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[4] Es sind im Ganzen vier Hauptgründe, die mich schließlich zum Eintritt in die sozialdemokratische Partei veranlaßt haben. Der erste ist mein christlicher Glaube. Ich erkläre nämlich gleich hier, au erster Stelle, daß ich auch als Parteigenosse mein evangelisches Christenthum – so wie ich es verstehe – nicht aufzugeben gesonnen bin, daß ich auch als Sozialdemokrat Christ in meinem Sinne bleiben werde. Auf Grund des Satzes im Parteiprogramm: Religion ist Privatsache. Ich weiß: Das wird manchem meiner neuen Parteifreunde ein geringschätziges Lächeln abnöthigen. Meine religiöse Position wird ihm als etwas Minderwerthiges, als ein Stück Erbe meiner Vergangenheit, als dieser Vergangenheit zerbrechliche Eierschale erscheinen. In Manches Geist taucht bei dieser Erklärung vielleicht die Gestalt des unglücklichen Kandidaten von Waechter auf, und er sieht in mir dessen Nachfolger und Ebenbild. Da aber täuscht er sich. Zwischen mir und Walter besteht auch religiös ein großer Unterschied. Waechter wollte auch als Genosse nicht nur Christ, sondern auch Prediger und Prophet sein; mir liegt das ganz fern. Ich habe für immer mein Predigeramt aufgegeben. Ich sehe in der sozialdemokratischen Partei nur eine politische Partei. Wer in ihr arbeiten will, muß es irgendwie als Politiker thun: so will und kann auch ich mich in ihr nur politisch bethätigen. Das schließt freilich nicht aus, daß ich gelegentlich auch einmal von meinen religiösen Anschauungen rede. Aber ich werde es immer nur unter zwei Bedingungen thun: entweder, wenn sie angegriffen werden, um sie zu vertheidigen, oder, wenn ich direkt aufgefordert werde, sie darzulegen. Im Uebrigen bleiben sie mein persönliches Eigentum. Und keine Geringschätzung wird sie mir rauben. Denn ich habe die felsenfeste Ueberzeugung, im Punkte der Religion auf dem richtigeren Wege zu sein als eine große Zahl meiner neuen Parteigenossen.
Doch wie Dem auch sei: Thatsache ist, daß eben meine religiösen Ueberzeugungen mich mit zum Sozialdemokraten gemacht haben. Auch Das wird Manchem vielleicht als eine neue Wunderlichkeit erscheinen. Dem aber, der nur genauer zusieht, wandelt sich diese Wunderlichkeit in eine Nothwendigkeit.
Bekanntlich hat der Stifter der christlichen Religion, Jesus von Nazareth, den ganzen Inhalt seiner Lehre gelegentlich in den Satz zusammengefaßt: Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen und Deinen Nächsten wie Dich selbst. Daraus geht zunächst Eins hervor: alle Religion war ihm Liebe. Keine besondere, von anderen unterschiedene Weltanschauung, keine neue Wissen schaft, keine verstandesmäßige Lehre, kein Dogma, kein Wissen. Nichts als [4] eine einzige Stimmung, ein einziges Gefühl, das höchste und beglückendste, über das der Mensch verfügt: Liebe. Und zwar Liebe nach zwei Dichtungen, Liebe zu Gott und zu den Menschen. Von der ersten ist hier nicht weiter zu reden. Nur von der zweiten. Diese aber ist für Jesus die Konsequenz aus jener. Und zwar die unbedingte, Alles entscheidende Konsequenz. Ja, Liebe zu Gott gilt ihm überhaupt nichts ohne Nächstenliebe. Nächstenliebe ist ihm geradezu der sichtbare Ausdruck der anderen, ihr Prüfstein und ihre Bethätigung. Alle Religion in seinem Sinne, so weit sie unter Menschen zum Ausdruck kommt, muß Nächstenliebe sein. Das ganze Leben Derer, die religiös sein wollen wie er, soll von nichts Anderem als dieser Nächstenliebe erfüllt sein. Sie allein soll ihr Denken, Fühlen, Wollen, ihr Thun und Leiden bestimmen bis zum letzten Athemzug. Er giebt dafür keine Verhaltungsmaßregeln im Einzelnen. Er überläßt es Jedem, in jeder einzelnen Situation des Lebens und jedem einzelnen Menschen gegenüber, selbst sein Verhalten zu bestimmen, seine Entschlüsse zu fassen. Aber stets und allein soll ihn dabei die Nächstenliebe leiten.
Wenn man Dem ein wenig nachdenkt: welch eine edle und ungeheure Anforderung, über die hinaus es keine größere an Menschen zu stellen giebt! Und dabei doch keine übermenschliche, keine unausführbare. Es ist äußerst interessant zu beobachten, wie Jesus selbst die Schranke dieser Nächstenliebe sieht und auch zieht: bei der Liebe des Menschen zu sich selbst. Nächstenliebe soll nicht größer sein als Selbstliebe, weil sie es ja doch nicht vermöchte; aber freilich auch nicht geringer. Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst. Du sollst in ihm Dich selber wiedersehen und lieben. Du hast das volle Recht, das Beste, Schönste, Höchste in der Welt, geistige, sittliche und materielle Güter für Dich zu erstreben und zu erwerben; denn Du hast das natürliche Recht, Dich zu lieben. Lieben aber heißt, glücklich machen und glücklich sein. Und wahrlich – wer wollte es leugnen! – nur Der ist wahrhaft glücklich, der auch im harmonischen Besitze möglichst aller menschlichen Güter, geistiger, sittlicher und materieller ist; der sie genießt, indem er sie erwirbt. Aber freilich: Du hast dieses Recht nur, wenn Du zugleich die Pflicht erfüllst, auch den Anderen zu gönnen, zu erstreben und zu verschaffen, was Du Dir gönnst. Denn Du hast die Pflicht, sie zu lieben wie Dich selbst, sie glücklich zu machen wie Dich selbst. Sie Alle sind Du selbst. Du bist sie. Du darfst das Höchste haben, aber nur mit ihnen. Und nur, indem Du es für sie, für Alle erringen hilfst, darfst auch Du es Dir erringen, der Du nur ein Glied, ein Stück, ein Theilchen der Gesammtheit und nur durch diese lebendig bist. Das ist es, was, in Worten von heute, die Nächstenliebe Jesu lehrt. Es ist nichts Anderes als echter Egoismus und voller Altruismus neben- und ineinander, in gesündester Verbindung. Es ist mit einem einzigen modernen Worte: die Solidarität Aller. Und wer ein ganzer und ehrlicher Jünger Jesu sein will, muß sich mit ihr erfüllen und an ihrer Verwirklichung auch arbeiten. Das aber heißt, unter den heutigen Verhältnissen alle seine Kräfte, über die man verfügt, seine Nerven, seine Bildung, seinen sozialen Einfluß und seine soziale Existenz[5] rastlos und furchtlos dafür einsetzen, daß endlich einmal aller Noth und Dürftigkeit in jeder Gestalt ein Ende gemacht, daß allmählich allen Menschen voller Antheil an allen Gütern der Kultur gegeben wird, und Alle, die Menschenantlitz tragen, wirklich auch volle, gesunde und harmonische Menschen zu werden vermögen. Diese Solidarität in Gesinnung und That, sie muß Ziel und Inhalt der Nächstenliebe jedes ernsthaften Christen von heute sein. Und er müßte an ihrer Verwirklichung arbeiten auch dann, wenn er ganz allein mit ihr stünde.
Aber er steht in Wirklichkeit heute nicht allein. Das ist der große Unterschied zwischen heute und damals, wo Christus lebte. Er hat heute Tausende und Abertausende von Gesinnungsgenossen. Freilich nicht in kirchlichen Kreisen. Dort herrscht vielmehr gewöhnlich ein ganz anderes Ideal von Nächstenliebe, die sogenannte christliche Wohlthätigkeit, die gewiß auch – ich weiß das aus meiner Pfarrerszeit her – ihre guten Seiten hat, aber das Eine nicht zu leisten vermag, worauf es schließlich ankommt, die Noth und das Elend aus der Welt zu schaffen. Es ist vielmehr die Sozialdemokratie, die mit ihm dasselbe Ziel auf ihre Fahne geschrieben hat. Freilich aus ganz anderen Motiven als er. Nicht aus religiösen; nicht, weil es eine der höchsten sittlichen Forderungen Jesu ist, sondern, weil es das Heil und die endliche, die allein dauernde Erlösung für die Massen des Proletariates ist, das heute noch in hundertfacher Engigkeit und Abhängigkeit schmachtet. Aber was thut die Verschiedenheit der Motive? Nicht auf die Motive kommt es an, sofern diese nur gut, berechtigt, sittlich erlaubt sind. Was aber ist edler, sittlicher, berechtigter, als daß der in Noth und Gebundenheit befindliche Mensch sich dieser Noth und Gebundenheit endlich entledigen will? Noch dazu, wenn er Das zu erreichen sucht nicht dadurch, daß er Andere an seine Stelle in Noth und Gebundenheit stürzt, sondern die Abhängigkeit und Gebundenheit, die drückt, überhaupt beseitigt und die Abhängigen und Gebundenen nur zu der Höhe, Freiheit und Kraft, die die Andern schon haben, empor hebt? Daß er, mit anderen Worten, eine Gesellschaft schaffen will, in der Alle, die Menschen sind, ein gleich glückliches, gleich menschenwürdiges, Geist, Leib und Charakter befreiendes Dasein leben? Für dieses Ziel aber kämpft die Sozialdemokratie ununterbrochen schon seit mehr denn fünfunddreißig Jahren. Sie hat kein anderes als dieses; Nichts, auch die letzten Auseinandersetzungen in ihr, haben es ihr nicht zu nehmen vermocht. Ungezählten ihrer Anhänger ist es schon Trost und Kraft, die Quelle immer neuer Lebenshoffnung geworden. Es ist die Alles treibende Gewalt der ganzen Bewegung, ihr Stolz, ihr sie über Alle und Alles erhebendes Ideal. Wahrlich: die heilige Solidarität Christi und aller seiner ehrlichen Jünger, in der Sozialdemokratie hat sie ihre moderne Auferstehung gefeiert. Und weil ich um diese Thatsache nicht herum komme, schon deshalb mußte ich schließlich den Schritt thun, den ich gethan habe: um meines Christentums willen, so wie ich es verstehe, mußte ich Sozialdemokrat werden.
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