Die alten Tabus

[23] Sommer 1837. Ein stattlicher englischer Schiffskapitän – es war Frederick Marryat, Verfasser spannender Seegeschichten, und er erzählt das folgende in seinen Lebenserinnerungen – spaziert auf einem Feldweg, unweit des Niagara, in Begleitung einer jungen amerikanischen Dame. Plötzlich gleitet sie aus, fällt hin, rafft aber sich selbst und ihr langes Kleid gleich wieder auf, noch bevor er ihr helfen kann, rückt den Hut zurecht und marschiert tapfer weiter, wenn auch leicht hinkend. Er fragt teilnehmend: »Tut Ihr Bein weh?«, worauf sie ihm einen entsetzten und beleidigten Blick gibt und davonläuft. Der mutige Kapitän (British Navy) nimmt sogleich die Verfolgung auf und zwingt die Fliehende zum Beidrehen. »Pray you, dear Madam – was habe ich Ihnen getan?« Die Dame kämpft Zorn und Scham nieder und gibt ihm sachlichen Bescheid: Nie, unter keinen Umständen, darf das Wort »Bein« (leg) von einem Herrn einer Dame gegenüber gebraucht werden. Ihm, dem Briten sei dies wohl nicht bekannt gewesen, aber jetzt wisse er es und möge sich bitte daran halten.

Dies ist ein hübsches Beispiel für die Prüderie des 19. Jahrhunderts, über die wir uns heute lustig machen. Auch ganz harmlose Wörter waren damals mit einem Tabu belegt. Selbst das Hühnerbein durfte im Englischen lange Zeit nicht mit seinem natürlichen Namen »leg« benannt werden – bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein nannte man es »drumstick« (Trommelschlegel). Und wer gar ein Bruststück wollte, mußte »white meat« (weißes Fleisch) verlangen – auch das Wort »breast« war tabuiert, denn es konnte einen ja vielleicht sogar auf angenehme Gedanken bringen.

Man denkt, wenn man Prüderie sagt, gern an die Engländer unter Königin Viktoria. Tatsächlich waren aber die Amerikaner, besonders die Bostonians, eine Zeitlang noch viel strenger. Warum heißt der Hahn im Amerikanischen nicht »cock« sondern [23] »rooster«? Warum heißen auch kleine Steine »rocks«? Weil die älteren Wörter »cock« und »stones« unter anderem auch »unanständige« Bedeutungen hatten: »cock« ist ein volkstümliches Wort für ›Penis‹, und »stones« bedeutet in der englischen King James Bible (Hiob 40.17) ›Hoden‹. Damit man auch ja, ja nicht daran dachte, hat man diese »gefährlichen« Wörter durch andere ersetzt.

Im Deutschen war es kaum anders. »Hose« durfte man nicht sagen, höchstens »Beinkleid«. Sigmund Freud, auch sprachlich lebhaft interessiert, hat in seiner »Psychopathologie des Alltagslebens« (Kapitel V) gezeigt, wie verbotene Wörter über unbeabsichtigte Versprecher dann doch den Ausweg finden. Eine Dame, so berichtet er, klagte, wie unangenehm es sei, daß man auf Wanderungen so schwitzen müsse: alles sei naß, Bluse, Hemd und so. In diesem Satz hat sie einmal eine kleine Stockung zu überwinden. Dann setzt sie fort: »Wenn man aber dann nach Hose kommt und sich umkleiden kann ...« Hier hat sich also der verdrängte Name des verdrängten Kleidungsstückes auf indirektem Weg doch wieder bemerkbar gemacht.

Wir haben es heute besser. Wir dürfen getrost, auch in Gesellschaft feiner Damen, vom Bein und von der Hose reden. Allerdings wissen wir, daß es auch heute noch Grenzen gibt, daß man auch heute noch nicht alle Wörter, über die man theoretisch verfügen würde, ohne weiteres gebrauchen darf. Welcher Art sind die verpönten Wörter, oder mit anderen Worten, in welchen Lebensbereichen sind der Sprache Grenzen gesetzt? Und weil wir eben gesehen haben, daß die Begriffe von Anstand und Unanständigkeit in der Sprache sich offenbar stark gewandelt haben: Wie weit haben wir auf die alten Verbote heute noch zu achten? Gibt es vielleicht sogar neue Tabus, die ebenso streng eingehalten werden müssen wie einst die alten?

Quelle:
Leisi, Ilse und Ernst: Sprach-Knigge oder Wie und was soll ich reden? Tübingen 21993, S. 23-24.
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