5

[397] Der September ging zu Ende; es galt einzurücken in mein akademisch-musikalisches Winterquartier. Vorher vergönnte ich mir noch einen zweitägigen Besuch bei Freund Billroth in St. Gilgen. Wir benützten den sonnigen Herbstnachmittag zu einem Spaziergang gegen Mondsee. Billroth, der die ersten Hefte meiner Erinnerungen gelesen hatte, kam gleich darauf zu sprechen. Er bestand darauf, ich müsse in der Fortsetzung auch von meinen persönlichen Erfahrungen als Kritiker erzählen. Ich äußerte starke Zweifel, ob sich über die Stellung des Kritikers im allgemeinen viel Neues, von meinen eigenen Erlebnissen etwas Interessantes sagen lasse. »Das möchte ich doch sehen!« rief Billroth mit seinem kurzen, freundlichen Lachen. »Probieren wir's. Du kannst Dich auch einmal ›interviewen‹ lassen, wie das barbarische Wort lautet«. Wir begannen über Musik und Musikkritik zu plaudern. Billroth gab unserm Gespräche, das ich der Hauptsache nach hier reproduzieren will, bald eine persönliche Wendung: »Graut Dir nicht bereits vor der Rückkehr nach Wien und dem Ansturm von Opern und Konzerten?«[397]

»Nein. Ich muß bekennen, daß ich jedesmal, aus erquickender Sommerfrische heimkehrend, mich auf den vierten Oktober freue, wo am Namenstag des Kaisers eine neue Oper gegeben wird. Ganz wie es im Fidelio heißt: ›Des Königs Namensfest ist heute, das feiern wir auf solche Art.‹ Dann wird das Winterprogramm der Philharmonischen und der Gesellschaftskonzerte sowie der Quartettproduktionen veröffentlicht; Speisekarten, die ich mit dem vorschmeckenden Genuß des Gourmands durchkoste. Es ist fast ein halbes Jahrhundert her, daß ich Musikkritiken schreibe. Wenn auch nicht die frühere Leichtigkeit des Produzierens – die frische Empfänglichkeit ist mir gottlob geblieben. Von Jugend auf habe ich, nächst meiner Professur, stets die Tätigkeit des Musikkritikers in einem vornehmen, großen Blatt für die begehrenswerteste gehalten. Vor dem auf eigenes Erfinden angewiesenen Dichter genießt der Kritiker den Vorteil, daß ihm fortwährend neuer Stoff zuströmt. Kein Jahr vergeht, ohne daß die manchmal intermittierende, aber niemals versiegende Quelle der künstlerischen Produktion uns einige Goldkörner zuführt. Neben wertlosen, absolut Schweigen auferlegenden Werken taucht sicher auch Eigenartiges, Vortreffliches auf. Aber nicht bloß das Vortreffliche, auch das anspruchsvoll Häßliche, selbstbewußt Verschrobene reizt und beschäftigt den Kritiker. Das sind die ›interessanten Fälle‹, wie Ihr sie auch in Eueren Kliniken willkommen heißt. Nur können wir sie leider nicht heilen.«

»Wir auch nicht immer. Aber die uninteressanten Fälle mögen in der Konzertsaison noch viel häufiger sein.«

»Gewiß. Der Vorteil des Kritikers, daß ihm der Stoff nie ausgehen kann, hat seine dunkle Kehrseite: die mit jedem Jahr üppiger wuchernden Mittelmäßigkeiten, welche eine Kritik nicht verdienen und sie doch standhaft beanspruchen. Die Konzertmückenschwärme – unsere schlimmste Qual. ›Theater sind ein notwendiges Übel‹, pflegte Dingelstedt zu sagen, ›Konzerte ein unnötiges.‹ In Wien bringt durch volle sechs Monate jeder Tag ein Konzert, häufig deren zwei auch drei. Kann man die alle besprechen? Nicht möglich ...«

»Aber auch nicht notwendig«, ergänzte Billroth. »Ein großes politisches Blatt sollte in seinem Feuilleton doch nur Hervorragendes beurteilen, hingegen alles ignorieren dürfen, was weder Bedeutung für die Kunst noch Interesse für einen weiten Leserkreis hat. Erwirbt denn wirklich jedermann durch das bloße Anschlagen[398] eines Konzertzettels den Rechtsanspruch, von allen Musikkritikern der Stadt angehört und in allen Zeitungen besprochen zu werden? Ich glaube nicht.«

»Ich auch nicht. Die Konzertgeber jedoch sind davon überzeugt. Meinen Lesern gegenüber empfände ich nicht den leisesten Gewissensbiß, wenn ich die Mehrzahl dieser Produktionen unbeachtet ließe. Aber die Konzertgeber! Vor allen die Schar der Pianistinnen, der kleinen Sängerinnen, Geigenfeen und Geigenhexen! Sie alle wollen gehört und beurteilt sein. Je bescheidener manche selbst von ihrer Kunst denken mögen, desto beweglicher appellieren sie an unser rein menschliches Gefühl. Man wird beim Mitleid gepackt. Rein aus Mitleid opfert man unersetzliche Abende, erduldet zum tausendstenmal dieselben Rhapsodien von Liszt, Nocturnes von Chopin, Phantasien von Wieniawsky, lediglich, weil die ›Virtuosin‹ mit ihrer Kunst eine Schwester oder Mutter erhält. Sie will Lektionen geben oder in der Provinz konzertieren, beides gelingt ihr nur aufgrund einer günstigen Konzertkritik aus Wien. Und so ist es immer der geplagte Kritiker, welcher da hilfreich beispringen und über Leistungen schreiben muß, die ihm und seinen Lesern völlig gleichgültig sind. Weißt Du ein Mittel, wie der Konzertflut und, im Zusammenhang damit, dem furchtbar anwachsenden Proletariat der Klavierlehrer und Klaviervirtuosen, insbesondere weiblichen Geschlechts zu steuern wäre? Helfen könnte da nur eine grundsätzliche strengere Abstinenz der Kritik, deren aus Mitleid und Gefälligkeit geborenes Lob übrigens ebenso bald entwertet sein dürfte wie jene Dutzendkonzerte selbst. Vor dreißig Jahren schrieb F. Hiller einen Aufsatz: ›Zuviel Musik!‹ Was würde er heute sagen? Die Konzertepidemie ist ein dreifaches Unheil: für die abgestumpften Zuhörer, die brotlosen Virtuosen und die müde gehetzten Kritiker.«

Nach einer Pause fuhr Billroth in seiner Interpellation fort: »Und Deinen Einfluß auf die Künstler, achtest Du den für nichts?«

»Dieser Einfluß ist mehr als zweifelhaft. Ich habe stets an dem Grundsatz festgehalten, nur zu dem Publikum zu sprechen, nicht zum Künstler. Der Kritiker, welcher sich einen erziehenden Einfluß auf die Künstler einbildet, lebt in einer angenehmen Täuschung. In der Regel achtet der Sänger oder Virtuose doch nur das Lob für richtig, niemals den Tadel. Aus meiner langen Praxis entsinne[399] ich mich äußerst weniger Fälle, wo ein von mir ausgesprochener Vorwurf tatsächlich beachtet, mein Rat befolgt worden ist. Dann geschah es fast ausnahmslos gerade von unseren bedeutendsten Künstlern, am liebsten, wenn ich mein Bedenken ihnen mündlich, etwa in einer Generalprobe geäußert hatte. Gedruckten Ausstellungen folgten auch sie weniger gerne. Hat meine langjährige kritische Tätigkeit wirklich einigen Nutzen gestiftet, so besteht er einzig in ihrem allmählich bildenden Einfluß auf das Publikum. Ein Aberglaube ist auch der ›entscheidende Einfluß‹ der Kritik auf den Erfolg eines Künstlers. Mit schaudert jedesmal vor der Anrede, die ich schon im voraus auf den Lippen junger Konzertgeber schweben sehe: ›Ein Wort von Ihnen – und mein Glück ist gemacht.‹ – ›Ja,‹ muß ich stets entgegnen, ›wenn Sie wirklich ein genialer Komponist, ein hinreißender Virtuose sind, dann wird Ihnen dies eine von mir in die Welt hinausgerufene Wort nützen. Aber dann sind Sie es selber, der Ihr Glück gemacht hat, nicht ich. Im anderen Fall kann ich aber dieses entscheidende Wort doch nicht sprechen – und daran sind wiederum Sie und nicht ich schuld!‹ Die Kritik ist gegen den wirklichen Wert oder Unwert des Künstlers nicht allmächtig. Von tatsächlichem Einfluß ist sie bloß, wenn sie – kurz gesagt – Recht hat. Das Publikum läßt sich nichts weismachen. Es folgt seinen eigenen Eindrücken, und diese sind meistens – nicht immer – richtig. In Konzertsachen trifft es nach meinen Erfahrungen häufiger das Rechte als im Theater, wo die populäreren Effekte den Ausschlag geben. Wenn die Zuschauer sich in einem neuen Stück gelangweilt haben und dann zu Hause beim Nachtmahl darüber schimpfen, – dann mögen nachträglich die lobendsten Kritiken erscheinen, sie werden das Geschick der Novität nicht abwenden. Hat aber, umgekehrt, das Publikum sich vorzüglich unterhalten, so ist ein starker Besuch dem Stücke gesichert, trotz des ästhetischen Einspruchs der Kritik.«

»Wenn ich an Neßlers ›Trompeter von Säckingen‹ denke,« bestätigte Billroth, »muß ich Dir Recht geben. Von der Kritik einmütig getadelt, hat diese Oper den Komponisten doch zum berühmten und reichen Mann gemacht. Für diesen Erfolg war eben nicht bloß der Wert der Musik entscheidend.«

»Oft ereignet sich auch der entgegengesetzte Fall. Davon ließen sich zahlreiche Beispiele anführen. Irgendein verdienstvoller, von seinen Landsleuten vergötterter Komponist schreibt ein recht[400] schwaches Werk. Von achtungsvoller Rücksicht, von persönlichem Wohlwollen, auch von Lokalpatriotismus geleitet, lobt die Kritik diese Fehlgeburt mit aufopferndem Eifer. Das Publikum strömt zur zweiten Aufführung, sickert noch zur vierten und fünften, dann bleibt es weg, und die Oper hat ausgelebt. Im Ausland feiert man ihre Bestattung meistens schon am dritten Abend. Das Publikum hat gegen die Kritik entschieden; es hat nicht bloß Recht behalten, sondern Recht gehabt.«

»Du gehst zu weit, wenn Du ernste Kritik als machtlos schilderst; sie kann doch sicherlich den Erfolg oder Mißerfolg beschleunigen und steigern!«

»Das leugne ich nicht. Am stärksten und nützlichsten wirkt ihr Wort da, wo die Zuhörer einer ganz neuen Erscheinung gegenüber zwar richtig, aber noch zaghaft empfinden, sich mit dem Urteil nicht recht herauswagen. Erklärt dann die Kritik mit voller Überzeugung, daß der fremde Künstler in noch viel höherem Maße das Lob oder das Mißfallen verdiene, welches das Publikum mehr angedeutet als ausgesprochen hatte, dann fühlt dieses sich in seinem Instinkte bestärkt, gehoben, und das Schicksal des Debütanten ist entschieden. Es gehört zu meinen angenehmsten Erinnerungen, manchem Künstler von unbekanntem Namen und ungünstiger Persönlichkeit zu seinem rechten Platz verholfen zu haben, indem ich das gedämpfte Urteil des Publikums in deutlichster und stärkster Instrumentierung wiederholte. Glücklicherweise habe ich fast immer gefunden, daß dem Publikum eine sichere Empfindung innewohnt. Nur fällt es heutzutage nicht immer leicht, das wirkliche Urteil der Zuhörer, das so oft durch den Lärm geschlossener Parteien oder durch bezahlten Applaus gefälscht wird, zu erkennen. Es ist eine feine Beobachtung, welche George Sand in ihrem Künstlerroman ›Consuelo‹ ausspricht: ›Le public s'y connaît. Son cœur lui apprend ce que son ignorance lui voile.‹«

Billroth gab mir Recht, denn seine eigenen Erfahrungen stimmten zumeist mit den meinen. »Aber,« rief er nach einer Pause lebhaft aus, »was bleibt dem Kritiker, wenn Du ihm den erziehenden Einfluß auf den Künstler absprichst und obendrein die Macht über den Erfolg?«

»Es bleibt ihm,« erwiderte ich, »als schönster, meistenteils auch einziger Lohn das Vertrauen und die dankbare Zustimmung seines Leserkreises. Und dieser Lohn kann nur mit echten Mitteln[401] erworben und erhalten werden. Er ist mein wertvollster Schatz. Freilich, die Buße dafür bleibt uns nicht geschenkt: das Mißvergnügen der getadelten Künstler. Es steigert sich mitunter bis zum Haß, zur Feindseligkeit ganzer Familien. Denn, wenn auch vielleicht der Mann, dem die abfällige Kritik gegolten, im Stillen ihre Gerechtigkeit einsieht und nach und nach verzeiht – seine Frau verzeiht nie! Der frühere freundschaftliche Verkehr ist abgebrochen. Der vordem hochgeschätzte Kritiker ist fortan ein unwissender oder parteiischer Mensch. Das sind die bitteren Tropfen im Leben eines Kritikers.«

»Ich weiß, Du hast davon eine starke Dosis schlucken müssen. Ohne Zweifel kannst Du aber auch von Ausnahmen erzählen?«

»Daß ein Künstler empfangenen Tadel uns nicht nachtrage, gehört zu den größten Seltenheiten. Ich erinnere mich eigentlich nur zweier Beispiele, aber mit desto größerem Vergnügen. Baron Perfall, der hochverdiente General-Intendant des Münchener Hoftheaters, hatte in jüngeren Jahren eine Märchendichtung (›Dornröschen‹) für Soli, Chor und Orchester komponiert, welche in Wien unter Herbecks Leitung mit sehr schwachem Erfolg aufgeführt wurde. Ich behandelte sie in meinem Berichte etwas geringschätziger als nötig war, und schloß mit dem schlechten Witz: man brauche, um den Erfolg des Komponisten zu bezeichnen, nur die lateinische erste Silbe seines Namens ins Deutsche zu übersetzen. Im Sommer desselben Jahres besuchte ich die mir verwandte Familie des Generals von Dratschmied auf ihrem Landaufenthalt im bayrischen Gebirge. Auf unserem Nachmittagsspaziergang begegnet uns ein schlanker Herr im Jägeranzug, welcher die Damen freundlich begrüßt. ›Ah, Baron Perfall!‹ rufen diese ganz erfreut. Ich fühle einen leichten Schauer beim Klang dieses Namens. Aber Perfall, dem ich vorgestellt werde, drückt mir herzlich die Hand und ist die Liebenswürdigkeit selbst. Er ist es auch geblieben die vielen Jahre her, in welchen ich niemals versäumt habe, ihn in München aufzusuchen. Auch er besuchte mich wiederholt in Wien, ohne je auf seine Kompositionen anzuspielen, von denen die letzte, ›Junker Hans‹, auf allen Bühnen einen verdienten und nachhaltigen Erfolg errungen hat.«

Die zweite Geschichte spielt in Mailand und ist noch erbaulicher.

»Wahrscheinlich, als wir zusammen dahin reisten, um Verdis ›Otello‹ zu hören?«[402]

»Ganz richtig. Damals bat mich Giulio Ricordi, der berühmte Musikverleger, zu einem kleinen Dejeuner und nannte mir drei Freunde, welche er mit mir einladen wolle, darunter den Komponisten Boito. ›Unmöglich,‹ rief ich. ›Ich habe über seinen »Mefistofele«, diese Profanation von Goethes Dichtung, nicht bloß streng, sondern unbarmherzig geschrieben.‹ – ›Er weiß das genau,‹ bemerkte Ricordi, ›trotzdem freut er sich, Sie kennenzulernen; er ist ein geistreicher, hochgebildeter Mann.‹ Das mußte er in der Tat sein, um mit mir so unbefangen und herzlich zu verkehren, wie er es damals tat. Ich habe seinem interessanten, lebhaften Gespräch mit wahrem Vergnügen gelauscht und gedenke gern der feurigen Kohlen, welche seine Gentilezza über mein sündiges Haupt gesammelt hat. Solche Züge sind schön, sind selten und bleiben mir unvergeßlich. Es gehört ja zu den unausbleiblichen Konsequenzen des Kritikerberufs, daß die abgünstig beurteilten Künstler uns gram werden. Das ist ganz natürlich, ist menschlich. Nur kindliche Naivität kann sich darüber verwundern. Ganz andere, systematisch fortgesetzte Angriffe sind es, die mich befremden und mir, wenigstens in früherer Zeit, weh getan haben.«

»Gewiß von Wagnerianern?«

»O nein! Die Wagnerianer müssen gegen mich losgehen; darauf sind sie als Partei eingeschworen und einexerziert. Wagner – jedes Wort und jede Note von Wagner – ist ihre Religion, die Verteidigung und Ausbreitung derselben ihr einziges Pathos. In diesem Sinne sind ihre Angriffe doch etwas anderes und besseres als persönliche Gehässigkeit. Ich habe fleißig hinübergeschossen und muß mir also das Herüberschießen gefallen lassen. Auch die vergifteten Pfeile will ich diesen Herren nicht verübeln, habe ich sie doch weidlich geärgert, bin auch an ihrem Gift nicht gestorben. Ihre Gegnerschaft tut mir nicht weh. Was ich meinte, sind die methodisch fortgesetzten Bosheiten von ›Kollegen‹, die ich nie mit einem Worte angegriffen, ja denen ich in ihren Anfängen mich hülfreich erwiesen habe.«

»Das erklärt alles! Gemeine Naturen vertragen es nicht, jemandem Dank schuldig zu sein. Es ist ein ewiger Typus:


›Er haßt den Retter meistens von der Stunde an,

Wo er den Helferarm entbehren kann.‹
[403]

Ich kenne diese Leute. Von einem aufrichtig sachlichen Interesse, wissenschaftlichem Streit ist da nicht die Rede. Sie wollen den älteren, bekannteren Schriftsteller nur zu einer Polemik reizen, die sie aus dem Halbdunkel ihrer Zeitung in ein helleres Licht hervorzöge. Es ist mir lieb, daß Du Dich niemals zu einer Erwiderung hast hinreißen lassen, so sehr Dir die Finger jucken mochten.«

»Und ich bin Dir Dank schuldig, daß Du mich immer davon abgehalten hast.«

Wir waren von unserem kurzen Spaziergang zurückgekehrt und setzten uns auf eine Bank vor Billroths Villa, die den herrlichsten Ausblick auf den Wolfgangsee bietet. Billroth zündete sich behaglich eine Zigarre an und nahm unser musikalisches Gespräch wieder auf:

»Es macht mich immer toll, wenn die Parteigänger der Zukunftsmusik Dich als einen Marodeur bezeichnen, der hinter dem Vormarsch des Zeitgeistes zurückgeblieben ist. Dann müßte auch ich ein Zopf heißen, ich, der Schwärmer für unseren modernsten Meister: Brahms! Ein Zopf und Marodeur, weil ich weder Bruckner noch Richard Strauss für einen zweiten Beethoven halte, und weil Wagners Musik mir widerwärtig ist, samt ihrem dreifach verderblichen Einfluß auf die Komponisten, die Sänger und das Publikum! Gerade gegen den Vorwurf der Verzopftheit brauchst Du Dich nicht zu verteidigen – liegen doch in Deinen Kritiken über Schumann, Brahms, Dvořák und so viele neue Opern die Beweise des Gegenteils gedruckt vor den Augen der Welt. Hat man Dich aber nicht gleichzeitig auch des Gegenteils beschuldigt: der Hinneigung zum Neuen?«

»Meint man das gute Neue, so kann ich meinen Fehler nicht leugnen. Es ist so natürlich, daß gerade der Kritiker, welcher das altbewährte Opern- und Konzertrepertoire seit Dezennien auswendig weiß, nach neuen Erscheinungen mit viel größerem Eifer verlangt, als das klassische Stammpublikum es tut. Der Reiz der Neuheit ist kein frivoler; er ist freilich oft der einzige an solchen Novitäten. Die Sinfonien, Quartette, Sonaten von Mozart und Beethoven müßte ich einige Jahre lang nicht gehört haben, um von ihnen mit jener beglückenden Gewalt wieder ergriffen zu werden wie in meiner Jugendzeit. Noch reumütiger muß ich meine Sünden eingestehen, wo es sich um ältere, vormozartische Musik handelt. Wenn ein begeisterter Altertumsforscher wie [404] Wilhelm Grimm (in seinen ›Kleinen Schriften‹) ausruft: ›Wir sind einmal modern, und unser Gutes ist es auch‹ – warum sollte ich nicht das Gleiche aussprechen dürfen als Musiker? In der Poesie fühlst Du gewiß wie ich. Für Goethes ›Faust‹ gebe ich den ganzen Sophokles hin, für ›Hermann und Dorothea‹ Miltons ›Paradies‹ samt der ›Messiade‹ von Klopstock, für Schillers ›Tell‹ oder ›Wallenstein‹ alle Tragödien von Racine, für Dickens, für Gottfried Keller, Paul Heyse, Alphonse Daudet, Turgéniew die gesamte Belletristik des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts. Nicht anders ergeht es mir im Bereich der Musik; ich kann nicht dafür. Ich würde lieber den ganzen Heinrich Schütz verbrennen sehen als das ›deutsche Requiem‹, lieber Palestrinas Werke als die Mendelssohns, lieber alle Konzerte und Sonaten von Bach als Schumanns oder Brahms' Quartette. Für den einen ›Don Juan‹, ›Fidelio‹ oder ›Freischütz‹ gebe ich mit Freuden den ganzen Gluck hin. Ein schreckliches Bekenntnis – nicht wahr? Wenigstens ein aufrichtiges!«

»Du wirst dafür auch ordnungsmäßig gesteinigt werden!«

»Ohne Zweifel, und zunächst von solchen, die heimlich mit mir dieselbe Empfindung teilen, sie aber ob des kritischen Dekorums nicht eingestehen wollen. Aber warum nicht zugeben, daß eine Scheidewand, sei es die feinste und durchsichtigste, uns von der Ideenwelt jener alten Meister trennt? Daß eine Flut von Gegensätzen im Denken und Fühlen uns heute bewegt, von denen frühere Jahrhunderte so wenig eine Ahnung hatten, wie von den Reichtümern, welche unsere heutige Musik sich erwarb? Du wolltest ein aufrichtiges Bekenntnis von mir. Es ist jedenfalls ein rein persönliches, das nur ausspricht, was meinem Gemüt Bedürfnis ist, meinem Sinn ein stärkeres Entzücken gewährt. Ich gehe auch, wohlgemerkt, nur von der Fiktion aus, das Eine oder das Andere, die neue oder die alte Musik, opfern zu müssen und freue mich, daß wir sie beide besitzen, beide genießen dürfen. Durch Jahre bin ich selten zu Bett gegangen, ohne mir abends ein Schumannsches Stück am Klavier zu spielen – meistens den ersten Satz der ›Humoreske‹ oder das Andante aus einer der Sonaten oder auch eine ›Novelette‹. Damit hob ich mich aus dem Staube des Tages in eine reine höhere Sphäre, fand mich selbst wieder, mein Denken und Fühlen, meine Klagen, Wünsche und Hoffnungen. Niemals hätte ich zu diesem Zwecke Bach, Gluck oder Händel brauchen können. Andere wieder werden ihr persönliches[405] Heil in diesen Meistern finden. Es darf keiner darob den andern tadeln: ›In meines Vaters Hause sind der Wohnungen viele.‹

Mit Bach, Händel und dem ungleich dürftigeren Gluck ergeht es mir ungefähr wie mit den drei großen griechischen Tragikern: Aischylos, Sophokles und Euripides. Ich bewundere sie in Demut – aber ich vermag sie nicht zu lieben wie Shakespeare, Schiller oder Goethe. Sie sind nicht Fleisch von unserem Fleisch, nicht Blut von unserem Blut. Große, in ihrer Art unerreichbare Künstler, die aber einem längst zersprungenen Ideenkreise angehören. Der Abfluß der Zeit strömt aber in keiner Kunst so schnell, so verheerend wie in der Musik. So kommt es, daß ich vor-Bachsche Musik nur mit historischem Interesse genieße; Bach, Händel und Gluck nicht ausschließlich, aber doch überwiegend mit dem Anteil des Kunstverstandes, des technischen und geschichtlichen Sinnes. Bei Bach tritt noch ein anderer Faktor hinzu: der konfessionell-religiöse. Ich glaube, man muß als Protestant geboren und erzogen sein, um die Kirchenkantaten, insbesondere auch den Choral aus ganzer Seele mitzufühlen. Erinnerst Du Dich der jüngsten Aufführung des ›Paulus‹, der wir zusammen beiwohnten? Ich empfand die eingefügten Choräle als eine schwerfällige, störende Unterbrechung des Oratoriums. Du hingegen begrüßtest jeden Choral als eine teure Jugenderinnerung, denn Du hattest sie alle als Knabe in der Kirche mitgesungen. Hingegen gestandest Du mir, daß Du keinen Sinn für eine katholische Messe habest, wäre sie auch von Mozart oder Haydn komponiert. Sie sei Dir etwas Wildfremdes, Unverständliches. Ungefähr so ergeht es mir mit dem protestantischen Choral. Er ist ein unschätzbares, religiöses Palladium Eurer Kirche; musikalisch ist mir sein gleichmäßig schwerfälliger Paradeschritt ungenießbar. Ich halte es mit Nägelis Ansicht, daß das ewige Choralsingen die individualisierte Gesangskunst in Deutschland um zweihundert Jahre verzögert und das deutsche Volk gewöhnt habe, in denselben Tönen zu frohlocken und zu klagen. Händel steht mir näher als Bach, den ich trotzdem für den größeren Meister halte. Aber Händel hat einen weiteren Horizont, eine freiere Anschauung, mehr Weltfreudigkeit und sinnliche Schönheit. Zur vollen Hingebung an Bachs Kirchenkantaten fehlt mir der religiöse Sinn, die weltflüchtige, spezifisch protestantische Bußfertigkeit, welche diese Musiken und ihre gräßlichen Texte beherrscht.«[406]

»Du gehst zu weit, lieber Freund, und protestierst eifriger, als Du vielleicht selbst empfindest. Habe ich Dich doch tief ergriffen gesehen von dem ersten Chor der Matthäuspassion, von den dramatisch erregten kurzen Chorsätzen und vielen von Stockhausen so rührend gesungenen Stellen des Evangelisten. Doch gebe ich Dir zu, daß wir protestantischen Norddeutschen ein viel intimeres, weil durch Jugendeindrücke ungemein verstärktes Verhältnis zu Bachs Kirchenmusik haben als ihr süddeutschen Katholiken. Für Heuchelei halte ich selber das Entzücken vieler Zuhörer, welche aus Angst vor den ›Kennern‹ heftig applaudieren. Aber wo ziehst Du die Grenze zwischen alter und neuer Musik?«

»Für die Geschichte beginnt mir unsere lebendige Musik mit Bach und Händel. Für mein Herz beginnt sie erst mit Mozart, gipfelt in Beethoven, Schumann und Brahms. Wir haben aber auch Tondichter zweiten Ranges, die unserer Empfindungswelt oder doch einem Ausschnitt derselben einen ungleich lebendigeren Ausdruck verleihen, in unserem Gemüt ein viel stärkeres Echo wecken als die alten Meister. Vor allem in der dramatischen Musik und der Lyrik. Die stürmische Erhebung eines ganzen Volkes, hat sie vor der ›Stummen von Portici‹ und Rossinis ›Tell‹ in der Musik ähnliche Klänge gefunden? Und das leidenschaftliche Liebesbekenntnis inmitten trostlosen Zusammensturzes wie im vierten Akt der ›Hugenotten‹? Erwachende Neigung, Wehmut, schwärmerische Sehnsucht wie bei Spohr und Marschner? Unsere Zeit hat auch in der Musik erweiterte Anschauungen, poetische Bedürfnisse, die man früher nicht gekannt, z.B. das Lokalkolorit. Erst Weber im ›Freischütz‹, Rossini im ›Tell‹, Auber in der ›Stummen‹ haben uns dieses entzückend Neue gebracht. Ich möchte auch aus der Reihe enger begrenzter Tondichter neuester Zeit Gounod, Bizet, selbst Massenet anführen, die auf den Höhenpunkten von ›Faust‹, ›Carmen‹, ›Werther‹ ganz neue Seiten mit sympathischer Gewalt erklingen machen. Es gibt kleine Geister mit großem spezifischen Talent. Unsere Zeit kann sie nicht entbehren, kann überhaupt das Neue nicht entbehren, in welchem unsere Blutwelle rauscht. Dichtungen und Tonwerke der klassischen Kunstperiode leben im hellen Tageslicht; für den Zauber der Morgen- und Abenddämmerungen hat erst die moderne Musik die entsprechenden Farben entdeckt. Ich halte es für Pflicht des Kritikers, die Produktion nicht zu entmutigen, das[407] echt Empfundene und ungesucht Geistreiche unserer Zeit anzuerkennen und es gegen ein entschwundenes ›goldenes Zeitalter‹ nicht verächtlich herabzusetzen. Andere Zeiten schaffen andere Verhältnisse, und diese verändern schließlich das künstlerische Gewissen und den künstlerischen Geschmack. – Warum ich nicht ausdrücklich Wagner preise unter den Spitzen der modernen Musik? Weil ich mich nicht für ihn begeistern kann. Ich erkenne seinen glänzenden Geist und sein eigenartiges großes Talent, diese neue Mischung von poetischer, malerischer und musikalischer Anlage, als ein gewaltiges Ferment der neuesten Opernentwicklung. Aber seine Musik läßt mich kalt. Mitunter macht sie mich heiß, fast niemals warm. Ich habe redliche Mühe daran gewendet, mich zur Liebe für ›Tristan‹, ›Parsifal‹ und die ›Nibelungen‹ zu zwingen; jetzt bin ich endgültig beruhigt. Ich muß mich mit einem Bekenntnis Hebbels trösten, der bei einer ähnlichen Gelegenheit äußerte: ›Es läßt sich nicht leugnen, daß das geheimnisvolle Gesetz der Wahlverwandtschaft sich dem Kunstwerk gegenüber ebensowohl geltend macht, wie es das Verhältnis des Menschen zum Menschen bestimmt, und daß die gründlichste Demonstration niemals eine einmal versagte Neigung einflößen oder einen einmal vorhandenen Widerwillen besiegen wird.‹«

Wir ruhten aus vom langen Gespräch. Auf den Gipfeln der Berge schimmerte der letzte Streifen der Abendröte. Der See schlief in tiefem Dunkel, und kühl wehte die Abendluft. Langsam erhoben wir uns und schritten dem Hause zu. »Siehst Du«, sagte Billroth, »da hast Du Stoff genug zu dem Kritiker-Kapitel, das ich für Deine Memoiren verlange. Du brauchst nur unser heutiges Gespräch zu erzählen.«

»Meinst Du wirklich?«

»Auf meine Verantwortung!«

»Nun wohlan, auf Deine Verantwortung.«[408]

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 397-409.
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