[81] Die Märzerhebung in Wien ist wohl jedem unvergeßlich, der sie als Jüngling miterlebt hat und seine idealsten Träume hier verwirklicht wähnte. Ich habe die ganze Bewegung zwar nicht als aktiver Teilnehmer, doch als sehr erregter Mitempfinder und Beobachter durchgemacht und die Stadt, trotz dringendsten Zuredens meiner nach Ischl geflüchteten Verwandten, keinen Augenblick verlassen. Himmelhoch jauchzend – im März, zu Tode betrübt – im Oktober; immer jedoch mitten in den Ereignissen. Trotzdem werde ich über das denkwürdige Jahr mit wenigen Zeilen hinweggehen. Die Fehler anderer sollen meinen Lesern zum Vorteil gedeihen. Es hat mich nämlich sehr gelangweilt, in mancher neueren Selbstbiographie, z.B. der von Bodenstedt, die politischen Ereignisse des Jahres 48, die ganze Entwicklung der Märzbewegung u.s.w. ausführlich geschildert zu finden, als wären das lauter neue Dinge und nicht in jedem modernen Geschichtswerke nachzulesen. Ein Autobiograph, glaube ich, sollte aus jenem, allen Zeitgenossen so geläufigen Jahr lediglich erzählen, was er persönlich, und nur er, an charakteristischen Einzelheiten erlebt hat. Ich habe, damals dreiundzwanzigjährig, keine Rolle in der Bewegung gespielt, besaß niemals politischen Ehrgeiz und noch weniger eine militärische Ader. In die Juristenkompagnie der Akademischen Legion eingereiht, ließ ich mich bald von den täglichen Exerzierübungen im Stadtgraben dispensieren; ich vermochte das Gewehr (– einen ehrwürdigen Prügel mit Feuersteinschloß –) nicht stundenlang zu tragen, und die Vergeudung der Zeit ertrug ich noch schwerer.
Anfangs März machte ich mein erstes juridisches Rigorosum; nur dieses eine im ganzen Jahr, während ich im nächsten Jahre die übrigen drei Rigorosen, die öffentliche Disputation und die Promotion absolvierte. Das Jahr 48 war eben jedem anhaltenden Studium, jeder ernsten Sammlung feind; auf der Aula wurden ganz andere Dinge abgemacht als juridische Rigorosen, und wären selbst Studenten bereit gewesen, sich prüfen zu lassen, wo hätte man dazu die Professoren suchen müssen? Eine Art politischer Tätigkeit, wenn auch nur eine bescheiden literarische, war mir übrigens doch beschieden: als Korrespondent der »Prager Zeitung«. Sie ist nur aus dem Grunde erwähnenswert, weil eine der hervorragendsten politischen Notabilitäten Österreichs damit[82] in Verbindung stand, der nachmalige Unterrichtsminister und Ministerpräsident Dr. Leopold von Hasner. Hasner, der kurz zuvor Chefredakteur der (offiziellen) »Prager Zeitung« geworden, hatte im Sommer 1848 seinen ständigen Wiener Korrespondenten eingebüßt, einen jüngeren Beamten der Hofkammerprokuratur, welcher in die Provinz versetzt wurde. Durch diesen ließ Hasner mir den verwaisten Posten als Korrespondent der »Prager Zeitung« antragen. Das war keine glückliche Wahl, denn ich bin niemals Politiker von Fach gewesen und kam als junger, mit den Rigorosen vollauf beschäftigter Jurist kaum in die Lage, wichtige politische Neuigkeiten zu erfahren. Ein lebhaftes Interesse an den politischen Ereignissen, die ich, wie damals alle jungen Leute, mehr mit dem Herzen als mit dem Verstand beurteilte, schien mir doch nicht ausreichend für eine solche Aufgabe. Meine rückhaltlos geäußerten Bedenken wurden mir mit schmeichelhaftem Drängen ausgeredet, und schließlich tat der Wunsch, Hasner aus einer Verlegenheit zu befreien, das Übrige. Ich wagte also den Versuch und nahm die Sache sehr gewissenhaft. Im juridisch-politischen Leseverein standen mir zum Glück alle Zeitungen nebst einer ansehnlichen Bibliothek zu Gebote und, was noch wichtiger, der Verkehr mit einigen ausgezeichneten, mir wohlgesinnten Männern, wie Hye und Tomaschek (damals meine Professoren), Heißler, Stubenrauch, J.N. Berger und andere, von deren täglichen politischen Debatten ich profitieren durfte. Im Anfang ging alles gut. Hasner war mit meinen Briefen, die sich mehr schildernd als raisonnierend verhielten, zufrieden und lobte namentlich einige humoristisch gefärbte Mitteilungen über das jugendliche Treiben der Akademischen Legion, über Figuren wie Pater Füster u. dgl. »Machen Sie sich doch wieder über etwas lustig!«, ermunterte er mich, als meine Briefe seltener wurden. Aber, ach, die Zeiten waren so gar nicht mehr lustig! Der Enthusiasmus der Märztage wandelte sich bald in zunehmende Enttäuschung und Ernüchterung. O, des unvergeßlich herrlichen Morgens vom 13. März im Hofe des landständischen Hauses, wo die mutigen jungen Redner, einer nach dem andern, auf den Brunnen stiegen und zu den Fenstern des Beratungssaales hinauf nach Konstitution und Pressefreiheit riefen! »Es geht, es geht!« rief, mich umarmend, damals mein Herzensfreund Robert Zimmermann. Wenige Monate später mußten wir, das »Landhaus« passierend, uns mit Bitterkeit sagen: »Ja, es ist gegangen, ist alles[83] wieder gegangen!« Der Ton trüber Resignation klang nunmehr durch meine Berichte, die immer kürzer und seltener wurden. Das zuchtlose Demagogentum im September und Oktober war mir ein Greuel, das in politischem Wahnsinn phantasierende Wien entsetzte mich. Darin war ich gewiß mit Hasner eines Sinnes. Aber fast ebensosehr wie von den Greueln des Oktoberaufstandes fühlte ich mich empört von der blutigen Reaktion, die nach der Einnahme Wiens über uns herfiel. Dieses Aufspüren und Verfolgen jedes freien Wortes, dieses Einkerkern junger Studenten, bei denen man ein schwarz-rot-goldenes Band oder ein radikales Blättchen fand, dann die täglichen Hinrichtungen in der Brigittenau und vor dem Neuthor ... Ein schwarzer Schleier drückte auf Wien, eine böse, giftige Luft, in der jeder freisinnige Geist zu ersticken glaubte. Trostlos über das Scheitern aller unserer Hoffnungen, aller unserer Errungenschaften, gewahrte ich nicht den kleinsten Stern in dieser schauerlichen Nacht, wogegen Hasner, »vor der Zukunft nicht bange«, als echter Philosoph »sich behaglich in den Zielen der Menschheit wiegte, während andere in ihrer Strömung«. Zu dieser objektiven Ruhe hatten wir jungen Leute vom März 1848 es allerdings noch nicht gebracht. Selbst, wo ich rein Tatsächliches berichtete, gab es in meinen Briefen »Seitenblicke, Doppelblicke«, welche Hasner mißfielen. Wenn ich in meinen Berichten mich auch zu äußerster Mäßigung zwang, für Hasners Zeitung, für Hasners Anschauungen waren sie nicht mehr möglich. Und nun geschah das überraschend Rührende. Anstatt den unbotmäßigen jungen Korrespondenten einfach abzudanken, wie es jeder andere Redakteur getan haben würde, setzte sich Hasner hin und suchte in ausführlichen Briefen meine Irrtümer zu widerlegen, mich zu belehren, zu bekehren. Mit diesem menschlich schönen Zusprechen und Abmahnen verband er stets die präziseste Darlegung seines eigenen Standpunktes und eine Beurteilung der Ereignisse, wie sie mit solcher Unbefangenheit nur ein freundschaftlich brieflicher Verkehr gestattet.
Da ich erkannte, daß ich Hasners Ansichten und Wünschen mich nicht anbequemen könne, bat ich ihn um meinen definitiven Abschied und habe niemals wieder über politische Dinge geschrieben. Als ich dreißig Jahre später mit dem Minister und Exminister gesellschaftlich zusammentraf – bei seinem Kollegen Glaser und Professor Seegen – da erinnerte er mich selbst, nicht[84] ohne Humor, an meinen kurzen Feldzug unter seiner Fahne. Ich konnte ihm nunmehr mit gereifter Einsicht nochmals danken für seine mir bewiesene Langmut und Seelsorge. Geleistet habe ich ihm sehr wenig, aber viel von ihm gelernt. Freilich, gewisse politische Sympathien und Antipathien, die tief im Gefühle wurzeln, vermochte ich niemals abzuschütteln, aber das Beispiel Hasners, die Wirren der Tagesgeschichte leidenschaftslos aus historischer Perspektive zu betrachten und »sich in den Zielen der Menschheit, nicht in ihren Strömungen zu wiegen«, verblieb mir als Leitstern fürs Leben.