[92] Wenn wir in unserem stillen Weinstübchen uns des Abends von Musik unterhielten, so betraf das natürlich nur unsere musikalischen Studien und Erinnerungen. Von lebendiger Musik künstlerischen Gehalts war ja in dem ganzen Revolutionsjahr nichts zu vernehmen. Die Konzertsäle waren geschlossen, die Oper, die sich mit dem allernötigsten Personal und abgespielten Werken behalf, verödet. Dafür hörte man allenthalben das »Fuchslied«, das zu einer Art harmloser Marseillaise der Studenten geworden war, und das lyrische Frag- und Antwortspiel »Was ist des Deutschen Vaterland«. Ein sehr reaktionärer hoher Militärbeamter, in dessen Familie ich viel verkehrte, ärgerte sich täglich einigemal darüber, daß eine Treppe über ihm das Fuchslied gespielt wurde; sofort setzte er sich ans Klavier und spielte mit voller Macht die österreichische Volkshymne. Man replizierte oben noch stärker mit »Was kommt dort von der Höh'?«, worauf unten in wütendem Fortissimo »Gott erhalte unsern Kaiser« gehämmert wurde. Dieses musikalische Duell zwischen zwei unsichtbaren Gegnern wiederholte sich mehrmals des Tages. Eine recht schöne Unterhaltung.
Das alte harmlose »Fuchslied« hatten die Wiener aus Benedix' Studenten-Lustspiel »Das bemooste Haupt« kennengelernt, das allabendlich im Theater an der Wien gegeben wurde. In diesem Stück kommt auch eine solenne »Katzenmusik« vor, die, von dem lernbegierigen Wien schnell aufgefaßt und begeistert akklamiert, bald unzählige Katzenmusiken ins Leben rief. Unvergeßlich blieb mir eine davon, die mit Thalbergs Abschiedskonzert in komische Verbindung geriet. Der berühmte Pianist, nach seiner letzten Nummer stürmisch hervorgerufen, setzte sich nochmals ans Klavier und begann mit der Volkshymne, welcher ohne Zweifel brillante Variationen folgen sollten, aber schon während[92] der ersten Takte hörte man verdächtiges Pfeifen und Miauen von der Straße her, – Thalberg merkte Unheil und schloß resigniert mit dem Thema ohne Variationen. Und in der Tat geriet man aus dem Konzertsaal unmittelbar in ein anderes, sehr kräftiges Konzert, welches in der Eigenschaft eines Ständchens der k.k. Polizeidirektion gebracht wurde. Das Publikum war hier noch viel, viel zahlreicher als in Thalbergs Konzert, schien aber nicht ebenso beifallslustig und anerkennend – es pfiff aus Leibeskräften.
Wenige Tage, bevor in Wien das »Fuchslied« für immer verstummen sollte, an einem sonnigen Oktobernachmittag, stieß ich nächst der Universität auf den Dr. Alfred Becher. Er hatte sich aus dem weltfremden Komponisten und Musikkritiker in den radikalsten Journalisten der Revolutionspartei umgewandelt. Das Gewehr geschultert, mit rasselndem Schleppsäbel und zerknülltem Kalabreser begrüßte er mich kurz: »Wohin? Kommen Sie mit mir auf die Rotenturmbastei, wir brauchen noch junge Leute!« – »Fällt mir nicht ein. Aber Sie, lieber Becher, sollten lieber mit mir kommen; ich wäre glücklich, sähe ich Sie wieder zur Kunst, zur Musik, zurückkehren aus diesem aussichtslosen, verderblichen Treiben!« – »Wird auch geschehen, wird gewiß bald geschehen!« rief er mir begütigend zu und eilte weiter. Ich habe ihn nie wiedergesehen. Er wurde kriegsrechtlich wegen Hochverrats verurteilt und am 23. November 1848 erschossen. Obgleich ich nicht in intimerem freundschaftlichen Verkehr mit ihm gestanden habe, ging mir sein schreckliches Ende doch sehr nahe. Becher war ein unsteter, leidenschaftlicher, aber sehr begabter und im Grunde redlicher Mensch gewesen; überdies der beste Musikkritiker des vormärzlichen Wien, ja, der einzige, der überhaupt ernst zu nehmen war. Von deutschen Eltern in Manchester geboren, hatte er in Leipzig Musik studiert und eine große Verehrung für Mendelssohn von dort mitgenommen. In Wien – ich weiß nicht, welcher Anlaß ihn hergeführt – gab er einige Musikstunden, komponierte und schrieb zeitweilig für die »Sonntagsblätter« und Schmidts »Musikzeitung«. Er hielt viel größere Stücke auf seine Kompositionen als auf seine Kritiken; mir schien das Umgekehrte richtig. Er war ein grübelnder Komponist, welcher geistreiche, oft abstruse Kombination für musikalische Erfindung hielt. Ein Heft Klavierstücke, meines Wissens die einzige gedruckte Komposition von ihm, gewährte, teilweise an Mendelssohn anlehnend, noch einiges Vergnügen; eine Symphonie[93] und ein Streichquartett hingegen, beide auf dem späteren Beethoven »fortbauend«, machten den Eindruck des trostlos Erzwungenen. Grillparzer hat Bechers Quartett mit folgendem Epigramm von wahrhaft vernichtender Anschaulichkeit charakterisiert:
»Dein Quartett klang, als wenn Einer
Mit der Axt gewicht'gen Schlägen,
Und drei Weiber, welche sägen,
Ein Klafter Holz verkleiner'!«
Wie eine traurige Ironie des Schicksals erscheint es, daß Becher im letzten Spirituelkonzert (Ende April) einen von ihm komponierten Trauermarsch mit Chor: »Über den Gräbern der am 13. März Gefallenen« zur Aufführung brachte, in dessen Schlußstrophe er die österreichische Volkshymne verwebte! Wenige Monate nach dieser patriotischen Gelegenheitsmusik ward der Komponist als Hochverräter hingerichtet. Becher frappierte durch seine auffallende Erscheinung; eine lange, hagere Gestalt mit einem Shakespearekopf, von dessen hoher, bereits etwas kahler Stirne lange, graublonde Haare bis auf die Schultern fielen. Er war sehr nachlässig gekleidet, nervös-unruhig in seinen Bewegungen und sah infolge seines unregelmäßigen Lebens früh gealtert aus. Becher mochte viel Ähnlichkeit mit dem genialen, unordentlichen und gleichfalls dem Weine ergebenen F.A. Kanne haben, dem besten Wiener Musikkritiker zu Beethovens Zeit. Die Namen Kanne und Becher waren für beide sehr bezeichnend. Wie es geschehen konnte, daß dieser der Politik ganz fernstehende fünfundvierzigjährige Mann sich so weit in das wüste Treiben der extremsten Wiener Revolutionspartei verstricken ließ, ist mir nie ganz klar geworden. Er hat seine nachgiebige Schwäche und Verblendung schwer gebüßt. Dem politischen Fortschritt ist er von gar keinem Nutzen gewesen, für die musikalische Bildung Wiens hätte er gewiß noch lange förderlich gewirkt.