Der vornehme Brief.

[76] Wenn wir zum erstenmal von jemanden einen Brief in Händen halten, geht es selten ohne irgend eine Ueberraschung ab. Im Brief tritt uns eben das Wesen eines Menschen in mancher Hinsicht unverhüllter und klarer entgegen, als in der mündlichen Rede. Alle bestechenden, verwirrenden oder störenden Eindrücke, die beim mündlichen Verkehr mitspielen können, fallen im Brief weg – das Geschriebene wirkt nur auf das Auge.

Der Brief hat andere Gesetze als die Rede: manches, was im Gespräch ohne Schaden gesagt werden kann, nimmt sich als geschriebenes Wort ganz anders aus. Gute Redner sind nicht auch immer gute Briefschreiber.

Wieviel hängt oft von dem Eindruck ab, den ein erster Brief macht! In vielen Situationen ist er das Einzige, was man zunächst kennen lernt und kritisiert, was unsern Erfolg oder Mißerfolg entscheidet und aus der Konkurrenz als Sieger hervorgehen läßt. Beim Brief sind äußere Form und Inhalt zu berücksichtigen.

Zur äußeren Form gehören Briefpapier und Schrift. Daß sich für geschäftliche und amtliche Schreiben nur die entsprechenden Formate eignen, ist selbstverständlich. Für Briefe privaten Charakters hat man eine unendliche Auswahl in Papieren. Man lasse sich nicht von grellfarbigen Modepapieren blenden. Sie sind wie Extravaganzen in der Toilette – kostspielig anzuschaffen und sehr diskret[77] anzuwenden, wenn sie ihren Zweck nicht verfehlen sollen. Ein Papier von neutraler Farbe, ausgezeichneter Qualität und elegantem Format wirkt stets vornehm. Es empfiehlt sich seinen Bedarf nicht kleinweise, von Fall zu Fall zu decken, sondern sich auf eine Sorte festzulegen und sich mit dieser hinreichend zu versehen. Man kann sich einen Teil des Papieres mit seinem Monogramm oder Namensaufdruck versehen lassen. Es ist dies keine übermäßige Ausgabe und gibt unserer Korrespondenz einen einheitlicheren Charakter. Papier sehr minderer Qualität zu verwenden, bedeutet nicht nur eine Mißachtung dem Empfänger gegenüber, sondern auch eine geringe Einschätzung dessen, was wir aus unserer Hand geben; das Papier ist doch immer die Hülle für den Inhalt. Man spare besser an der Zahl seiner Briefe – schreibe weniger aber wertvollere Briefe.

Bei Briefen an Höhergestellte finden es die meisten Menschen selbstverständlich, alle Sorgfalt auf die äußere Form zu verwenden, sie lassen sich jedoch oft gehen, wenn sie an Leute geringeren Standes schreiben und bedenken nicht, daß gerade von dieser Seite die genaueste Kritik geübt wird. Und unsere Briefe gehen oft die sonderbarsten Wege ...

Die äußere schriftliche Darstellung ist von wesentlicher Bedeutung für den Eindruck eines Briefes, ist das, was für die Rede eine schöne sympathische Stimme, für unsere Bewegungen Rhythmus und Grazie sind. Man sollte meinen, es sei jeder gebildete Mensch von der Notwendigkeit einer schöner Handschrift überzeugt und würde nötigenfalls alles daranwenden,[78] um sie zu verbessern. Die Menschen lernen ja auch tanzen, um ihre gesellschaftliche Stellung zu verbessern, sie geben sich Mühe einen eleganten Gang zu bekommen, oder es in einem Sport zur Meisterschaft zu bringen ... Doch selten verwenden sie besondere Energie darauf, sich eine elegante Handschrift anzueignen.

Mag man auch die Handschrift als Charakteristikum unseres Wesens ansehen und an eine angeborne Anlage glauben – was hindert uns denn, diese Anlage nötigenfalls zu verbessern, wie wir es mit andern Anlagen ja auch tun müssen?

Das Absolvieren eines Schreibkurses allein genügt noch nicht; dies wird immer eine Schablonenschrift zeitigen und bei aller äußeren Korrektheit das Gepräge des Langweiligen, Mühsamen, sogar Unbeholfenen behalten. Solch eine charakterlose Schrift wird niemals imponieren. Ob man nun durch seinen Beruf viel oder wenig zu schreiben gezwungen ist, man nehme sich jedenfalls die Mühe durch ausdauernde Uebungen eine ausgeschriebene, charakteristische Handschrift zu bekommen, die das Gepräge unserer Persönlichkeit trägt, ohne die ästhetische Form zu verletzen. Wir sind das der Außenkultur unserer Persönlichkeit schuldig.

Vom orthographischen Schreiben gilt das Gleiche wie vom fehlerfreien Gebrauch der Muttersprache in der Konversation: es ist das wenigste, was man von einem gebildeten Menschen verlangen kann. Zum vornehmen eleganten Brief gehört mehr – gehört namentlich Stil.

Es liegt nicht im Rahmen dieses Büchleins, guten Briefstil zu lehren. Er ist auch schlechterdings nicht[79] erlernbar, sondern – ähnlich wie gute Konversation – das Produkt unserer gesamten Bildung.

Wenn man inbezug auf gesellschaftliche Redekunst den Rat geben kann: Wer guter Redner werden will, möge als aufmerksamer Hörer beginnen, so gilt hier der Satz: Wer einen guten Brief schreiben will, pflege fleißig gute Lektüre und lese namentlich in mustergültigen Briefsammlungen. Die landläufigen Briefsteller nützen nur insofern, als sie über äußere Formeln – Anreden und Briefschlüsse – orientieren. Im übrigen sind alle Briefstellerphrasen ein grober Verstoß gegen alle Eleganz und ein trauriges Armutszeugnis für den, der sie anwendet.

Man lege sich erst die Gedanken zurecht, die man zum Ausdruck bringen will. Dann kleide man sie in eigene – nicht irgendwoheraus entlehnte Sätze. Prüfen wir einen Brief daraufhin, ob sich das Geschriebene auch für die mündliche Rede eignen würde! Klingt es unter diesem Gesichtspunkt betrachtet unnatürlich und geschraubt, dann ist es schlechter Stil. Der vornehme Stil ist einfach, ehrlich, phrasenlos. Alles Gekünstelte, Pathetische ist unelegant.

Wer im Briefschreiben nicht sehr gewandt ist, mag sich immerhin erst ein Konzept anfertigen und daran feilen – der Brief selbst darf keine Korrekturen und Radierungen aufweisen. Er muß den Eindruck des Mühelosen, fließend Hingeschriebenen machen, ohne dabei nachlässig oder unsorgfältig zu wirken.


Postkarten kann man nur an Gewerbetreibende oder Dienstboten oder an sehr intime Bekannte[80] schicken. Ansichtskarten dürfen in der Regel nur an gleichgestellte Personen gesandt werden; an Höherstehende sendet man sie unter Kuvert.

Der vornehme Brief ist nie ausfallend und leidenschaftlich; er findet stets die richtige Form, in der sich auch starke und stärkste Grade ausdrücken lassen, ohne daß damit dem Empfänger eine Waffe in die Hand gegeben wird. Deshalb soll man Briefe auch nie zu früh beantworten – zu früh angekommene Briefe haben schon viel mehr Schaden angerichtet als zu spät erhaltene.


Dem Gesellschaftsmenschen müssen die verschiedenen Arten der Briefe geläufig sein, vom nüchternen Geschäftsbrief bis zum formvollendeten zarten Liebesbrief. Der Geschäftsbrief verträgt keine geschmückte Sprache, keine blumigen Phrasen. Er verlangt Sachlichkeit, Klarheit, Kürze und äußere Korrektheit, d.i. Beachtung der Titel und Formen. Trotzdem ist es für den gebildeten Menschen nicht notwendig, das üble »Kaufmannsdeutsch« anzuwenden.

Bei Zweckbriefen versäume man nicht, das Datum richtig zu setzen.

Besonderen Takt und wirkliches Feingefühl verlangen die Kondenzbriefe. Bei diesen wird viel nach Schablone und mit viel unwahren Phrasen gearbeitet. Und doch hätte gerade in solchen Momenten ein wahr und tiefempfundenes Wort – aus dem Herzen zum Herzen gesprochen – eine schöne Mission zu erfüllen ....
[81]

So kann z.B. ein junges Mädchen an eine ältere Dame schreiben, deren Sohn gefallen ist:

Sehr verehrte gnädige Frau!


Tieferschüttert habe ich die Nachricht von dem Heldentode Ihres Sohne gelesen. Wohl weiß ich, daß Menschenworte in der Stunde schwersten Leides zu arm sind, um Trost geben zu können. Dennoch ist es mir ein Herzensbedürfnis, Ihnen, hochverehrte gnädige Frau, zu sagen, wie sehr ich unter dem Eindruck des furchtbaren Geschickes stehe, das Ihnen den einzigen Sohn und mir den Gespielen meiner Kindheit genommen hat.

Möge Sie in Ihrem tiefen Leid der Gedanke ein wenig aufrichten, daß Ihr Sohn sein junges Leben für eine große heilige Sache hingab und daß Tausende deutscher Mütter sich eins fühlen mit Ihrer Trauer.

Ich küsse voll Ehrerbietung Ihre gütigen Hände.

Ihre

ergebene

Rosa Walser.


Ein Kondolenzbrief hat sofort geschrieben zu werden; die Antwort muß auf sich warten lassen.


Bei Gratulationsbriefen anläßlich einer Beförderung schreibt man gleich den neuen Titel.[82]

Ueber Anreden gibt jeder Briefsteller Auskunft. Zu merken ist noch, daß man nie »Geehrte Dame« schreibt, sondern »Geehrte Frau«.

Die Abkürzungen »P.P.« und »P.T.« und »N.N.« sind im eleganten Briefstil nicht zulässig. Man schreibt je nach der Stellung der Person – und die geht selbst aus einer Annonce hervor – entweder »Ew. Wohlgeboren« oder »Ew. Hochwohlgeboren« – und unterzeichnet »Achtungsvollst« oder »Hochachtungsvoll!«[83]

Quelle:
Gratiolet, K. (d.i. Struppe, Karin): Schliff und vornehme Lebensart. Naumburg a.S. 1918, S. 76-84.
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