Der Radiot

[154] Schon in die Wiege hat die Menschheit eine seltsame Gabe mitbekommen, sich aus Dingen, die an sich jenseits von Gut und Böse sind, Quälgeister großzuziehen.

Wer will leugnen, daß es heute schon »Radioten« gibt? Leute, die absolut kein Schweigen mehr um sich herum vertragen? Die jede Lebensäußerung nur in Begleitung der pfeifenden, knarrenden und summenden Lautsprecher vollbringen können. Nicht, daß sie Interesse dafür hätten, was sich in Wien, Berlin, Rom oder anderswo begibt, sie hören ja nur halb, führen kein Stück zu Ende, sondern drehen an dem Knopf weiter, neugierig, welche Stationen sich aus dem Kasten noch melden. Was unmittelbar um sie herum vorgeht, ist ihnen gleichgültig, das geht sie nichts mehr an. Kommt ein Besuch, so mag er sehen, wie er sich neben dem Lautsprecher behauptet. Man antwortet ihm kaum, springt mitten im Satze auf, dreht an den Knöpfen des Apparates – »Pardon, bitte einen Moment«, und sucht in dem babylonischen Sprachengewirr nach dem Paradestück, das sich dann in achtunggebietender Länge über die wehrlosen Gäste ergießt. Es ist ganz gleichgültig, ob diese die tausendmal abgespielte Arie schon kennen oder nicht, und was bleibt ihnen schließlich übrig, als sich geschlagen zurückzuziehen und sich so bald nicht mehr sehen zu lassen?

Aber der Radioteufel verfolgt sie weiter, die ganze Straße, ja die ganze Stadt hindurch, denn aus jedem Fenster tönt die Fortsetzung. Sie beherrscht unsern Weg, tobt in der Nacht, in unserer Nachbarschaft im Unterstock, im Oberstock, und wenn es arg wird, hört jeder eine andere Station.[154]

Liebe Radioten! Bei aller Achtung für das Zeitgemäße und Originelle Ihrer Krankheit, bitte ich Sie doch im Namen des Anstandes: Schließen Sie Fenster und Türen, wenn Sie sich produzieren, und lassen Sie des Abends und Nachts in Ihren Wohnungen nicht nur das Fortissimo zu Wort kommen, sondern auch das Piano! Und beizeiten, womöglich vor Mitternacht, schalten Sie, bitte, das Teufelszeug ganz ab! Tun Sie dasselbe, wenn Sie Besuch haben, Ihre Freunde freuen sich ja daheim auch am Radio und machen Ihnen ja Ihrethalben und nicht um Ihr Instrument zu bewundern, Besuch. Ihr Freund könnte Sie für gleichgültig ihm gegenüber halten, wenn Sie mehr Interesse für Wellenlängen zeigen als für ihn. Ist wirklich einmal etwas los im Radio, das man gemeinsam hören will, so lädt man eben nur dazu ein und hört fein still zu, ohne dazwischen zu reden. Gilt der Besuch dagegen uns, so schalten wir ganz selbstverständlich ab. Vergessen wir nicht, daß kleine Ursachen große Wirkungen haben können. Unser gemütliches Heim, auf das wir mit Grund stolz sind, wollen wir uns doch nicht amerikanisieren lassen, das heißt, den lebendigen Geist, der es beseelt, durch den Spukteufel der Maschine verdrängen lassen.[155]

Quelle:
Haluschka, Helene: Noch guter Ton? Graz 1938, S. 154-156.
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