Offenheit und Zurückhaltung.

[17] Manche Menschen tun sich viel zu gute auf ihren Freimut, der sich in der Weise äußert, daß sie anderen fortwährend Grobheiten und sich selbst Schmeicheleien sagen. Diese Art von Freimut ist ebenso billig als geschmacklos und wird ihrer gesellschaftlichen Karriere nicht förderlich sein. Der gesellschaftliche Umgang erfordert ebenso viel Offenheit als Zurückhaltung. Wir sollen immer den Eindruck der Offenheit machen, ohne offen zu sein.

Klugheit und Takt sollen uns beraten, was auszusprechen und was zu verschweigen ist. Vergessen wir niemals, daß eine gesellschaftliche Zusammenkunft den Zweck hat, einige angenehme Stunden in schöner Form zu bieten und nicht den, die Schwächen der Menschen offenbar zu machen.

Auch eigene Bekenntnisse auszukramen ist weder klug noch delikat. Man klage nur jenen Menschen, die helfen wollen und können.

Besonders vorsichtig und zurückhaltend sei man mit seinem Rat.

Auch Gefühle und Liebenswürdigkeiten dosiere man. In die Gesellschaft gehören weder Pathos noch Enthusiasmus. Drängen wir niemanden unsere Freundschaft auf, namentlich nicht den Reichen und Vornehmen. Was wir selbst hoch bewerten, wird man umso mehr suchen.

Quelle:
Gratiolet, K. (d.i. Struppe, Karin): Schliff und vornehme Lebensart. Naumburg a.S. 1918, S. 17-18.
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