Selbstverständlichkeiten

[147] Nichts versteht sich von selbst und doch gibt es unendlich viel Selbstverständlichkeiten. Man muß sie wissen, achten, beachten, und namentlich das gesellschaftliche Leben ist voller Fallen für den Uneingeweihten, dem eben das Selbstverständliche, ehe er es gelernt und sich daran gewöhnt hat, nicht geläufig ist. Glücklichen Menschen gibt es die Kinderstube ins Reisegepäck seines Lebens, andere, die sich emporarbeiten in »bessere Kreise«, haben viel Mühe sich damit abzufinden. Ihnen sei die kleine Zusammenstellung gewidmet, die allerlei maßgebliche Kleinigkeiten enthält. Sie kann nicht vollständig sein, da es unzählige Lebenslagen gibt, wo nur der Herzenstakt und gesunde Natürlichkeit die Richtung geben, aber sie macht aufmerksam auf Dinge, wo der Neuling leicht irren kann.

Eine mündliche, schriftliche oder gedruckte Einladung unterrichtet die Gäste über Tag und Stunde, zu denen ihre Anwesenheit in dem Hause des Gastgebers erbeten wird. Aus der Form der Einladung ist die Art der Gesellschaft ersichtlich. Für kleinere Zusammenkünfte werden mündliche oder schriftliche Aufforderungen einige Tage vor der Festlichkeit ausgesprochen; gedruckte Einladungskarten zu großen Gesellschaften, Bällen und[147] Hochzeitsfeiern versendet man 2 bis 6 Wochen vor dem Fest.

Die erhaltene Einladung wird möglichst rasch schriftlich beantwortet. Danach ist der Geladene verpflichtet, dem Festgeber einen kurzen Besuch abzustatten, um den Dank für die Einladung und seine Freude darüber oder das Bedauern über eine etwaige notwendige Ablehnung auszusprechen. Die Formen der Einladungskarten, wie sie orts- und zeitüblich sind, findet man in jedem besseren Papiergeschäft.

Jede Einladung muß im geschlossenen Umschlag versandt werden, die Benutzung einer offenen Postkarte ist nur unter intimen Freunden üblich.

Die Vorbereitung für eine Gesellschaft ist der Kleidungswechsel, der gleichzeitig die Änderung der Stimmung bedeuten und kennzeichnen soll. Das Alltagsgewand wird abgetan und mit dem Feierkleide stellen sich gute Laune und freudige Erwartung ein.

Für Herren ist zu größeren Gesellschaften Frack oder Smooking vorgeschrieben. Zum Frack weiße Weste und Kravatte, zum Smooking, schwarze Weste und Kravatte, Lackschuhe und weiße Lederhandschuhe vervollständigen den eleganten Gesellschaftsanzug.

Die Kleidung der Damen wechselt im Geschmack fast mit jedem Modenbericht.

Die Gastgeberin sollte niemals besser gekleidet sein als ihre Gäste; es wäre unschicklich, dieselben durch[148] eine besonders auffallende Kleidung oder kostbaren Schmuck zu überstrahlen.

Beim Eintritt in den Festraum suchen die Geladenen zuerst die Gastgeber auf, um sie zu begrüßen; dann erst wenden sie sich anderen, ihnen bekannten Personen zu.

Die erwachsenen Mitglieder des Hauses, in dem das Fest stattfindet, unterstützen die Gastgeber bei der Vorstellung der Gäste, die einander fremd sind. In einem kleinen Gesellschaftskreise ist das nicht nötig; die Vorstellung des neu hinzugekommenen Gastes wird gleich nach dessen Eintritt in das Gesellschaftszimmer von der Dame oder dem Herrn des Hauses übernommen. Der Name des eintretenden Gastes wird den Anwesenden genannt.

Wenn eine Dame der Gesellschaft vorgestellt wird, erheben sich alle Herren von ihren Sitzen und bleiben stehen, bis die Dame Platz genommen hat. Damen grüßen durch eine Verbeugung, bleiben aber sitzen; sie stehen nur auf, wenn die vorgestellte Person eine ältere Dame, ein alter Herr oder eine in höherem Range stehende Respektsperson ist.

In jedem größeren Kreise wird es gern gesehen, wenn sich jüngere Damen und Herren den älteren Anwesenden vorstellen lassen. Dies geschieht durch die Gastgeber, Mitglieder oder Befreundete des Hauses, indem die vorzustellende Person der anderen [Dame oder Herrn] zugeführt und genannt wird.[149]

Die dabei verwandten Formeln lauten etwa:

»Gestatten gnädige Frau, daß ich Ihnen Fräulein M vorstelle. Fräulein M – Frau von Sz.«

Oder:

»Gnädiges Fräulein, Herr B. bittet um die Ehre, Ihnen vorgestellt zu werden – Herr B. – Fräulein C.«

Oder:

»Meine Gnädige, Herr S. bittet um die Ehre, Sie zu Tisch [zum Tanz] führen zu dürfen; gestatten Sie mir, ihn vorzustellen – Herr S. – Frau Dr. L.«.

Der vorgestellte Herr verbeugt sich dann vor der Dame, sagt etwa:

»Darf ich die Ehre haben, gnädige Frau?«

und die Dame macht eine zusagende Verbeugung oder spricht einige bedauernde Werte, falls sie schon versagt ist.

Bei sehr großen Gesellschaften oder öffentlichen Festen ist Vorstellung nicht notwendig.

Genannt werden nur militärische Chargen, Gelehrtentitel oder dergl.

Verlangt es die Gelegenheit, daß jemand sich selbst vorstellt, so braucht die Persönlichkeit, der die Vorstellung gilt, ihren Namen nicht zu nennen, man nimmt an, daß der sich selbst Vorstellende sich vorher erkundigt habe, mit wem er spricht.

Ebenso wird nur der Name des Vorzustellenden genannt, wenn der Empfänger der Vorstellung eine sehr bekannte, berühmte oder hochstehende Person[150] ist, deren Name als allgemein bekannt gelten muß. Er nimmt die Vorstellung als eine ihm gebührende Ehre entgegen.

Die einfachste Art der Vorstellung vollzieht sich zwischen zwei, in Alter und Rang ungefähr gleichstehenden Herren; hier genügt eine leichte Verbeugung und die Nennung des Namens – beides wird ebenso erwidert. Z.B.:

»Referendar W. – – ›Assessor M.‹«

Oder: »Mein Name ist R. – – ›Dr. Sch.‹«

Das Anordnen der Festtafel zeigt den Reichtum des Hauses und den Geschmack der Hausfrau. Silber, Kristall und Blumen bilden den Hauptschmuck; doch ist man in neuerer Zeit davon abgekommen, hohe Tafelaufsätze und Blumenvasen zu benutzen, weil sie die Unterhaltung der Gegenübersitzenden sehr behindern. Modern sind Blumengewinde, verstreute Blüten und Sträußchen oder besonders schöne, einzelne Blumen in niedrigen, anmutig geformten, schlanken Vasen.

Das Decken des Tisches und die Speisenfolgen für die verschiedensten Gesellschaften sind in jedem guten Kochbuch beschrieben. Bemerkt sei nur noch, daß der Raum für jedes Gedeck 60 bis 70 cm betragen muß. Es wäre falsch, sechzig Gäste zu laden, wenn die Tafel nur für fünfzig Personen Platz bietet. Speisen werden dem Gast von der linken Seite angeboten, der Wein wird von rechts eingeschenkt und die gebrauchten[151] Teller werden auch von der rechten Seite entfernt.

Für die Festtafel größerer Gesellschaften geben die Festgeber eine Tischordnung, die im Vorzimmer einzusehen ist und jedem Herrn zeigt, welche Dame er zu Tisch führen soll und wo sich die Plätze an der Tafel befinden. Eine Tischkarte mit dem Namen des betreffenden Gastes liegt auf jedem Gedeck und es ist Sache der Herren, sich gut über die Lage ihres Platzes unterrichten, um ihre Damen ohne Umwege hinführen zu können.

Das Gelingen oder Mißlingen der Tischordnung ist sehr wichtig, es entscheidet oft die Stimmung und den Erfolg des ganzen Abends. Daher ist es ratsam, darauf zu achten, daß nebeneinander, gegenüber und in der Nähe nur solche Menschen sitzen, von denen man annehmen kann, daß ihre Unterhaltung lebhaft sein wird.

Der Hausherr führt die Dame zu Tisch, die bei dem Fest am höchsten geehrt werden soll; die Hausfrau wählt ihren Tischherrn vom gleichen Gesichtspunkt aus. Ehegatten und Geschwister werden niemals nebeneinander plaziert, dagegen sitzt ein Brautpaar bei Tische immer zusammen.

Der Herr des Hauses eröffnet mit seiner Tischdame den Zug zum Speisesaal; die Gastgeberin und ihr Partner treten als letztes Paar ein, nachdem die Dame des Hauses sich überzeugt hat, daß alle Gäste sich im Eßsaal befinden.[152]

Die Gastgeberin gibt das Zeichen zum Aufbruch, wenn die Tafel aufgehoben werden soll, sie und ihr Tischherr verlassen als erstes Paar den Speisesaal und begeben sich in ein anderes Zimmer. Alle Gäste folgen ihr. Das früher übliche »Gesegnete Mahlzeit« ist in Gesellschaft nicht mehr Sitte.

Die Gäste reichen oder küssen der Frau des Hauses die Hand, wechseln einen Händedruck mit dem Hausherrn und noch mit befreundeten Personen und stehen oder sitzen in zwanglosen Gruppen, bis der Kaffee gereicht oder eine andere Veranstaltung getroffen wird.

Bei Tisch sind alle Regeln zu beachten, deren selbstverständliche Ausübung den gut erzogenen, gebildeten Menschen erkennen läßt und deren Nichtbefolgung den nicht zur guten Gesellschaft Gehörenden sofort verraten würde.

Kleine Bissen von jeder Speise zum Munde zu führen, ist selbstverständliche Bedingung. Man darf nie sprechen, wenn man etwas im Munde hat, und große Bissen würden – ganz abgesehen von dem unschönen Anblick – die Unterhaltung ungebührlich behindern.

Eine anregende Unterhaltung bei Tisch schuldet in erster Linie jeder Herr seiner Tischdame und jede Dame ihrem Tischherrn; selbst starkes Interesse für eine andere Person in der Gesellschaft entbindet nicht von dieser Rücksichtnahme. Doch ist es gestattet, alle in der Nähe befindlichen Tischgäste in die Unterhaltung zu ziehen, soweit dieselben sich ohne Anstrengung im Hören[153] und Sprechen beteiligen können und wollen. Dagegen verrät lautes Sprechen, Lachen und Rufen, das die Aufmerksamkeit Fernsitzender erregen soll, Mangel an gesellschaftlichen Takt.

»Der liebe Nächste« sollte nicht als Unterhaltungsthema gewählt werden – es sei denn – der lebhafte Wunsch vorhanden, ein freundliches Lob oder die Bewunderung über eine Leistung des Betreffenden zum Ausdruck zu bringen. Kunst, Literatur, Theater, Reisen, Vergnügungen usw. geben genügenden Redestoff. Religiöse Gespräche sind zu vermeiden, mit politischen sei man vorsichtig!

Während einer Tischrede schweigt jeder und auch das Essen wird so lange eingestellt; Sprechen und Geräusch, vom Berühren der Teller, Gläser usw. herrührend, könnten den Redner stören.

Die Handschuhe werden bei Tisch ausgezogen und fortgesteckt, nicht auf die Festtafel gelegt.

Beim Verlassen der Gesellschaft gebührt den Gastgebern ein herzlicher Dank. Nur wenn besondere Umstände einen frühen Aufbruch einzelner Gäste veranlassen, tun diese besser, kein störendes Aufsehen durch ihr Fortgehen zu erregen, sondern mööglichst unbemerkt zu verschwinden.

In der Kleiderablage hat der diensttuende Geist Anspruch auf ein Trinkgeld, das feinfühlige Menschen vorbereitet halten, um im kritischen Augenblick nicht[154] lange suchen zu müssen. Man wählt für diesen Zweck immer eine einzelne Münze.

Eine bis zwei Wechen nach dem Fest wird den Gastgebern ein Dankbesuch abgestattet, der Gelegenheit gibt, alles Erfreuliche des Abends noch einmal in froher Erinnerung zu durchleben.[155]

Quelle:
Gleichen-Russwurm, Alexander von. Der gute Ton. Leipzig [o. J.], S. 147-156.
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