von Personen gab und daß alsdann unter der Mitwirkung der betreffenden Zuschauer selbst aus deren unbewußten Zwischenbemerkungen ihre Bemerkungen immer spezieller und eingehender wurden.
Vors.: Ist das, was wir von Hellseherei gehört haben, eine pathologische Erscheinung? Sachv.: Es ist eine pathologische Erscheinung, die aber nicht als Geisteskrankheit aufzufassen ist.
Zeuge Gerling: Impresario Jentsch habe es verstanden, Familienmitglieder auszuhorchen. Die von ihm ausgehorchten Dinge wurden dann später von Frau Rothe vorgebracht. In einer Sitzung habe man ihr eine Falle gestellt; sie sei direkt auf falsche Angaben hineingefallen.
Sachv. Prof. Dr. Puppe: Die Probleme der Apporte seien die durchsichtigsten, diesen stehe er skeptisch gegenüber. Im übrigen müsse er sagen, daß solche komplizierte Manipulationen, wie sie bei den Apporten gemacht werden mußten, nicht im Trance gemacht seien. Man müsse bei den Zeugen drei Gruppen unterscheiden: scheiden: 1. die Indifferenten, 2. die Betrogenen, 3. diejenigen, die auf Frau Rothe schwören. Letztere sind von den übersinnlichen Mächten fest überzeugt. Dabei muß man aber sich vergegenwärtigen, daß sie zu den Teilnehmern etwa in dem Verhältnis stand wie der Hypnotiseur[224] zu den Hypnotisierten. Es ist wohl die Frage aufgeworfen worden: Weshalb ist Frau Rothe nicht Taschenspielerin geworden? Nun, als Taschenspielerin würde sie nach dem Zeugnis des Prof. Dr. Dessoir nicht recht reüssiert haben, denn ihre Triks sind plump und ihre Fähigkeit, das Publikum zu täuschen, zeigt sich nur in jenem eigentümlichen spiritistischen Milieu, wo die Sitzungen mit Gebet eröffnet werden, wo man sich »Bruder« und »Schwester« nannte und andere derartige Dinge vorkamen, die auf empfängliche Gemüter wirken. Der Trancezustand der Frau Rothe war nicht echt, da er schnell kam und sehr schnell wieder vorüberging. Was die medizinische Seite betrifft, so muß hervorgehoben werden, daß Frau Rothe, die sich seit März vorigen Jahres in Haft befindet, in dieser ganzen Zeit keinen abnormen Geisteszustand gezeigt hat. Ich komme zu dem Schluß: Es liegt bei der Angeklagten ein gewisses vermindertes Bewußtsein vor, aber nicht eine Aufhebung der freien Willensbestimmung.
Die Beweisaufnahme wurde alsdann geschlossen.
Staatsanwalt Friedheim: Es ist Sache der Theologen, gen, zu prüfen, was und wieviel von dem Spiritismus zu halten ist. Hier handelt es sich nur um die Frage, ab die Angeklagte strafbare Handlungen begangen hat und dafür verantwortlich zu machen ist. Die Angeklagte besitzt zweifellos ein großes Maß von Selbstbeherrschung. Dieser bedurfte sie, um ihre Rolle mit Erfolg durchzuführen. Sie hat nebenbei etwas Faszinierendes, sie hat etwas in ihren Augen, was Unbefangene beeinflussen kann. Sie hat auch in den sechs Verhandlungstagen große Selbstbeherrschung an den Tag gelegt. In selbstbewußter, kluger und sicherer Weise hat sie die Sitzungen mit Jentsch vorbereitet. Vorher wurde alles aufs sorgfältigste geprüft, Ärzte und Naturwissenschaftler wurden soviel als möglich von den Sitzungen ausgeschlossen. Abgesehen von dem Falle, in dem sie von der Polizei überführt wurde, ist sie auch in vielen anderen Fällen überführt worden. Ihre Trancereden bestanden zumeist aus religiösen Bemerkungen, die sich leicht auswendig lernen lassen. Sie benutzte dazu ein Gesangbuch aus dem Jahre 1839. Es ist auch nicht richtig, daß sie während der[225] Trancereden bewußtlos war. Möge sie sich auch in einem Zustande von Halbtraum befunden haben, ihre Willenskraft war keineswegs ausgeschlossen. Sie hat mit vollem Bewußtsein den Zuhörern vorgespiegelt: ich kann euch Grüße von den Geistern in Form von Blumen, Apfelsinen und anderen Gegenständen bringen. Sie war derartig bei Bewußtsein, daß sie die Taschenspielerstückchen mit Geschick ausführen konnte. Die Angeklagte ist in 59 Fällen des Betruges überführt. Bei der Strafabmessung ist zu berücksichtigen, daß das Treiben der Angeklagten gemeingefährlich war. Sie hat mit ihrem Betriebe auf die heiligsten Gefühle der Menschen spekuliert. Sie verdient deshalb die schärfste Verurteilung, weil sie gehandelt hat, um materielle Vorteile zu erringen. Ihr Treiben ist auch deshalb gefährlich, weil sie Gemüter, die vielleicht schon ins Schwanken gekommen waren, noch mehr aus dem Gleichgewicht gebracht hat. Ich beantrage 2 Jahre 6 Monate Gefängnis, unter Anrechnung von 6 Monaten auf die Untersuchungshaft, außerdem 500 Mark Geldstrafe, eventuell noch fünfzig Tage Gefängnis.
Vert. R.-A. Dr. Schwindt: Ich erlaube mir zunächst daran zu erinnern, daß die Vorgängerin der Angeklagten, das frühere Medium Valeska Töpfer nur zu 6 Monaten Gefängnis verurteilt worden ist. Weshalb die Angeklagte um soviel schärfer bestraft werden soll, ist nicht recht einzusehen. Der Gerichtshof wird nicht erwarten, daß ich mich mit den Problemen beschäftigen werde, die in sechstägiger Verhandlung erörtert worden sind. Ob der Glaube der Spiritisten ein berechtigter oder ein Köhlerglaube ist, kann dahingestellt bleiben. Diese Leute fühlen sich glücklich dabei, man soll ihnen deshalb ihren Glauben lassen. Ich habe aber Bedenken, ob in rechtlicher Beziehung Betrug vorliegt. Es kommt doch dabei auf Leistung und Gegenleistung an und auch, ob die Angeklagte sich in gutem Glauben befunden hat. Die Angeklagte hat nicht eine bestimmte Leistung, sondern für das Eintrittsgeld nur die Möglichkeit versprochen, einer Sitzung beizuwohnen. Sie hat niemals bestimmt in Aussicht gestellt, daß ihre Experimente gelingen werden. Man kann sich doch unmöglich[226] auf den Standpunkt stellen, daß diese Kesselschmiedefrau mit ihren geistigen Fähigkeiten über dem Erkennungsvermögen der vielen hochgebildeten Leute stehen muß, die sie aufsuchten und mit ihr an überirdische, übersinnliche Dinge glaubten. Sie hat sicher nicht weniger geglaubt als alle anderen, sie ist eben eine unter vielen. Sie glaubte, ein gutes Werk zu tun, bis sie von Jentsch entdeckt wurde. Von diesem Zeitpunkt ab erhielt allerdings die Sache einen etwas geschäftlichen Charakter. Die Teilnehmer an den Sitzungen mögen über das Gesehene enttäuscht, in ihren inneren Empfindungen gekränkt gewesen sein, von einem Betruge in juristischem Sinne kann aber keine Rede sein. Wenn der Gerichtshof anderer Meinung ist, dann ist nicht abzusehen, weshalb der Staatsanwalt eine so außerordentlich hohe Strafe beantragt hat. Der eine Sachverständige hat die Angeklagte eine pathologische Betrügerin genannt; es ist das eigentlich ein Widerspruch. Jedenfalls ist die Angeklagte eine hysterische, leicht erregbare Person. Sie sitzt über Jahr und Tag in Untersuchungshaft. Wenn sie verurteilt werden sollte, dann würden sechs Monate, die auf die Untersuchungshaft anzurechnen wären, vollkommen genügen.
Vert. Rechtsanwalt Dr. Thiele: Die Verhandlung sollte offenbar ein großer Schlag gegen den Spiritismus sein, das Verfahren ist aber zu einem Schlag ins Wasser geworden, es wird nicht dazu beitragen, den Spiritismus auszurotten. Im Gegenteil, die Verhandlung ist zur größten Reklame für den Spiritismus geworden. War es überhaupt notwendig, den Spiritismus zu bekämpfen? Soviel steht doch fest, der Spiritismus bietet nichts Unsittliches, nichts Strafbares, berührt aber andererseits eine Reihe der größten Probleme. Jeder Mensch hat wohl einmal Augenblicke gehabt, wo er über solche Probleme ernst nachgedacht hat, wo er im faustischen Drange an dem Vorhang rütteln möchte, der zwischen der sinnlichen und übersinnlichen Welt gezogen ist. Der Spiritismus ist nicht mit juristischen Mitteln zu bekämpfen. Wenn man ihn bekämpfen will, dann tue man es auf dem Gebiete der Bildung und Aufklärung. Die Angeklagte, die sich um die Welt nicht viel bekümmerte, sondern ein in sich[227] gekehrtes Leben führte, in bestimmten engen Grenzen verkehrte und nur in geschlossenen Zirkeln ihr zugetaner ner Menschen wirkte, ist der geschäftlichen Seite sicher ganz fern geblieben. Die Leute, die zu ihr kamen, haben sie besucht, wie man ein interessantes Theaterstück, ein Taschenspielerstückchen aufsucht, sie wollten »mit dabei sein«. Andere kamen wieder aus wissenschaftlichem Interesse. Sie alle haben ihre Gaben freiwillig hingegeben. Eine »Vorspiegelung falscher Tatsachen« liegt nicht vor. Es sind gar keine Tatsachen erzielt worden. Die Angeklagte überließ jedem, sich ein Urteil zu bilden. Nicht die Angeklagte hat die Personen getäuscht, sondern diese haben sich selbst getäuscht. Bezüglich der Apporte wird der Gerichtshof sich nicht darüber hinwegsetzen können, daß hier sehr viele kleine Leute mit praktischem Verstande und akademisch gebildete Leute aufgetreten sind, die die Apporte als echt hielten. Der Gerichtshof wird nur zu einem Non liquet kommen können und sagen müssen: Wir stehen vor Dingen, die wir nicht erklären können. Die Angeklagte ist eine kranke, hysterische Person. Wenn man von einem Opfer des Spiritismus reden kann, so ist die Angeklagte das bedauernswerteste.
Nach nur kurzer Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Gartz, folgendes Urteil: Der Gerichtshof erachtet diejenigen, die zu der Angeklagten gegangen sind, um Vorführungen aus der Geisterwelt zu sehen und dafür Taschenspielerkunststücke erhalten haben, in ihrem Vermögen geschädigt. Sie haben nicht das erhalten, was sie vertraglich zu beanspruchen hatten. Was die Aussagen der Zeugen betrifft, die bekundet haben, daß sie übersinnliche Dinge wahrgenommen hatten, so steht der Gerichtshof auf dem Standpunkt der Sachverständigen, daß das, was Gemeingut der Wissenschaft heutzutage ist, was von der Mehrzahl der Gebildeten als das Richtige in der Wissenschaft anerkannt wird, hier Platz greifen muß. Hätte die Angeklagte gesagt, daß Naturkräfte in ihr wohnen, die sie sich nicht erklären kann, so konnte sie nicht verurteilt werden. Wenn sie aber von übernatürlichen Dingen spricht, so hat sie etwas gesprochen,[228] was sie nicht leisten kann. Nach Ansicht des Gerichtshofes haben die Leute nicht sorgfältig beobachtet und sind getäuscht worden. Die Zeugen waren auch sehr geneigt, sich täuschen zu lassen, wie die Schlußfolgerungen, die Professor Sellin bei dem Vorgang in Zürich aus der Theorie des Astralleibes gezogen hat, beweisen. Wer so beobachtet, kann nicht als zuverlässiger Beobachter gelten. Auch bei anderen Personen liegt mangelhafte Beobachtung vor. Die Apporte stehen nach Ansicht des Gerichtshofs fast ausschließlich im engen Zusammenhange mit den Trancereden. Jedenfalls sind die Leute nicht zu der Angeklagten gegangen, um nur Trancereden zu hören. Diese Reden sind auch nicht in bewußtlosem Zustande gehalten worden. Der § 51 trifft daher nicht zu. Bei der Strafzumessung mußte berücksichtigt werden, daß die Angeklagte eine hysterische Person ist. Sie ist auf frischer Tat ertappt worden, sie hat ein umfangreiches Gewerbe betrieben, sich aber bei den einzelnen Betrugsfällen mit einem bescheidenen Gewinn begnügt. Mildernd muß auch in Betracht gezogen werden, daß die Leichtgläubigkeit der Spiritisten ihr zu Hilfe kam. Einzelne Personen hatten den Gottesglauben verloren, sie hat dazu beigetragen, daß diese Personen den Gottesglauben wiedergewonnen haben – freilich nur in der Form, daß sie eine äußere Verbindung vom Diesseits ins Jenseits fanden, während der kirchliche wahre Glaube ein wesentlich anderer ist. Wenn sie also auch geglaubt hat, ein gutes Werk zu tun, so fällt andererseits erschwerend ins Gewicht, daß sie mit der Religion ein frivoles Spiel getrieben hat und nach ihrer Entlarvung noch leugnete, was nicht mehr zu leugnen war. In Berücksichtigung alles dessen hat der Gerichtshof im Namen des Königs auf 1 Jahr 6 Monate Gefängnis erkannt und mit Rücksicht auf die lange Dauer der Untersuchungshaft acht Monate für verbüßt erachtet. Die Angeklagte hat außerdem die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Frau Rothe hatte auf Anraten ihrer Verteidiger auf das Rechtsmittel der Revision verzichtet und die gegen sie erkannte Strafe von zehn Monaten Gefängnis sogleich angetreten.[229]
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