[86] Die Pawlowa, die Otéro, die Cléo, die Saharet, die Marietta, die Dancrey, die Ruth St. Denis, Maude Allan, Gertrud Barrison, Loie Fuller, die Tortajada, die Karsavina, die Madeleine, die Wiesenthal, die dell' Era, Olga Desmond, Isadora Duncan sind die bekanntesten Tänzerinnen der Welt. Alle diese Frauen nennen sich Tänzerinnen, aber welcher Funken Ähnlichkeit besteht zwischen den leidenschaftlichen Windungen der Spanierin und den rhythmischen Schritten der Hindutänzerin, zwischen den graziösen Wirbeln der Australierin und den vereinsamten Bewegungen der Schlaftänzerin? Oder was haben die anmutig mädchenhaften Bewegungen der Wiesenthals mit dem routinierten Toilettenluxus der Dancrey oder mit den Pirouetten der dell' Era gemein? Kaum zwei von allen diesen »Tänzerinnen« weisen in ihren Produktionen Ähnlichkeit miteinander auf. Ist nun schon der Tanz auf der Bühne von solch ungeheurer Verschiedenartigkeit, wie groß ist erst der Unterschied zwischen dem Tanz auf der Bühne und dem Tanz im Ballsaal.
Ich sprach mal mit einem erstklassigen, amerikanischen Tänzer über die am Nebentisch sitzende Cléo de Merode. »Sie kannen nicht tanzen, die Cléo,« meinte er. – ??? – »No, sie kann stellen Posen und hüpfen äußerst graziös, aber uenn ich werde machen mit sie eine Two step, ich uette, sie wird nicht können tanzen!«
Ich konnte ihm nicht unrecht geben. Wir finden im Ballsaal Leute, die das Tanzen als Kunst, solche, die es als Sport, welche, die es als gelegentliches Vergnügen,[87] und wieder welche, die es als lästige, gesellschaftliche Verpflichtung betrachten. Schon hieraus ergibt sich die rein individuelle Handhabung des modernen Tanzes, der allen althergebrachten Regeln zu spotten scheint. Was wird nun eigentlich getanzt? Fragst du den gesellschaftlichen Outsider, so erhältst du die erstaunte Antwort: »Na, was eben gerade gespielt wird, Walzer, Polka oder Rheinländer.« – Wer lacht da? Aha, der Gent dort mit den weiten Hosen und der »barfußen« Hutkrempe. Ein verständnisloses Grinsen zieht über sein Gesicht. Aber drehe mal den Spieß um und frage ihn. Da wird das Grinsen noch verständnisloser. Er soll wissen, was er tanzt? Ja, woher denn? Man tanzt eben – wie – na, die Hauptsache ist doch, daß es geht. Eine eigene Methode zu tanzen, hat sich in den letzten Jahren eingebürgert. Zuerst in der internationalen Lebewelt erprobt, dann vereinzelt mit großem Erfolge von den besten Tänzern lanciert, schließlich von der Gesellschaft übernommen. Entgegen jeder früheren Regel der Tanzkunst setzt man heute jede Melodie in Walzer, One step, Tango, Boston um. Man hat sich vom Zwange alter Schemen befreit, nutzt heute die Nuancen jeder Melodie nach eigenem Ermessen aus – mit einem Wort, man tanzt individuell. Die Krone des individuellen Tanzes gebührt dem Rag. (Alexander, Mysterious, Come you back etc.). Der Rag bietet gewandten Tänzern jede Entfaltungsmöglichkeit. Sie kippen hintenüber, drehen, tanzen offen, gehen – in spanischer Manier – einige Schritte auseinander, dann wieder zusammen. Die eleganten Pariser Tänzerinnen ziehen, um sich noch mehr Takt und Schwung zu geben, die Arme und Schultern so hoch, daß vom Gesicht meistens nichts mehr zu sehen ist.
Ein amüsantes Bild bieten zwei so eng aneinanderliegende Leutchen, die im Rhythmus der Musik vollständig aufgehen. Rhythmus – das ist es, was die Tänzer heute voraus haben. Ein in allen Gliedern vibrierender, ungeheurer Rhythmus. Wenn die Musik aufhören würde, ständen die modernen Tänzer fassungslos auf dem Fleck, während die fidelen Rundtänzer der alten Schule ruhig weiterdrehen würden. Weil sie ihr in der Tanzstunde erlerntes Schema tanzen und keine individuell aufgefaßte, empfundene Melodie. Es genügt aber nicht, daß der Gent von heute diese Tanztechnik beherrscht, um gut tanzen zu können. Es gehört dazu, daß er mit jeder Frau, zu jeder Melodie auch[88] auf dem kleinsten Fleckchen jederzeit tanzen kann. Es gehört ferner dazu, daß er auf seinen Eindruck verzichtet und beim Tanzen seiner Dame ein Relief gibt ...
Oh – Mysterious Rag – – –
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