Die Gesetzlichkeit der Sozialdemokratie.

[11] Und endlich die dritte Art der Taktik, die die Sozialdemokratie stark und immer stärker macht: Die Taktik der unbedingten Gesetzlichkeit. Wir wissen, daß die Anfänge der Partei in den französischen Revolutionen der letzten hundert Jahre und in der deutschen von 18848 und 49 ruhen. Die Sozialdemokratie ist in ihren Ursprüngen eine revolutionäre Partei im wahrsten und massiven Sinne dieses Wortes. Aber sie hat diesen relativ niedrigen Begriff des Revolutionären zu vergeistigen, zu vertiefen, zu adeln verstanden. Sie ist heute revolutionär nur im Hinblick auf das Endziel und in der Kraft ihrer neuen Wissenschaft. Aber sie hat diese Begriffswandlung nicht aus Opportunismus vollzogen, sondern in der nüchternen Erkenntniß der politischen Sachlage, die sich gerade als Produkt jener Revolutionen herausgebildet hat. Deren Ergebniß ist die »bürgerliche Freiheit«, die Gleichheit Aller vor dem Gesetz, das allgemeine Wahlrecht, das Koalitionsrecht, Freizügigkeit, Preßfreiheit, Bildungsfreiheit, Freiheit der Berufswahl, Freiheit und Recht der eigenen Ueberzeugung, sogar der religiösen. Alle diese Rechte und Freiheiten sind – formell wenigstens – Jedem durch das Gesetz verbürgt. Sie zu gebrauchen, bis in ihre letzten Konsequenzen hinein zu gebrauchen: das ist die ganze sozialdemokratische[11] Taktik der Gesetzlichkeit. Denn eben diese konsequente Ausnutzung aller bürgerlichen Rechte, und insbesondere ihre sinngemäße und unbedingte Anwendung aus ökonomischem Gebiet, führt tief in sozialistische Organisationen und in die sozialistische Gesellschaft selbst hinein. Den Gegnern aber bleibt nur Zweierlei übrig: entweder sie bleiben auch auf dem Boden der Gesetzlichkeit: dann müssen sie die sozialdemokratische Arbeit nicht nur gewähren lassen, sondern selbst das Hineinwachsen in den Sozialismus mit fördern. Oder sie wollen weder selbst daran mit arbeiten, noch die Sozialdemokratie daran arbeiten lassen, sie vielmehr daran hindern: dann verhindern sie sie an der Ausübung der ihnen verliehenen staatsbürgerlichen Rechte, dann übertreten sie das Gesetz, setzen sich ins Unrecht, die Sozialdemokratie aber ins Recht und machen sie noch obendrein zur Märtyrerin. Nichts aber wirkt sieghafter, nichts agitatorischer als Märtyrerthum. So fördern sie wiederum die Sozialdemokratie, die nur den Boden der Gesetzlichkeit zu behaupten braucht. Besonders eindrucksvoll wurde das, als Bismarck gesetzlich und ausnahmegesetzlich zugleich gegen sie vorging, als er das Sozialistengesetz und die Sozialgesetzgebung gegen sie inaugurirte und die Partei auch da ruhig, abwartend, gesetzlich blieb: niemals war sie stärker als in der Mitte der neunziger Jahre, nachdem beide Gesetze ihr Ende gefunden hatten; beide hatten ihr unendlichen Nutzen gebracht. So ist die Taktik der Gesetzlichkeit in jedem Falle eine unüberwindliche Fechtweise, die nothwendige unerläßliche Ergänzung jener beiden anderen Arten, die wir vorhin erörterten, alle drei zusammen aber ein neues großes Unterpfand dafür, daß die Sozialdemokratie und nur sie die endliche Verwirklichung der neuen solidarischen Gesellschaft herbeiführen kann und wird.

Quelle:
Göhre, Paul: Wie ein Pfarrer Sozialdemokrat wurde. Eine Rede von Paul Göhre, Pfarrer a.D., Berlin 1900, S. 11-12.
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