12. Die sprachliche Vorwegnahme

Zum Schluß dieses Buches soll auf eine sprachliche Erscheinung aufmerksam gemacht werden, die kaum bemerkt wird, aber für unsere Zeit typisch und, so viel wir sehen können, zu einem guten Teil für das heutige »Unbehagen in der Kultur« verantwortlich ist. Wir nennen sie »sprachliche Vorwegnahme«; diesen Begriff haben wir zum erstenmal in einem Aufsatz in der »Neuen Zürcher Zeitung« vom 16. 1. 1972 gebraucht. Damit ist folgendes gemeint: Es ist in unserer Kultur fast unmöglich geworden, etwas Bedeutendes zu erleben, ohne daß man über dieses Erlebnis schon zuvor in Worten Bescheid erhalten hat.

Nachdrücklich bewußt wurde uns diese Erscheinung anläßlich der ersten Mondlandung im Juli 1969. Dieses Unternehmen, angekündigt als »das größte Abenteuer der Menschheit«, verlief für viele, die es am Fernseher oder Radio miterlebten, merkwürdig enttäuschend. Nicht weil es auf dem Mond nur wenig zu sehen gab – das war vorauszusehen gewesen – sondern weil das Erlebnis für den Zuschauer gestört, um nicht zu sagen verunreinigt wurde durch die unablässigen sprachlichen Kommentare. Nicht etwa, daß diese schlecht gewesen wären, im Gegenteil: Man hatte dafür die besten Kenner beigezogen. Aber der Zuschauer oder -hörer wurde nie mit den Mondfahrern und seinen eigenen Reaktionen allein gelassen. Jeder Augenblick war ausgefüllt mit Kommentaren; nicht nur technische, astronomische, philosophische Erläuterungen wurden laufend abgegeben; es wurde einem sogar nahegelegt, was man in diesem und jenem Moment zu fühlen habe.

Dies ist nun keine Einzelerscheinung, sondern Teil eines weitreichenden kulturellen »Syndroms«. Es besteht darin, daß zwar die Möglichkeiten der Erfahrung für den Einzelnen ungeheuer gewachsen sind, daß aber diese Erfahrung durch Verbalisierung (Umsetzung in Worte) stark und nachteilig beeinflußt wird.

[202] Zunächst ist ganz allgemein festzustellen, daß in unserer Kultur das Erleben aus erster Hand, also das unmittelbare und sinnliche Erleben, immer mehr durch das Erleben aus zweiter Hand, das Erleben über Medien (wörtlich: ›Mittler‹), verdrängt wird. Zu den beiden Medien Buch und Zeitung, die schon lange bestanden haben, sind in unserem Jahrhundert (in dieser Reihenfolge) Film, Radio und Fernsehen hinzugekommen; ihnen allen ist gemeinsam, daß sie indirekten Kontakt mit den Objekten vermitteln, sich zwischen das Objekt und das aufnehmende Subjekt schieben. Je häufiger die Medien benutzt werden, umso geringer wird der direkte Kontakt. Dies ist weitgehend bekannt: Marshal McLuhan, in »The Medium is the Message«, und verschiedene andere haben sich damit beschäftigt, so daß man heute oft von unserer »verbal culture« oder allgemein von der »Kultur des Erlebens aus zweiter Hand« spricht.

Was weniger bekannt ist und hier kritisch beleuchtet werden soll, ist dies: Auch das authentische Erlebnis, das Erlebnis aus erster Hand, wird heute in hohem Male durch vorausgehende oder gleichzeitige sprachliche Formulierung verändert. Eine solche Veränderung ist nicht an sich schädlich, sie wird es aber durch das Übermaß. Ein solches Übermaß herrscht heute zum Beispiel beim Erlebnis des (touristischen) Reisens. Das Reisen, vormals Inbegriff des Abenteuers – das heißt, des überraschenden und unerwarteten Erlebens – ist heute kein Abenteuer mehr. Schon vor jeder Reise wird ein Teil der kommenden Erfahrung durch die Werbung vorweggenommen: Wir wissen nicht nur genau, was auf uns wartet, sondern auch, was wir dabei empfinden werden (oder: zu empfinden haben). Sogar Überraschungen werden angekündigt – »Hier überrascht uns das kolossale unfertige Standbild des Apollo« heißt es in einer Werbeschrift für Naxos – und es wird uns auch gesagt, daß wir »unvergessliche Eindrücke» empfangen werden. Zwar wissen wir alle theoretisch genau, daß etwas, was uns angekündigt wurde, keine Überraschung ist, und daß man nicht im Voraus sagen kann, ob ein Eindruck unvergeßlich sein wird oder [203] nicht. Wir haben uns aber an diese Redeweise so gewöhnt, daß wir über solche Bevormundung kaum mehr Befremden oder Ärger empfinden.

Auf der Reise selbst begleiten sprachliche Kommentare mindestens die Höhepunkte – wir haben weiter oben, im Kapitel über Reisen (Seite 82 ff.) über die Art und Weise gesprochen, wie durch die Wortschwälle der Reiseführer das authentische Erleben eines Tempels, eines Ausblicks, einer schönen Stätte beeinträchtigt werden kann. Das dabei zu beobachtende hektische Fotografieren mag dem Bedürfnis entspringen, die »reine« Anschauung aus der Sprachflut in eine stillere Zeit hinüberzuretten – »emotion recollected in tranquillity«, um mit William Wordsworth zu reden. Da die großen Augenblicke, die Höhepunkte der Reise durch vorhergehende oder gleichzeitige sprachliche Berieselung – man kann fast sagen: verunreinigt werden, bleiben umso stärker diejenigen Eindrücke, die nicht vorweggenommen wurden. Dies sind dann oft kleine Dinge: eine Eidechse am Wegrand, ein Duft von Thuja, ein freundliches Wort. Oder aber es sind negative Eindrücke – von denen die Werbung natürlich nichts sagt: Verspätungen, lärmige Nachtquartiere, Öl am Strand. Weil diese spontan und unangekündigt erlebt werden, wirken sie oft am stärksten nach, und der heimgekehrte Reisende ist dann in einer gewissen Verlegenheit, weil er das im Prospekt versprochene oder eher geforderte »Plansoll« an Entzücken nicht erfüllt hat. Dies mag ein Grund dafür sein, daß so viele, besonders junge Leute am liebsten ohne Vorbereitung ins Blaue reisen: Sie riskieren damit zwar, wesentliches, das am Wege gewesen wäre, nicht zu sehen, dafür aber sind ihre Erlebnisse aus erster Hand und nicht durch Vor-Information deformiert.

Ein zweites Gebiet, in dem sich die sprachliche Vorwegnahme bemerkbar macht, ist der Besitz und Genuß von Gütern, von der Tafel Schokolade bis zur Privatjacht. Eine geschickte Industrie füttert uns mit Texten, in denen der Genuß dieser Güter in Worten vorgeformt wird. Dabei ist es für die neuere Zeit typisch, daß nicht nur die Güter selbst in den schönsten Tönen [204] geschildert werden, sondern auch die Empfindungen, die wir bei ihrem Genuß »zu haben haben«. Am deutlichsten ist dies wohl bei Eßwaren, wo sogar unsere Lustseufzer bereits im Werbetext enthalten sind: »Mit zarten Gemüsen umlegt ... schmilzt auf der Zunge ... Ah, ah.«

Es ist ferner charakteristisch für die heutige Werbung, daß sie eine feste Beziehung herzustellen sucht zwischen dem Gegenstand, den sie verkaufen will – Zigaretten, Vermouth etc. – und den Empfindungen in den hohen Momenten des menschlichen Lebens: Sommernächte, Zweisamkeit, Geliebt- und Geschätztwerden, die darum besonders häufig erscheinen. Damit macht sich die Werbung einen Teil dessen zu eigen, was früher der Dichtung vorbehalten war. Eine wesentliche Funktion der Dichtung war seit alters die, eine gewortete Form zu schaffen, in die der empfindende Mensch seine noch unklaren und halben Empfindungen hineingießen kann, so daß sie Ganzheit und Gestalt gewinnen. Dante berichtet am Schluß des fünften Gesanges seines »Inferno«, wie Paolo und Francesca, die sich ihrer Liebe noch kaum bewußt sind, eines Tages zusammen die Geschichte von Lanzelot und der Königin Ginevra (aus der Arthursage) lesen; beim Lesen dieser feurigen und traurigen Liebesgeschichte gewinnt ihre Liebe plötzlich Gestalt und Realität. So leistet die Dichtung gleichsam Geburtshilfe für die Gefühle. Generationen von Liebenden fühlten und liebten nach Werther, nach Tucholskys »Schloß Gripsholm« oder »Rheinsberg« und in neuerer Zeit nach Segals »Love Story«.1 Heute ist der Dichtung in der Werbung eine starke Konkurrenz erwachsen, welche die Dichtung aus dieser ursprünglichen Funktion beinahe hinausgedrängt hat.

Eine neue Erscheinung ist auch die in Büchern und Zeitschriften verbreitete Populärwissenschaft. Seelische, medizinische, zwischenmenschliche Vorgänge, deren sprachliche Erfassung bis vor kurzem nur dem Spezialisten möglich war, sind jetzt in sprachlicher Gestalt und mit einer reichen Terminologie [205] der großen Mehrzahl der Leute zugänglich gemacht. Dies bedeutet wiederum, daß eine große Anzahl von Erfahrungsbereichen, an die der Mensch früher direkt, ohne sprachliche Vorbereitung herantrat, heute zuerst ausgiebig in sprachlicher Form vor-erlebt werden, ehe sie authentisch und direkt erfahren werden können.

Das auffallendste Beispiel ist wohl der Bereich der Erotik. Hier haben Populärwissenschaft, Werbung und eine spezielle literarische Industrie zusammengewirkt und einen starken Verbalisierungseffekt erzielt. Noch vor kurzer Zeit gab es in der Erotik einerseits eine dem Spezialisten vorbehaltene wissenschaftliche Terminologie, andererseits ein beschränktes und eher primitives Männer-Vokabular, das den Frauen im allgemeinen erst spät zu Ohren kam. Heute steht praktisch allen Menschen ein weites terminologisches Arsenal für alle möglichen Körperteile, Handlungen, Seelenlagen, Perversitäten zur Verfügung. Mehr als früher geht deshalb in diesem Bereich die verbale Erfahrung der authentischen voraus. Und die Über-Aufgeklärtheit baut oft Erwartungen auf, die, wenn sie nicht »hundertprozentig« erfüllt werden, zu schlimmen Enttäuschungen führen.

Beim Versuch, moderne Kulturerscheinungen zu erfassen, trifft man oft auf uralte Begriffe. In unserem Zusammenhang erweist sich der Begriff des Mysteriums als besonders hilfreich. Wir definieren ihn so: Ein Mysterium ist ein Lebensbereich, über den jede vorherige Information untersagt ist, so daß der Mensch, welcher in diesen Lebensbereich eintritt, alles ganz authentisch – ohne Beimischung von verbaler Information – erlebt. In der griechischen und römischen Zeit waren die Mysterien eine besondere Richtung der Religion. Der Myste – der Einzuweihende – durchging eine Reihe von symbolischen Handlungen, die, so viel wir überhaupt davon wissen, ungefähr Tod und Wiedergeburt verkörperten – und das Entscheidende daran war, daß ihm vorher nichts über diese Handlungen mitgeteilt wurde, und daß auch er später nie jemandem darüber berichten durfte. So blieb das Mysterium so, wie wir es [206] eben definiert haben: ein Erlebnis, bei dem das authentische Erleben durch keine vorherige verbale Information beeinträchtigt wird.

Die heutige Zeit, das sehen wir nun, ist dadurch gekennzeichnet, daß sie die letzten Reste aller noch bestehenden Mysterien austilgen will. Dies hat zwei Seiten, so wie auch das Mysterium selbst seine zwei Seiten hat. Man hat es bezeichnet als »Mysterium tremendum et fascinosum«, als das ›erschreckende und bestrickende Mysterium‹. Erschreckend ist es darum, weil keine Vor-Orientierung möglich ist, so daß sich der mit dem Erlebnis Konfrontierte unvorbereitet im Neuen, Anderen, vielleicht Überwältigenden zurechtfinden und bewähren muß. Es ist aber auch bestrickend, einmal wegen des Hochgefühls, das solcher Bewährung entspringt, andererseits, und dies ist in unserem Zusammenhang wichtig, wegen der besonderen Art, in der etwas nicht Vorgewortetes erlebt wird.

Um dies genau zu verstehen, müssen wir uns den Mechanismus des Wortens oder Verbalisierens nochmals vergegenwärtigen. Die Sprachwissenschaft hat festgestellt: Die Kategorien der Erscheinungen sind nicht schon von der Natur klar abgegrenzt. Zwar gibt es in der außersprachlichen Welt viele Erscheinungen ähnlicher Art, also Ansätze zu Klassenbildungen. Die endgültige Entscheidung darüber, was zu einer Kategorie gehört, fällt aber erst in der jeweiligen Sprache. Was wir im Deutschen in zwei Kategorien »Dunst« und »Nebel« einteilen,« zerfällt im Englischen in drei, nämlich »haze«, »mist« und »fog«. Solche kategoriellen Unterschiede zwischen den Sprachen bestehen zu Hunderten; sie reichen von den konkretester Erscheinungen (etwa Bezeichnungen von Tieren, z.B. englisch zwei Kategorien: »ape« und »monkey« gegen die im Deutschen alleinige Kategorie »Affe«) bis zu den abstraktesten (zum Beispiel: im Deutschen »Freiheit«, im Englischen dagegen »freedom« und »liberty«). Man kann nicht sagen, daß die eine oder an dere Einteilung »wahrer« oder objektiver sei. Jeder Mensch ist geneigt, die Einteilung, die seine Sprache macht, für die einzig richtige zu halten. Weite Bereiche unseres Erlebens [207] werden von der Sprache gesteuert. Wir neigen zum Beispiel dazu, nur diejenigen Erscheinungen wahrzunehmen, für die unsere Sprache ein Wort hat, und wir ziehen die Grenzen im allgemeinen dort, wo unsere Sprache sie zieht. Neugeprägte Wörter, z.B. »smog« oder »establishment«, lenken unsere Aufmerksamkeit auf Dinge, die es vorher auch gegeben hat, die wir aber praktisch nicht bemerkt haben.

Hieraus geht hervor, daß jedes Erlebnis in hohem Maß von den sprachlichen Mitteln, die dem Erlebenden zur Verfügung stehen, also von dem, was man heute seine sprachliche Kompetenz nennt, beeinflußt ist. Wer in einem bestimmten Gebiet eine reiche Terminologie besitzt, von dem kann angenommen werden, daß er dieses Gebiet auch differenzierter erlebt. Wer über die kunstgeschichtlichen Wörter »Risalit«, »Lisene«, »Pilaster«, »Tympanon« aktiv verfügt, der nimmt eine Gebäudefassade anders wahr als einer, dem diese Ausdrücke nicht zur Verfügung stehen. Aber nicht nur für den Spezialisten, für jeden Menschen verändert sich eine Erfahrung, wenn er sie in Sprache umsetzt (»wortet«, »verbalisiert«). Sie hört auf, eine Einheit und Einmaligkeit zu sein; vielmehr wird sie aufgelöst (analysiert) in so und soviel Einzelteile, je nach der Zahl der gebrauchten Wörter und Konstruktionen; diese Einzelteile lassen sich mit anderen, schon bekannten der gleichen Sorte in Zusammenhang bringen. Das Erlebnis wird zerlegt in Konzepte oder, wie man auch sagt, konzeptualisiert.

Was geschieht dadurch? In positivem Sinne: Wir können das Erlebnis bewältigen, das uns andernfalls möglicherweise überwältigt hätte. Es steht uns nicht als Knäuel, als Komplex gegenüber, sondern als eine gegliederte Struktur, über die wir nachdenken, die wir vergleichen, an die wir uns bewußt und willentlich erinnern können. Es ist ganz sicher, daß die Verbalisierung von erschütternden Ereignissen den Menschen entlasten, ja ihm zur Rettung gereichen kann. Man denke an die Psychoanalyse, die ja im Prinzip nichts anderes ist als ein kunstvoll geförderter Verbalisierungsprozeß. Ganz allgemein kann die Verbalisierung eine Erfahrung reicher und menschlicher machen.

[208] Diese positive Seite ist bekannt und soll hier nicht in Frage gestellt werden. Wir müssen aber auch die problematischen Aspekte der Verbalisierung betrachten. Sobald ich ein Erlebnis in Worte fasse – es ist dazu nicht einmal notwendig, daß ich darüber spreche, es genügt, wenn ich die zugehörigen sprachlichen Ausdrucksmittel latent besitze – tritt der bereits beschriebene Zergliederungs- und Vergleichseffekt auf. Was ein völlig einmaliges Ganzes hätte sein können, wird zu einer Summe von bereits bekannten Teilen. Jede Verbalisierung, sei sie auch noch so subtil, wird dem Erlebnis nicht ganz gerecht, raubt den Dingen etwas von dem, was Aldous Huxley (in »The Doors of Perception«) nach Meister Eckhart ihre »Istigkeit« genannt hat.

Man muß sich darüber Rechenschaft geben, daß die Sprache sehr viel stärker ist, als wir gemeinhin annehmen. Was die Sprache uns suggeriert, zum Beispiel, daß die Sonne aufgehe, hält sich oft jahrhundertelang gegen jede wissenschaftliche Erkenntnis. Es wäre deshalb völlig verkehrt, das authentische Erlebnis für das stärkere, das (bloß) sprachlich vermittelte (also das Hörensagen) für das schwächere zu halten. »Gute« Pornographie ist für viele Menschen um vieles wirksamer als die authentische sinnliche Realität. So wie Angst mit Worten vertrieben werden kann, kann sie auch allein mit Worten erzeugt werden. Ja, die durch Worte geschürte Angst ist oft schlimmer als die durch eine reale Situation erzeugte. Nicht von ungefähr hat der Sprachkritiker unter den neueren Schriftstellern, Peter Handke, den »Ritt über den Bodensee« zum Titel eines Bühnenstückes gewählt: Die Bedeutung des alten aber immer noch bekannten Gedichtes von Gustav Schwab liegt ja gerade darin, daß der Reiter nicht durch die reale Gefahr getötet wird, sondern durch die gewortete. In »A High Wind in Jamaica« von Richard Hughes finden sich mehrere Episoden, in denen das sprachliche Verhalten von Kindern offenbar wird. Eine Abschiedsszene wird zum Beispiel von einem Kind erst als solche empfunden, als ihm einfällt, »that this was a parting«, ›daß dies ein Abschied war‹. Aber auch jeder Erwachsene wird sich an Situationen [209] erinnern, wo ein Zorn, ein Verlust, eine Freude, ein bestimmtes Erlebnis überhaupt, erst durch die Fassung in Worte gefühlsmächtig wurde.

Daß die Sprache etwas vom Wichtigsten ist, was der Mensch besitzt, daß der Mensch erst durch sein spezifisches Sprachvermögen zum Menschen wird, wissen wir. Aber in der aufklärerischen Freude über die Leistungen der Sprache sind ihre problematischen Seiten lange übersehen worden. Jedenfalls werden diese heute, wo ein Übermaß von sprachlichem Erleben auf Kosten des authentischen vorliegt, stark empfunden, und es hat sich eine neue Sprachkritik angebahnt, die radikaler ist als die bisherige, weil sie nicht einzelnes an der Sprache, sondern die Sprache als Ganzes für problematisch ansieht.

An wichtiger und wohl auch zeitlich an erster Stelle stehen hier Zeugnisse von Dichtern, die den Prozeß des Wortens aus nächster Nähe miterlebt haben. Angelus Silesius schreibt schon 1657:


Gott ist so über alls, daß man nicht sprechen kann:

Drum betest du Ihn auch mit Schweigen besser an.


Die Zeugnisse häufen sich, je näher wir unserer Zeit kommen. Walt Whitmans Gedicht »When I heard the learn'd astronomer« (vor 1867) spricht von dem plötzlichen Ekel, der den Dichter bei einem gelehrten Vortrag über die Sterne befällt: er verläßt den Saal, läuft ins Freie,


and from time to time,

Look'd up in perfect silence at the sky.


Wichtig ist dabei, daß er den Himmel wortlos betrachtet, und damit sozusagen wieder gutmacht, was der Gelehrte durch sein Worten den Sternen angetan hat.

Am eindrucksvollsten ist das, worum es hier geht, bei Hugo von Hofmannsthal ausgesprochen, ausführlich und in Prosa im »Brief des Lord Chandos« (1902), beiläufig aber unüberhörbar [210] in der Komödie »Der Schwierige« (1919) und dichterisch zusammengefaßt in einigen Zeilen aus »Der Tor und der Tod« (1893):


Wenn ich von guten Gaben der Natur

Je eine Regung, einen Hauch erfuhr,

So nannte ihn mein überwacher Sinn,

Unfähig des Vergessens, grell beim Namen.

Und wie dann tausende Vergleiche kamen,

War das Vertrauen, war das Glück dahin.


Diese Zeilen Claudios beschreiben die Situation eines Menschen, dem zu jeder »Regung« bereits die Worte bereitstehen; die Worte aber führen zum Vergleichen und damit aus der Einmaligkeit und Ganzheit des Erlebnisses hinaus. Eine Kette von Enttäuschungen ist die Folge, und daraus erwächst für Claudio das Gefühl, überhaupt nicht wirklich gelebt zu haben.

Es ist möglich, daß eine ganze Reihe von Zeiterscheinungen, die wir noch nicht richtig zu deuten vermögen, auf ähnliche Enttäuschungsgefühle mit ähnlichen Gründen zurückgehen. An folgendes ließe sich denken:


– Das fast hektische Mißtrauen mancher heutigen Menschen gegenüber der Sprache, die ihnen als falsch, lügnerisch oder durch geschichtliche Ereignisse verdorben gilt. Damit im Zusammenhang: Das Streben nach einem absichtlich primitiven, undifferenzierten Kurzschluß-Vokabular.

– Die sehr verbreitete Hinwendung zu den (östlichen) Techniken der sprachlosen Schau: Yoga, Zen und anderen Meditationslehren.

– Das Verlangen nach wortlosen Künsten: Wiederbelebung des Stummfilms (»Der Tod in Venedig«), Eroberung des Theaters durch die Pantomime, Musikberieselung, die das Sprechen unmöglich oder unnötig macht.

– Die Drogen. Sie geben Zugang zu einem Erlebnisbereich, dem gegenüber die Sprache versagt, der also nicht vorher zerredet [211] werden kann. Eine der wichtigsten Wirkungen mancher Drogen besteht offenbar darin, daß die Konzeptualisierung, also der durch die Sprache bewirkte Analysierungs- und Vergleichsvorgang, rückgängig gemacht wird, so daß die Dinge wieder in ihrer ursprünglichen »Istigkeit« hervortreten. So mindestens schildert es Aldous Huxley, der in seiner Schrift »The Doors of Perception« (1954) über seine Experimente mit Mescalin berichtet. Immer wieder meldet er dem Beobachter, der ihn über seine Wahrnehmungen befragt: »nothing in particular ... it just is«. Und der Gartenstuhl mit den darauf-fallenden Schatten, für den Nüchternen als bestimmter Gegenstand mit bestimmtem Zweck eingeteilt und abgetan, wird für den Berauschten zu einem wundervollen selbstgenügsamen Muster von Formen und Farben.


Vermutlich ließen sich noch andere zeitgenössische Erscheinungen in diesem Zusammenhang nennen. So könnte zum Beispiel das vielbesprochene und einstweilen rätselhafte Phänomen der »schweigenden Mehrheit« aus einer Abneigung gegen die Sprache, »die ja doch alles verdirbt«, gedeutet werden.

Natürlich ist es unmöglich, hier so etwas wie eine radikale Umkehr zu wollen. Unsere Sprachgewohnheiten lassen sich nicht ohne weiteres verändern, und sich sprachlich einzuschränken, auf eine Mitteilung zu verzichten, erscheint den meisten von uns wie das Aufgeben einer kostbaren Freiheit. Es ist also kaum zu hoffen, daß durch das »Umlegen eines Hebels« an irgendwelcher zentraler Stelle alles in Ordnung zu bringen sei. Hingegen ist es durchaus möglich, in kleinen Schritten vorzugehen, also in einzelnen gegebenen Fällen anders zu reden, als unser erster Impuls es uns heißen möchte.

Ein Vater sollte zum Beispiel einsehen, daß er etwas Unrechtes tut, wenn er vor Weihnachten seinem Kind über das zu schenkende Buch oder Spielzeug in allen Einzelheiten berichtet.

Wenn jemand im Begriff ist, in ein fernes Land zu reisen, soll sich sein Freund, der dieses Land schon kennt, hüten, ihm alle möglichen Schönheiten und Sehenswürdigkeiten vorwegnehmend [212] zu erklären. Am Platz sind allenfalls einige kleine Reisetips: Wo man merklich billiger und ebenso gut zu essen bekommt, wie man den Weg nach X. leichter findet; Dinge also, die in einem oder zwei Sätzen gesagt werden können.

Vielleicht wird auch die Werbung wieder etwas zurückhaltender werden und uns zwar weiterhin Reisefreuden versprechen, aber wenigstens die Empfindungen, die wir dabei haben werden, nicht mehr so kraß vorwegnehmen wie heute. Es ist weiter zu hoffen, daß eine Institution rückgängig gemacht wird, die sich an unseren Universitäten in den letzten zwanzig Jahren entwickelt hat: die systematische und umfassende Vor-Information des Anfängers über sein Studium. Früher war der Student zu bedauern: Er wußte nicht, wie und bei wem er überhaupt studieren sollte, und mußte darum lange und mühsam suchen, bis er seinen Weg gefunden hatte. Heute dröhnt man ihm gleich am Anfang seiner Universitätsszeit die Ohren voll, was er zu tun habe, und füttert ihn mit Tips aller Arten, so daß er nicht mehr »self directed« sondern »other directed« an sein Studium herangeht, seine Selbständigkeit nicht entwickeln kann und darum noch viel mehr zu bedauern ist als sein Vorgänger von der früheren Generation.

Ganz allgemein werden wir uns in jedem einzelnen Falle fragen müssen, ob die Vor-Information, die wir einem Mitmenschen über sein kommendes Erlebnis zu geben gedenken, für diesen wirklich notwendig ist, und ob sie ihm nicht die authentische Freude, wenn es so weit ist, verderben wird.

Nicht nur der Produzent von Vor-Information sollte sich zurückhalten, sondern auch der Konsument. Junge Menschen, die im Sinn haben, zum ersten Mal miteinander zu Bett zu gehen, sollen sich hüten, sich mit Magazinen darauf vorzubereiten – sie würden sich um die Hälfte der Freude bringen.

Und ein Studienanfänger sollte wieder den Mut haben, die ihn umschwirreden guten Ratschläge zu vermeiden; er wird zwar wertvolle Zeit verlieren, aber wertvollere geistige Selbständigkeit gewinnen.

Wir sind heute so erzogen, daß wir in unserer Gesellschaft [213] demjenigen mehr Prestige verleihen, der über vergangene und künftige Erlebnisse viel und geläufig zu reden versteht. Vielleicht wird es auch hier notwendig, ein Gegengewicht zu geben, indem wir denen, die nicht alles gleich in geschickte Reden umsetzen können, mehr Interesse und Respekt entgegenbringen, uns im wortlosen Schauen besser üben und uns schärfer als bisher gegen hastiges klischeehaftes Aburteilen wehren.

Auf längere Sicht sollten wir nur solchen Utopien, Programmen und Religionen Glauben schenken, in denen noch Raum ist für das Mysterium, also das Unbesprochene, nicht zu Besprechende.


ZU BEACHTEN


Heute leiden wir ganz allgemein an Über-Information.


Ein guter Teil des Mißmuts der heutigen Kulturmenschen kommt daher, daß man ihnen über das, was sie zu erleben im Begriffe sind, schon vorher schriftlich oder mündlich alles erzählt, so daß sie nicht mehr spontan erleben können.


Wir müssen uns also einschränken, und zwar sowohl als Produzenten wie als Konsumenten von Information.


Wenn unser Freund auf eine Reise geht, sollen wir ihm nicht vorerzählen, was ihn im anderen Land erwartet. Er muß spontan erleben können. Eine Handvoll nützlicher Tips, wie man Geld oder Zeit sparen kann, ist das Maximum dessen, was man ihm an Information mitgeben soll.


Die sexuelle Aufklärung hat ihr Optimum längst überschritten. Heute sollte man sie nicht mehr vermehren, sondern abbauen, denn sie vermindert die Freude und fördert Enttäuschungen.


Der potentielle »Konsument« von Information soll alles zurückweisen, von dem er annehmen muß, daß es sein authentisches Erlebnis stören wird.

Fußnoten

1 Mehr über das »Lieben nach Texten« in E. Leisi, Paar und Sprache, Heidelberg, 3. Aufl. 1990, S. 87.


Quelle:
Leisi, Ilse und Ernst: Sprach-Knigge oder Wie und was soll ich reden? Tübingen 21993.
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