11.

[113] Mama spielte nicht gerne Klavier, weil sie ihre Fingerspitzen damit für den weichen Anschlag der Harfe unempfindlich machte. So mußte ich, von meinem neunten Jahre an, sobald es meine freie Zeit erlaubte, leichtere Klavierbegleitungen beim Stundengeben übernehmen. Dabei lernte ich die fehlenden Stimmen mitsingen,[113] alle Partien und Opern auswendig, was uns Kindern dann so außerordentlich zustatten kam. Mit fünfzehn Jahren vertrat ich Mama schon manchmal in den Stunden, weil ich kennen gelernt, worauf es ankam, und mein Gehör bereits vollständig für Gutes gebildet und gegen Schlechtes empfindlich war. Nur war ich weniger nachsichtig gegen Faulheit, Dummheit und Arroganz als meine Mutter, die ihre Haupterfolge – wie ich mir heute eingestehen muß – unendlicher Geduld und Sanftmut zu verdanken hatte.

Seit langem schon durfte ich Besorgungen und Aufträge erledigen, lernte dabei richtige Wege einschlagen, kennen, was unseren Verhältnissen nottat, und wie man das Leben praktisch anzufassen hatte. Seit Emilie Drahota aus unserm Dienst gegangen, mußte Mama ja fast alles allein machen, bis auf die grobe Arbeit, die unsere ausgezeichnete Aufwartefrau übernahm, der man für ihre Reinlichkeit, Ehrlichkeit und treue Anhänglichkeit wirklich ein Denkmal setzen sollte und der ich diese seltenen Eigenschaften bis zu ihrem Tode – Gott sei Dank – noch reichlich vergelten konnte. So wurde ich als Älteste tüchtig zur Wirtschaft herangezogen, in der es genügend zu tun gab. Ich holte alles ein und kochte lange Zeit ganz selbständig. Obgleich gut wirtschaftlich veranlagt und erzogen, muß ich aber doch gestehen, daß mir das Kochen selbst, die Hitze am Herde, niemals große Freude bereitete, während Riezl, als Kochkünstlerin geboren, auch hierin viel talentvoller war als ich. Freilich aß sie auch lieber vielerlei Gutes als ich und war auch immer sehr ungehalten, wenn sie meine Kleider abtragen mußte, weil sie sich gerne putzte und elegant angezogen ging. Hingegen war ich sehr bescheiden in allen meinen Wünschen, flickte, stopfte, strickte für uns alle und war nicht wenig stolz auf meine Hausfrauenwürde. Heute sieht es sich auf dem Papier recht leicht an, wie eine Spielerei beinahe; was es aber, uns dahin zu bringen, unserer lieben Mutter für sorgenvolle Jahre kostete, das vermag niemand zwischen den Zeilen zu lesen; und heute, nachdem ich Briefe, aus jenen Zeiten stammend, durchgelesen habe, die mir aus einer Erbschaft zurückkamen, weiß ich selbst erst, was sie um uns gelitten hat. Wir kannten unsere gute Mutter gar nicht anders als gesund, das heißt, wir glaubten sie stets gesund, weil sie nie[114] klagte; und doch fühlte sie sich oft so elend, so krank. Zwei Jahre hintereinander z.B. hatte sie die Gesichtsrose, beide Male im Monat März. Sie lag in schwerem Fieber und hatte weder Ruhe noch rechte Pflege, so daß wir uns später oft wunderten, wie die Arme durchkommen konnte. So weich sie andern gegenüber war, so hart war sie gegen sich selbst. Sie dürfe nicht krank sein, pflegte sie oft zu sagen; hielt sich einzig dadurch aufrecht, verleugnete ihre Schwäche, fühlte sich stark im Gefühle ihrer Mutterpflichten und im Bewußtsein ihres hohen Amtes, uns Kinder für eine Zukunft vorzubereiten.

Zwei Briefe meiner Mutter, aus dem Jahre 1858 stammend, die mir nicht uninteressant für die damaligen Prager Verhältnisse scheinen, möchte ich hier einschalten.


Über den Kometen.


An Herrn Hofrat B ... in Kassel.


Prag, 9. Juni 1858.


»... Die Menschen hier sind verrückt mit dem Kometen, der am Samstag erscheinen soll. Bei Nußle werden auf dem Felde Zelte aufgeschlagen, wohin die Menschen auswandern wollen, um sich vor dem Erdbeben zu schützen; das gemeine Volk spricht kein anderes Wort mehr; sie sind wie die Tollen. Alle Arbeiten sind am Samstag eingestellt, alle Schulen, alle Läden geschlossen, man muß sich schon jetzt mit Lebensmitteln versehen. Sonst war in allen Zeitschriften die Rede von dem Kometen, daß sich die Menschen beruhigen sollten, daß man nichts davon zu fürchten hätte; und jetzt, wo sein Erscheinen nahe ist, sind sie alle still. – In den Kirchen wird von der Kanzel herab den Leuten angst gemacht, da ist es kein Wunder, wenn sie verrückt werden2. Ich glaube wohl, daß dieser Umstand benützt wird von gewissen Leuten, um das Volk noch mehr in Angst und Unterwürfigkeit zu jagen. Man fürchtet, daß Unruhen entstehen, was mir auch einleuchtet. Das gemeine Volk will gegen die Juden rücken, weil sie sich in Prag zuviel Gewalt und[115] Herrschaft aneignen. Alle Militärs sind schon beordert, in allen Gemütern herrscht eine sonderbare Stimmung. Mir macht die Geschichte nicht einen Augenblick Angst; ich bin von den Verhältnissen, die mich in meinem näheren Kreise treffen, so eingenommen, daß mich die Außenwelt wenig kümmert ...«


An denselben:


Prag, 5. Juli 1861.


»... Gewiß haben Sie von den Unruhen, die hier seit acht Tagen herrschen, die hauptsächlich den Juden gelten, auch gelesen. Es ist wirklich recht arg gewesen, und selbst in unserem Hause sind vom Pöbel oft Versuche gemacht worden, einzudringen. In allen Häusern aller Straßen sind sämtliche Fenster eingeschlagen; viele Straßen sind noch jetzt gesperrt, und überall lagern Scharen von Militär. Dem ohngeachtet ist jeden Abend Auflauf von Menschen, daß man kaum durchkommen kann; es ist doch noch keine Ruhe –«


Die Judenhetzen, deren wir mehrere in Prag erlebten, beschränkten sich übrigens lediglich aufs Fenstereinwerfen. Schlimmeres ist, meines Wissens, nicht vorgekommen.

Der Komet von 1858 war allerdings die schönste einzelne Himmelserscheinung, die ich je gesehen. Er stand viele Monate lang am Abendhimmel im vollsten Glanze und überstrahlte alle anderen Himmelskörper.

Nur ein Bild kann ich diesem an die Seite stellen. Es war am 18. Oktober 1911 in Scharfling am Mondsee (Salzkammergut), als mein Mann um vier Uhr morgens mein Schlafzimmer betrat, um mich auf folgende Himmelserscheinung aufmerksam zu machen. Bei klarstem Wetter stand nordöstlich ein prächtiger, ziemlich lang- und hellbeschweifter Komet, der eben über dem Hollerberg aufgegangen war und sich im See spiegelte. Acht bis zehn Meter – mit meinem Auge gemessen – davon, nur wenige Linien höher und weiter südlich – gerade über Kienbergwand und Schafberg –, der Mond im letzten Viertel, der den Erdschatten hell durchleuchtete; und dicht dabei, in nächster Nähe, als wäre sie eben durchgegangen, die Venus, fast in Mondesgröße,[116] wie ich sie niemals noch geschaut. Diese drei Sternbilder, ost-südwestlich stehend, zu einem einzigen vereint, waren überwältigend, und wie mein Mann sehr richtig bemerkte, würden wir wohl nie wieder desgleichen sehen. Meine Leute hatte ich alle geweckt, die gleich uns in Bewunderung und stummer Anbetung davor standen. Die größte Konjunktion der Venus war mit dem Morgen vorüber, und tatsächlich sahen wir nur ein oder das andere Sternbild noch in den nächsten Morgendämmerungen, die Herbstnebel uns neidisch nur auf Augenblicke enthüllten.

Ende des Jahres 1862 bezogen wir eine andere Wohnung, nahe dem Landestheater in einem neuen Hause: Gallygasse 497. Wir verbesserten uns insofern, als diese aus zwei Zimmern, einer Küche und zwei Kammern bestand, aber auch um siebzig Gulden teurer war als die alte, in der wir zehn Jahre gelebt hatten. Eine neue Sorge zu vielen alten; aber es mußte sein. Die alte Wohnung war nicht zu erheizen, und zweimal schon waren uns sämtliche Wintersachen vom Boden gestohlen worden, weil uns kein anderer Platz zu Gebote stand. Trotz aller Anzeigen, Laufereien – sie wurden im Leihhause aufgefunden – erhielten wir nicht ein Stück zurück, trotzdem Mama sie selber auslösen wollte.

Schüler genug waren da, viele davon aber so arm, daß Mutter ihnen noch das Essen dazu geben mußte; meist arme Musiker. Unter den reichen Privatschülerinnen bezahlten nur wenige das Stundengeld zur rechten Zeit, ja, sie blieben sogar oft viele Wochen lang vor der letzten Stunde aus, während Mama, die mit jedem Gulden genau rechnen mußte, um ihren Verpflichtungen pünktlich nachzukommen, oft schier verzweifelte. Sie aber half allen! Der Wiener Hofopernsänger Horwitz, ihr einstiger Schüler, sagte mir noch um 1904, daß er ohne ihre Fürsorge einfach verhungert wäre. Und Frau von L..., deren Vater in Prag Oberst war, wie gut ihr jede Tasse Kaffee getan, die Mama ihr vor oder nach der Stunde vorgesetzt habe, weil es bei ihren Eltern gar so knapp herging. Wie gut waren dagegen wir daran; Mama kochte so ausgezeichnet kräftig, nahm immer nur vom Allerbesten und pflegte uns damit mehr, als man ahnen konnte.

So waren es viele, viele, die ihr nicht nur ein paar Tassen Kaffee, wohl aber ein ganzes Leben, Karriere, Kenntnisse und[117] Stellungen verdankten. Aber nur wenige haben es dankbar anerkannt. Die meisten nehmen soviel Güte, Liebe, Geduld und Treue für selbstverständlich an, als müsse es so sein.

2

Er wurde erst nach Erscheinen für ungefährlich erklärt.

Quelle:
Lehmann, Lilli: Mein Weg. Leipzig 1913, S. 113-118.
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