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So lange genaue Beobachtung, unermüdete Forschung und sorgfältige Vergleichung nicht dahin gelangt ist, der bei Menschen vorkommenden, unglaublichen Menge von Krankheitserscheinungen und Krankheitsfällen, welche die Natur immerdar verschieden und höchst abweichend hervorzubringen scheint, wirklich festständige Urübel nachweisen zu können, so lange ist es offenbar, dass jede einzelne Krankheitserscheinung, so wie sie sich zeigt, nach dem Umfange der sich in jedem Falle zeigenden Symptome homöopathisch behandelt werden müsse, wodurch sie alle doch unendlich besser beseitigt werden, als nach allem bisherigen Cur-Schlendriane des gemeinen Arztwesens.
Die bisherige Arzneischule wähnte, mit der Cur jener grossen Verschiedenheit von Krankheitserscheinungen am leichtesten dadurch fertig werden zu können, dass sie eine Reihe von Krankheitsformen eigenmächtig auf dem Papiere festsetzte, welche alle am Krankenbette vorkommenden Krankheitsfälle vorstellen und in sich begreifen sollten. Die Aerzte nannten dieses ihr Machwerk Pathologie.[3]
Da sie die Unmöglichkeit vor sich sahen, jeden Krankheitsfall nach seiner Eigenheit hülfreich behandeln zu können, glaubten sie, aus jener anscheinend unübersehlichen Menge abweichender Krankheitserscheinungen, welche die Natur hervorbringt, einige Uebelseynszustände, in denen sich ein oder das andre grössere Symptom öfterer in Aehnlichkeit antreffen lässt, als Grundformen herausheben und sie mit allgemeinen, nicht selten bei Krankheiten vorkommenden Zufällen ausgestattet und mit eignen Namen belegt, als ständige, sich gleich bleibende, abgeschlossene Krankheiten aufstellen zu müssen. Diese von ihnen fabricirten Krankheitsformen zusammen gaben sie dann für den Inbegriff der ganzen Krankheitswelt, für die Pathologie selbst aus, um doch wenigstens für diese ihre erkünstelten Gebilde besondre Curpläne festsetzen zu können, die man dann als Therapie zusammenstellte.
So machte man aus der Noth eine Tugend, bedachte aber nicht, was aus dieser Unnatur für Unheil entstehen müsse, bedachte nicht, dass diese der Natur Gewalt anthuende Willkürlichkeit, durch tausendjährige Fortführung verjährt, endlich für ein symbolisches, unverbesserliches Werk1 gehalten werden würde.[4]
Wer dann als Arzt gerufen in dem Falle war, am Krankenbette, wie die Kunst forderte, zu überlegen, an welcher namentlichen Krankheit der Pathologie sein Kranker leide, musste bei mehren Symptomen, die die Pathologie unter dieser Form angegeben, weil sie bei seinem Kranken sich nicht fanden, doch annehmen, dass sie nur zufällig hier nicht vorhanden, und wohl da seyn könnten, wenn sie auch nicht da wären - die übrigen, oft sehr zahlreichen und wichtigen Beschwerden und Zufälle aber, woran der Kranke eben wirklich litt, die aber in der Definition des Krankheitsnamens im pathologischen Buche nicht zu finden waren, musste er, so befahl's die Kunst, für unwesentlich, für zufällig, für unbedeutend, gleichsam für wilde, unartige Ausschösslinge (Symptome von Symptomen) annehmen, die nicht zu berücksichtigen wären.
Nur durch solches, unerhört eigenmächtiges Anflicken an den wirklichen Krankheitszustand und eben so eigenmächtiges Wegschneiden davon, gelang es der schulgerechten Willkür, die Reihe von Krankheiten, wie sie in der Pathologie aufgestellt sind, zu verfertigen, und in der Praxis dem Kranken eine der Krankheiten aus dieser Pathologie anzudemonstriren, woran die Natur bei seiner Erkrankung nie gedacht hatte.
"Was kümmert uns," sprechen die Arzneilehrer und ihre Bücher, "was kümmert uns die Anwesenheit der mancherlei sonst noch an dem Krankheitsfalle zu findenden, verschiednen Symptome, oder die Abwesenheit der etwa fehlenden? Solche empirische Kleinigkeiten darf der Arzt nicht achten; sein praktischer Blick, das Eindringen seines geistigen[5] Auges2 in die innere Natur des Uebels entscheidet gleich bei der ersten Ansicht des Kranken, was ihm fehle, mit welcher pathologischen Krankheitsform der Arzt es zu thun, und mit welchem Namen er es also zu belegen habe, und seine Therapie sagt ihm, was für Recepte dagegen zu verschreiben sind."
So wurden die aus dem Menschenwerke, Pathologie genannt, auf den Kranken lege artis übertragenen und ihm angedichteten Krankheits-Trugbilder fertig, die es dem Arzte so leicht machten, stehenden Fusses aus seinem Gedächtnisse ein Paar Recepte hervorzurufen, die die klinische Therapie (des Recepttaschenbuches) für diesen Namen schon zusammengesetzt vorräthig hält.
Aber wie konnten die Recepte für diese Krankheitsnamen entstehen? Welche göttliche Offenbarung gab sie so unmittelbar ein?
Lieber! Es sind theils Formeln von einem vornehmen Praktiker bei diesem oder jenem Krankheitsfalle, dem auch er eigenmächtig diesen Namen aus der Pathologie zugeschrieben hatte, aus mancherlei, ihm dem Namen nach wohl bekannten, Ingredienzen in seinem Kopfe zusammengewürfelt, und mit derjenigen wichtigen Kunst, die man Receptirkunst (artem formulas concinnandi recteque concipiendi)[6] nennt, in eine elegante Form gebracht, wodurch wenigstens den Forderungen der chemischen Schicklichkeit und der pharmaceutischen Observanz, wenn auch nicht dem Wohle des Kranken, Genüge geleistet ward; - ein oder mehre Recepte dieser Art für den benannten Fall, wobei der Kranke wenigstens nicht starb, sondern sich, seiner guten Natur und dem Himmel sey Dank! nach und nach wieder erholte. Also Recepte, aus den Schriften namhafter Praktiker entnommen. Theils sind es Formeln, welche auf Verlangen eines Verlegers, welcher wohl wusste, wie herrlich Recepttaschenbücher im Buchhandel abgehen, von einer in seinem Solde stehenden gutwilligen Seele, die in arte formulas concinnandi taktfest geübt war, oben in einem Dachstübchen rein weg für die pathologischen Namen fabricirt wurden, nach Anleitung der Tugenden, welche die materiae medicae, lügenhaften Andenkens, den einzelnen Arzneisubstanzen freigebig zugetheilt haben.
Fand der Arzt jedoch die Krankheit bei seinem Patienten einer der pathologischen Krankheitsformen allzuwenig entsprechend, als dass er ihr einen solchen bestimmten Namen hätte beilegen können, so stand es ihm frei, nach seinen Büchern, dem Uebel einen fernern und verborgnen Ursprung zu ertheilen, um hierauf (auf diese Erdichtung hin) eine Cur einzurichten. Da ward, wenn der Kranke vor Zeiten einmal Kreuz- und Rückenschmerzen (gleichviel, welche?) gehabt hatte, die Krankheit frischweg für versteckte oder da oder dorthin getretene Hämorrhoiden, - wenn er einen gespannten Unterleib, schleimige Excremente, mit Heisshunger abwechselnde Appetitlosigkeit, auch wohl nur Jücken in der Nase[7] gehabt hatte, für eine Wurmkrankheit, oder wenn er zuweilen Schmerzen (gleichviel, welche?) in den Gliedmassen hatte, sein Uebel für versteckte, auch wohl unreife Gicht ausgegeben, und so auf die angebliche innere Krankheitsursache los curirt. Fanden sich Anfälle von Schmerzen im Unterleibe, so mussten Krämpfe daran Schuld seyn; stieg das Blut oft nach dem Gesichte, oder blutete die Nase, so war der Kranke entschieden allzu vollblütig; magerte der Kranke bei den Curen, wie natürlich, sehr ab, so musste gegen Auszehrung gearbeitet werden; war er dabei empfindlich von Gemüthe, so war Nervenschwäche zu bekämpfen; litt er an Husten, so war versteckter Katarrh, auch wohl ein Ansatz zur Lungensucht im Hinterhalte; der Kranke müsste denn in der rechten Bauchseite zuweilen Schmerzen empfinden, oder auch nur im rechten Schulterblatte, da würde ohne Zweifel eine heimliche Leberentzündung, oder verborgene Verhärtung derselben angenommen werden müssen. Einem alten Hautausschlage oder einem Schenkelgeschwür müsste, um eine Cur drauf zu richten, theils eine Flechtenschärfe, theils ein Skrophelgift angedichtet werden, so wie einem langwierigen Gesichtsschmerze billigermassen ein Krebsgift. Hatte man aber nun bald diesen, bald jenen, durch Vermuthung gebornen, innern Krankheitszustand nacn den klinischen Büchern vergeblich durchcurirt, dann blieb, wenn auch die unbestimmter Weise für alles helfen sollenden mineralischen Bäder bereiset worden waren, nichts übrig, als die von dem weiland hochberühmten Kämpf ersonnenen Infarcten des Unterleibes und seine Verstopfungen in den feinsten Gefässen dieses Theils anzunehmen, und mit dessen widersinnig gemischten Kräuterbrühen, zu Hunderten in die dicken[8] Gedärme eingespritzt, auf Kämpf's Seele hin, so weit zu quälen, bis er genug habe.
Da konnte es freilich, bei so leicht zu erträumenden Vermuthungen, dem Himmel sey Dank, nie an Curplänen fehlen, womit sich die Leidenstage des Kranken ausfüllen liessen (denn Recepte giebt es ja die Fülle für alle Krankheitsnamen); so weit sein Beutel, seine Geduld, oder seine Lebensdauer zureichen wollten.
"Doch, nein! wir können noch gelehrter und scharfsinniger zu Werke gehen, und die Uebel, wovon das Menschenkind befallen wird, in der Tiefe und Verborgenheit abstracter Lebensansichten aufsuchen und conjecturiren, ob hier die Arteriellität, die Venosität, oder die Nervosität, ob die Sensibilität, die Irritabilität oder die Reproduction an dem Mehr oder Weniger leide (denn die qualitativen unendlichen Verschiedenheiten, an denen diese drei Aeusserungen des Lebens leiden können und mögen, berühren wir geflissentlich nicht, um uns der Last des Erdenkens und Vermuthens nicht noch mehr auf den Hals zu laden); wir rathen bloss, ob diese drei (Lebensflächen) Dimensionen entweder deprimirt, oder zu hoch gespannt seyen. Leidet die erstre, zweite oder dritte Dimension, nach unserm Bedünken, an einer der beiden Arten des Zu-hoch oder Zu-niedrig, so können wir dagegen dreist manövriren, nach dem Schema der neuen chemiatrischen Secte, die sich aussann, ›dass nur Stickstoff, Wasserstoff und Kohlenstoff die Seelen der Arzneien, d.i. das einzig Wirksame und Heilbringende in ihnen seyen; dass ferner Kohlenstoff, Stickstoff und Wasserstoff die Irritabilität, die Sensibilität und das reproductive System, folglich (wenn die Prämissen richtig sind) das ganze[9] Leben nach Gefallen regieren und auf- und niederschrauben (potenziren und depotenziren), folglich alle Krankheiten heilen könnten‹ -Schade nur, dass sie noch uneins sind, ob die äussern Einflüsse durch ihre Gleichheit oder ihren Gegensatz mit den Stoffen des Organism's wirken!"
Damit aber auch die Arzneien diese Stoffe, welche sie, so viel man sich erinnern kann, bisher nicht besassen, nun auch wirklich bekämen, so wurden sie ihnen sämmtlich am Schreibepulte in den Feierabendstunden förmlich angedichtet, und in einer eigens dazu erschaffenen Materia medica decretirt, was jene Arzneisubstanz an Kohlenstoff, Stickstoff und Wasserstoff von nun an enthalten solle.
Lässt sich wohl die ärztliche Willkür weiter treiben, oder mit Menschenleben frevelhafter spielen?
Aber wie lange soll diess unverantwortliche Spiel mit Menschenleben noch dauern?
Soll etwa nach 2300jähriger Dauer dieses verbrecherischen Verfahrens, auch jetzt noch nicht, wo doch die ganze Menschheit auf dem Erdboden zu erwachen scheint, um mächtig nach ihren Rechten zu greifen, auch jetzt noch nicht der Tag der Erlösung für die leidende Menschheit anbrechen, welche bis daher von Krankheiten gequält, noch dazu mit vernunftlos gegen Krankheitstrugbilder gerichteten Arzneien ohne Zahl und Maass gemartert ward nach der verwildertsten Phantasie auf ihre uralte Zunft stolzer Aerzte?
Soll das schädliche Gaukelspiel des Cur-Schlendrians auch jetzt noch fortdauern?
Sollen die Bitten des Kranken, die Erzählung seiner Leiden anzuhören, ohne ein Menschenherz zweckmässig auf sich aufmerksam zu machen, ungehört von Menschenbrüdern, in der Luft verhallen?[10]
Oder sollten die so auffallend verschiednen Klagen und Beschwerden jedes einzelnen Kranken etwas anders, als seine eigenthümliche Krankheit bedeuten? Worauf sonst sollte diese deutliche Sprache der Natur, die in so sehr abweichenden Zufällen des Kranken in angemessenen Ausdrücken laut wird, worauf sonst sollte sie hindeuten, als dem theilnehmend aufmerksamen Arzte den Leidenszustand so kenntlich als möglich zu machen, um ihm so selbst die feinsten Abweichungen dieses Krankheitsfalles von jedem andern vernehmlich unterscheiden zu lassen?
Sollte die allgütige, auf unsre Erhaltung so allmächtig hinstrebende Natur durch ihre höchst weise, einfache und wunderbare Veranstaltung, den Kranken in den Stand zu setzen, seine so mannichfach abgeänderten Gefühle und krankhaften Thätigkeiten dem Beobachter durch Worte und Zeichen an den Tag zu legen, ihn so ganz vergeblich und zwecklos hiezu befähigt haben und nicht zur klaren Bezeichnung seines Leidenszustandes, der einzig möglichen, die sich denken lässt, wenn der Krankheitserkenner nicht irren sollte? Die Krankheit als Eigenschaft kann ja nicht selbst reden, sich nicht selbst erzählen; der daran leidende Kranke allein kann seine Krankheit aussprechen durch die mancherlei Zeichen seines Uebelbefindens, die Beschwerden, die er fühlt, die Zufälle, die er klagen kann, und das Veränderte, was an ihm durch die Sinne wahrzunehmen ist. Und diess Alles will die Afterweisheit der gemeinen Aerzte kaum des Anhörens werth achten; es, selbst angehört, für unbedeutend, für empirisch und von der Natur als sehr ungelehrt ausgedrückt, ihren pathologischen Büchern nicht angemessen und desshalb in ihren Kram nicht taugend ausgeben, dafür aber ein Figment ihres Schul-Aberwitzes[11] als Bild vom innern (nie erforschlichen) Zustande der Krankheit erdichten, diess lügenhafte pathologische Trugbild in ihrem Irrsinne an die Stelle treu und wahr durch die Natur gezeichneten, individuellen Zustandes des jedesmaligen Krankheitsfalles setzen, und gegen diess (durch den sogenannten praktischen Blick) erhaschte Traumbild der Phantasie die arzneilichen Waffen richten?
Und welche Waffen? In grossen Gaben Arzneien, das ist, wohl zu merken, kraftvolle Substanzen, welche, wo sie nicht helfen können, dem Kranken schaden müssen und wirklich schaden (da die eigne und einzige Natur aller Arzneien in der Welt in ihrer Fähigkeit besteht, mit dem lebenden, empfindlichen Körper in Berührung gebracht und eingenommen, ihn krankhaft umzustimmen, jede auf eine besondre Art), welche folglich den Kranken noch kränker machen müssen, wenn sie nicht auf das sorgfältigste, mit ihrer Eigenschaft auf den Krankheitszustand passend, zur gewissen Hülfe gewählt worden sind! Diese an sich schädlichen, oft sehr schädlichen (bloss im geeigneten Falle dienlichen), nach ihrer eigenthümlichen, wahren Wirkung ungekannten Substanzen werden so blindhin ergriffen, oder nach Geheiss des Lügenbuchs, Materia medica genannt, das ist missgekannt und nach ihrer wahren, eigenthümlichen Wirkung ungekannt, wie aus dem Glücks- oder Unglücksrade gezogen, untereinander gemischt (wenn man das Gemisch nicht schon fertig aus dem Recepttaschenbuche abschrieb), um den schon an sich leidenden Kranken mit diesem barbarischen Mischmasche voll ekelhaften Geruchs und Geschmacks (alle Stunden einen Esslöffel voll!) noch ärger zu martern. Zu seinem Heile? O Gott! Nein, zu seinem Nachtheile.[12] Ein so in allen Stunden höchst natur- und wahrheitwidriges Verfahren muss sichtbare Verschlimmerung seines Zustandes allgewöhnlich hervorbringen, Verschlimmerung, die dem unwissenden Kranken für Bösartigkeit der Krankheit ausgelegt wird. Armer, Unglücklicher! was sollen die nach Willkür der herrschenden Arzneischule zusammengerafften, wie aus der Luft gegriffenen, am unpassenden Orte so kräftig schädlichen Substanzen anders thun, als Böses schlimmer machen?
Und in diesem menschenverderblichen Sinne wollte man fortfahren, der zur deutlichen Kunde gekommenen, laut erschollenen Wahrheit zum Trotze fortfahren, weil's bisher, seit undenklichen Zeiten, so eingeführt sey, die leidenden Menschen auf diese unverständige Weise für ihr baares Geld methodice zu quälen? zu ihrem Schaden!
Welches Menschenherz, was auch nur noch den kleinsten Funken von Gotteswarnung im Busen fühlt, möchte vor diesem Greuel nicht erbeben?
Vergebens, vergebens suchst du die laut werdende, fürchterliche Stimme des unbestechlichen Richters im Gewissen, das heilige Gottesgericht in deiner linken Brust durch die erbärmliche Ausflucht, dass es die Uebrigen auch so machen, und es seit undenklichen Zeiten nun einmal so eingeführt sey, zu beschwichtigen, und durch atheistischen Scherz, wilde Lüste und Vernunft benebelnde Becher voll geistiger Getränke zu übertäuben. Der Heilige, der Allmächtige lebt, und mit ihm seine ewig unveränderliche Gerechtigkeit![13]
Da die innern Vorgänge und Verrichtungen im lebenden menschlichen Organism nicht angeschaut, und so lange wir nur Menschen und nicht Gott selbst sind, von uns weder im gesunden, noch im kranken Zustande innig erkannt werden können, und eben desshalb jeder Schluss vom Aeussern auf's Innere trüglich ist, die Krankheits-Erkenntniss auch weder ein metaphysisches Problem seyn kann, noch in der Phantasie erträumt werden darf, sondern reine Erfahrungssache der Sinne ist, indem die Krankheit, als Erscheinung, bloss durch Beobachtung wahrgenommen werden kann; so sieht jeder Unbefangene leicht, dass, da die sorgfältige Beobachtung jeden Krankheitsfall in der Natur3 verschieden findet, kein aus der menschlichen Pathologie, die die Krankheiten als sich gleichbleibend erdichtet, entlehnter Name den in der Wirklichkeit so abweichenden Krankheitszuständen angeheftet werden darf, und dass es überhaupt fast keine hypothetische Vorstellung geben kann, die wir uns von irgend einer Krankheit machen möchten, welche nicht eingebildet, trüglich und unwahr wäre.
Die Krankheiten sind nichts Andres, als Aenderungen des gesunden, regelmässigen Befindens, und da diese Aenderung bloss in Entstehung von mancherlei Zufällen, krankhaften Beschwerden und durch die Sinne wahrnehmbaren Abweichungen vom vorigen gesunden Zustande besteht, indem nach Hinwegräumung aller dieser Zufälle und Beschwerden nichts als Gesundheit übrig bleiben kann, so kann es auch für den Arzt keine andre, wahre Ansicht der Krankheiten, um das Cur-Object und was an ihnen[14] zu heilen sey, ausfindig zu machen, geben, als die sinnliche Wahrnehmung der am Kranken zu bemerkenden Befindens-Veränderungen.
Der redliche Arzt also, dessen Gewissen sich scheut, leichtsinnigen Blicks sich von dem zu heilenden Uebel ein Trugbild zu erdichten, oder es bequem für eine in der Pathologie schon bereit stehende Form auszugeben, dem es mit einem Worte wirklich Ernst ist, die gegenwärtige Krankheit in ihrer wahren Eigenthümlichkeit zu erspähen, um seinen Kranken mit Gewissheit herstellen zu können, wird ihn genau mit allen Sinnen beobachten, sich alle seine Leiden und Zufälle vom Kranken selbst und den Angehörigen vollständig erzählen lassen und es schriftlich verzeichnen, ohne etwas weder dazu, noch davon zu thun; dann hat er ein treues, ächtes Bild von der Krankheit, und mit demselben eine genaue Kenntniss alles dessen, was an ihr zu Heilendes und Hinwegzunehmendes ist; er hat eine wahre Kenntniss von seiner Krankheit.
Da nun Krankheiten nichts, als Aenderungen des gesunden, regelmässigen Befindens seyn können, und jede Umänderung eines gesunden Menschenbefindens Krankheit ist; so kann auch Heilung nichts Anderes, als Umänderung des regelwidrigen Befindens zum regelmässigen und gesunden seyn.
Wenn also, wie Niemand leugnen kann, Arzneien die Mittel zur Heilung der Krankheiten sind, so werden sie auch die Kraft haben müssen, das Befinden des Menschen umzuändern.
Indem es nun keine Umänderung des gesunden Befindens geben kann, als die, dass der Gesunde krank werde, so müssen auch die Arzneien, weil sie die Kraft zu heilen, folglich das Befinden des Menschen, also auch des gesunden Menschen, umzuändern[15] besitzen, bei ihrer Einwirkung auf den Gesunden, mancherlei Zufälle, krankhafte Beschwerden und Abweichungen vom gesunden Zustande hervorbringen.
Vorausgesetzt nun, was gleichfalls Niemand leugnen kann, dass beim Heilen das Hauptgeschäft des Arztes im Vorauskennen derjenigen Arznei besteht, welche mit möglichster Gewissheit die Heilung erwarten lässt, so muss er, da Heilung durch Arzneien bloss durch Befindensveränderung erfolgt, hauptsächlich vorauswissen, was die einzelnen Arzneien im Befinden des Menschen ändern können, ehe er eine derselben zum Eingeben wählt, wenn er sich nicht einer verbrecherischen Unbesonnenheit und eines unverzeihlichen Angriffs auf Menschenleben schuldig machen will; - denn wenn jede kräftige Arznei schon Gesunde krank macht, so muss ungekannt gewählte, folglich unpassende Arznei den Kranken nothwendig kränker machen, als er war.
Das eifrigste Streben eines der Hülfe in Krankheiten sich Widmenden (eines Arztes) muss daher vor allen Dingen auf die Vorkenntniss derjenigen Eigenschaften und Wirkungen der Arzneien gerichtet seyn, mittels deren er die Heilung oder Besserung der einzelnen Krankheitsfälle mit möglichster Gewissheit vollführen könne, das ist, er muss, ehe er das Arztgeschäft beginnt, sich vorher genau unterrichtet haben, welche besondre Befindensveränderungen im Menschen die einzelnen Arzneien bewirken, um in jedem Krankheitsfalle die zur Heilung angemessenste Befindens-Veränderung erzeugende Arznei wählen zu können.
Nun ist es unmöglich, dass auf irgend eine Weise in der Welt die Menschenbefindens-Veränderungen, welche Arzneien zeigen könnten, reiner,[16] gewisser und vollständiger erkannt und wahrgenommen werden könnten, als bei Einwirkung der Arzneien auf gesunde Menschen; ja es lässt sich nicht einmal ein Weg denken, auf welchem es, ausser diesem, möglich wäre, auch nur etwas weniges Deutliches von den wahren Veränderungen in Erfahrung zu bringen, die sie im Befinden des Menschen erzeugen möchten. Denn was sie auf chemische Gegenwirkungsmittel äussern, legt bloss chemische Eigenschaften, ohne Bedeutung für den lebenden Organism der Menschen, an den Tag. Was sie Thieren eingegeben, in diesen für Veränderungen erregen, lehrt bloss, was sie in diesen, jedes besondrer Natur gemäss, zu verändern vermögen, nicht aber, was sie auf den ganz verschieden organisirten, und mit einem sehr abweichenden Geistes- und Empfindungsvermögen ausgestatteten Menschen wirken würden. Selbst in Menschenkrankheiten eingegeben, um hier etwa ihre Wirkungen zu erfahren, können die Symptome, welche die Arzneien da eigenthümlich und allein hervorbrächten, nie deutlich in dem Gewühle der schon vorhandnen Krankheitssymptome erkannt, nie rein ausgeschieden werden, so dass man erführe, welche von den entstandnen Veränderungen der Arznei, oder welche der Krankheit zuzuschreiben wären. Daher kein Wort von der Erkenntniss der wahren, reinen Wirkungen der einzelnen Arzneien aus der gewöhnlichen Materia medica, die ihre Fabeln von den Tugenden der Droguen aus dem verwirrten Gebrauche gemischter Arzneien in Krankheiten zusammenraffte, von denen man oft nicht viel mehr Beschreibung, als den ihnen angedichteten pathologischen Namen liest.
Bloss der einfache Naturweg bleibt uns übrig, um deutlich, rein und mit Gewissheit die Kräfte der[17] Arzneien auf den Menschen, das ist, die Veränderungen zu erfahren, die sie in seinem Befinden hervorbringen, - der einzig ächte und einfache Naturweg: dass wir die Arzneien gesunden Menschen eingeben, welche aufmerksam genug sind, an sich wahrzunehmen, was jede einzelne Arznei besonderes Krankhaftes und Verändertes an und in ihnen hervorbringe, und dass wir diese davon entstandnen Beschwerden, Symptome und Abänderungen ihres Körper- und Geisteszustandes sorgfältig aufzeichnen, als die von dieser Arznei eigentümlich fortan zu erwartenden Menschenbefindens-Veränderungen, indem während der Wirkungsdauer einer Arznei (wenn grosse Gemüthsstörungen und andre schädliche Einwirkungen von aussen unterbleiben) keine Beschwerde in einem Gesunden entstehen kann, die nicht von der Arznei herrühre, da bloss sie zu dieser Zeit sein Befinden beherrscht.
Von möglichst vielen, einzelnen Arzneien muss der Arzt die möglich vollständigste Kenntniss der durch sie an gesunden Körpern rein hervorgebrachten Befindens-Veränderungen vor sich haben, ehe er es wagt, das Wichtigste aller Geschäfte zu unternehmen, einem Kranken, einem unsre heiligste Helferpflicht in Anspruch nehmenden, unser ganzes Mitleid und allen unsern Eifer zu seiner Rettung auffordernden, leidenden Menschenbruder für seine Krankheit Arzneien einzugeben, diese, am unpassenden Orte verordnet, so schädlichen, nicht selten Leben in Gefahr setzenden, fürchterlichen Substanzen.
Einzig so verfährt der redliche Arzt in der bedenklichsten Gewissenssache, die es nur geben kann, in Erwerbung der Kenntniss der reinen Wirkungen der Arzneien und in Ausspähung des ihm zum Heilen[18] übertragenen Krankheitsfalles nach dem deutlichen Fingerzeige und den lauten Forderungen der Natur, und verfährt auf diesem Wege einzig naturgemäss und gewissenhaft; gesetzt, er wüsste auch noch nicht, welche durch Arzneien im Gesunden künstlich erregten krankhaften Symptome die Natur zur Tilgung gegebner Symptome in natürlichen Krankheiten bestimmt habe.
Diese Aufgabe kann ihm wiederum weder speculative, apriorische Ergrübelung, noch Träumerei der Phantasie - nein! auch diese kann ihm bloss Versuch, Beobachtung und Erfahrung lösen.
Da zeigt nun nicht etwa eine einzelne Erfahrung, nein, alle sorgfältig angestellten Versuche, Beobachtungen lehren es bis zur Ueberzeugung (jeden Vernünftigen, der sich überzeugen will), dass bloss diejenige unter den so auf ihre reinen Wirkungen ausgeprüften Arzneien einen gegebnen Krankheitsfall schnell, leicht und dauerhaft in Gesundheit verwandelt, welche in gesunden Menschen ähnliche Krankheitszustände selbst und eigenthümlich erzeugen kann, ja, dass eine solche ihn nie ungeheilt lässt. An die Stelle der natürlichen Krankheit tritt im Organism die künstliche, etwas stärkere Arzneikrankheit, welche, nun allein das Leben beschäftigend, wegen der Kleinheit der Gabe schnell wieder in ihrer Wirkungsdauer verlöscht, und den Körper ohne Krankheit, das ist, gesund und (homöopathisch) geheilt zurücklässt.
Zeigt uns dann die wohlthätige Natur in der homöopathischen Heilkunst den einzig sichern und untrüglichen Weg, auf welchem wir die Gesammtheit der Zufälle eines Kranken, das ist, seinen ganzen Leidenszustand von Grund aus leicht und dauerhaft[19] hinwegzunehmen4, und ihn so nach Wunsche gesund zu machen vermögen, zeigen uns alle auf diese Art sorgfältig geführte Curen die unfehlbarsten Heilungen; wer könnte wohl noch so verkehrt seyn, und so sehr sein eignes und der Menschheit Bestes vernachlässigen und diesen Weg der Wahrheit und Natur nicht gehen wollen, sondern die nicht zu vertheidigenden, alten, erdichteten Krankheitsphantasmen und Curmethoden beibehalten zum Verderben der Kranken?
Ich weiss wohl, dass zu Geistesgebrechen gediehene Vorurtheile, die uns schon des grauen Alterthums wegen heilig geworden sind, Heldenmuth erfordern, um sie an uns selbst zu heilen, und dass eine nicht gemeine Stärke des Geistes dazu gehört, um alle Thorheiten, die unsrer jugendlichen Empfänglichkeit als Orakelsprüche eingepredigt worden waren, aus unserm Gedächtnisse zu vertilgen und gegen neue Wahrheit zu vertauschen.
Doch der Eichenkranz, den uns ein schönes Bewusstseyn darreicht, belohnt solche Selbst-Ueberwindungen tausendfach!
Sieh! werden denn alte, uralte Unwahrheiten zu etwas Besserm - etwa zur Wahrheit - durch ihr bemoosstes Alterthum? Hat denn die Wahrheit, selbst wenn sie erst vor einer Stunde gefunden worden wäre, nicht ihre Ewigkeit in sich? Wird sie etwa durch die Neuheit ihrer Entdeckung zur Unwahrheit? Oder wo giebt es eine Entdeckung oder eine Wahrheit, die nicht anfänglich auch neu gewesen wäre?
1 Nur Schade, dass dieser süsse Traum verschwindet, wenn man die vielerlei Pathologieen mit ihren abgeänderten Namen und abweichenden Krankheitsbeschreibungen, wenn man die 150 Fieberdefinitionen und die so sehr verschiedenen Curarten in den mancherlei Therapieen ansieht, die alle gleichen Anspruch auf Untrüglichkeit machen. Wer hat nun unter diesen allen Recht? Markt man da nicht die Naturwidrigkeit, Unächtheit und Apokryphie aller?
2 Welcher, nicht in Verklärung (clairvoyance) manipulirte, ehrliche Mann könnte sich wohl rühmen, ein geistiges Auge zu besitzen, das durch Fleisch und Bein hindurchdränge in das, nur dem Menschenschöpfer selbst verständliche, innere Wesen der Dinge, wofür der Sterbliche keinen Begriff, keine Sprache haben würde, wenn sie ihm auch dargelegt werden könnten? Erreicht ein solches Vorgeben nicht den Gipfel prahlerischer Charlatanerie und lügenhaften Blendwerks?
3 Die Krankheiten, die von festständigem Miasm oder stets gleicher Ursache erzeugt werden, ausgenommen.
4 Nach Hinwegnahme aller seiner Beschwerden, Zufälle und krankhaften Befindensveränderungen kann da wohl etwas Andres übrig bleiben, als ein gesunder Mensch?
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