Viertes Kapitel

[36] Fünf Tage lang war ich im lieben Vaterhause gewesen und von der Not kaum wieder ein wenig zur Besinnung gekommen, als schon wieder ein neuer Unglücksstern über mir aufging. Denn da hieß es: Die Unteroffiziere von unserm Bataillon, welches damals seine Winterquartiere in Torgau hatte, hätten sich bei uns eingefunden, um frische Rekruten in diesem ihrem Kanton auszuheben. Eine Schreckenszeitung für alle Eltern jener Zeit sowie für alles junge Volk, das eine Flinte schleppen konnte und nicht mochte!

Diese entschiedene Abneigung des Bürgers gegen den Soldatenstand hatte aber auch ihre genugsame Rechtfertigung in der heillosen und unmenschlichen Art, mit welcher die jungen Leute beim Exerzieren zumal von den dazu angestellten Unteroffizieren behandelt wurden. Unter den Fenstern ihrer Eltern selbst, auf öffentlichem Markte wurden sie von diesen rohen Menschen bei solchen Einübungen mit Schieben, Stoßen und Prügeln auf das grausamste gemißhandelt, oft nur, um ihre neue Autorität fühlen zu lassen, oft aber auch wohl in der eigennützigen Absicht, um von den Angehörigen Gaben und Geschenke zu erpressen. Es war ein kläglicher Anblick, wenn die Mütter bei solchen Auftritten in Haufen daneben standen, weinten, schrien, baten und von den Barbaren rauh und unsanft abgeführt wurden. Klagen bei den Obern fanden nicht statt oder wurden verspottet; denn diese dachten wie ihre Untergebenen und sahen mit kalter Geringschätzung auf alles herab, was nicht den blauen Rock ihres Königs trug.

Wenn nun schon unsre Bürgersöhne sich damals so ungern unter die militärische Fuchtel beugten, so wird es um so begreiflicher, daß insonderheit die jungen Seefahrer unter ihnen diesen Abscheu in noch verstärktem Maße bei sich empfanden, je früher sie bereits auswärts die goldne Freiheit gekostet hatten und je weniger überhaupt ihre Hantierung mit dem harten und gezwungenen Soldatendienste übereinstimmte. Wer es also irgend vermochte, entzog sich dieser Sklaverei lieber durch die Flucht ins Ausland und ging dadurch dem Staate gewöhnlich für immer verloren. Aber auch der Handelsstand hat es stets schmerzlich empfunden, der sich nun für die Schiffahrt oft mit den untauglichsten Leuten behelfen mußte.[36]

Hätte ich selbst nicht auch jenen Widerwillen gegen ein so gebundenes Leben so lebhaft gefühlt als irgendeiner unter meinen Seekameraden, so durfte ich mich doch schon um meiner kleinen Statur willen nicht tauglich zu einem regelrechten Soldaten halten, und darum stand mir's auch nie zu Sinn, meinem großen Friedrich, so sehr ich ihn auch verehrte, in Reih und Glied und mit dem Schießprügel auf der Schulter zu dienen. Denke man sich also meinen Schreck, als ein gutmeinender Freund unter dem angekommenen Werberkorps (er hieß Lemcke) meinem Vater insgeheim vertraute: sämtliche junge Burschen in der Stadt von vierzehn Jahren und drüber wären bereits notiert und um elf Uhr würden die Tore geschlossen, die brauchbarsten darunter aufgegriffen und gleich mit dem nächsten Morgen nach Sachsen auf den Transport gegeben werden.

Jetzt war es neun Uhr morgens. Hier galt es demnach kein Säumen; ich sollte vorerst nach der Münde flüchten und mich dort verbergen. Nur zu bald kam auch dorthin das Geschrei, daß alle Vorhersagungen meines Warners pünktlich eingetroffen und das Ordonnanzhaus bereits voll von neuen Rekruten stecke. Mein Vater ließ mir durch eine vertraute Frau sagen, daß auch bei ihm genaue Haussuchung nach mir geschehen sei. Ich möchte mich daher ungesäumt aufmachen und zwei Meilen weiter am Strande entlang im Dorfe Bornhagen bei einem mir namhaft gemachten Bauer, dem zu trauen sei, eine einstweilige Zuflucht suchen. Doch dieser gute Rat kam leider zu spät; mein Aufenthalt war schon verraten!

Gleich am Nachmittage zeigten sich jene Werber überall auf der Münde und umringten das Haus, worin ich steckte, von allen Seiten. Ich gewann nur die Zeit, mich auf den stockfinstern Boden zu flüchten, wo ich in der Angst ein großes Fischernetz, das an den Sparren umher hing, über mir zusammenzog, so daß ich meist darunter verdeckt lag. Kaum war dies geschehen, so rührte sich auch etwas auf der Leiter, die unter das Dach hinaufführte. Es war der Unteroffizier Schnell, der nun sein Seitengewehr zog und mit der Spitze desselben in alle Winkel blind umhertastete. So ging er rund um mich und mein aufgetürmtes Netz umher, ohne mich darunter zu ahnen; obwohl es mir nicht ganz den Kopf verdeckte und mir dadurch Gelegenheit gab, seine Bewegungen einigermaßen zu beobachten. Ich darf aber wohl sagen, daß mir dabei gar unheimlich zumute war. Indes fand er mich nicht, und auch unten im Hause ward ich standhaft verleugnet.

Nun war hier aber auch meines Bleibens nicht länger! Kaum graute der Abend, so machte ich mich in Gottes Namen zu meinem Bauer auf den Weg, nachdem man mir einen tüchtigen Schiffshauer zu meiner Sicherheit mitgegeben – weniger vor meinen Verfolgern als um mich im Stadtholze, welches ich passieren mußte, der Wölfe zu erwehren, die damals an Menschen und Vieh viel Unglück anrichteten. Wirklich auch war es ein wahres Wolfswetter mit[37] Sturm und Schneegestöber, und Gott weiß, wie blutsauer mir dieser Weg geworden; denn unzählige Male brach das Eis unter mir ein, oder ich versank im Schnee, daß ich vollauf zu tun hatte, um nur allemal wieder auf die Beine zu kommen. Endlich am Morgen erreichte ich meine Freistatt und hielt mich dort zehn oder zwölf Tage verborgen. Aber diese deuchten mir bald wie eine halbe Ewigkeit; ebensowohl wegen des ganz ungewohnten Einsitzens als wegen der ermangelnden Zeitungen von Hause; bis mich's nicht länger ruhen ließ, und ich mich eines Abends wieder aufmachte, um in meinem alten Quartier auf der Münde nachzufragen, ob ich mich wohl mit einiger Sicherheit wieder zeigen dürfte.

Hier lauteten indes die Nachrichten so wenig tröstlich, daß mir nur die sorgfältigste Verbergung übrigblieb. Doch wollte ich nicht gern von der Münde weichen, weil nächstens die Schiffahrt wieder aufgehen konnte, und ich dann hier bei der Hand war, um mit irgendeinem absegelnden Schiffe zu entkommen. Mit einem ähnlichen Plane trugen sich noch mehrere meiner jungen Kameraden; allein eben darum waren wir auch um so gewisser bereits nach einigen Tagen verraten, und eine neue Nachjagd ward auf uns begonnen. Mitten in der Nacht erweckte mich ein leises Klopfen an den Fensterladen des Kämmerchens, wo ich schlief, und die bekannte Stimme einer getreuen Frauensperson rief mir zu: »Joachim. auf! Auf aus den Federn! Die Soldaten sind wieder auf der Münde! Den und den und den (die sie mir bei Namen nannte) haben sie schon beim Flügel gekriegt. Mach, daß du davon kommst!«

Man glaubt mir es wohl, daß ich flugs und mit gleichen Füßen aus dem Bette sprang. In der Bestürzung griff ich nach den ersten, den besten Kleidern, die auf den Stühlen umherlagen, und die ich für die meinigen hielt. So stahl ich mich alsobald und im Hemde auf die Straße hinaus, schüttelte meinen Fund auseinander, um mir davon etwas über den Leib zu werfen, und bemerkte nun erst mit Schrecken, daß mir nichts als Frauenkleider in die Hände gefallen waren. Was blieb zu tun? Ich warf mir einen roten Friesrock über die Schultern und war im Begriff, mich mit dem Reste noch besser auszustaffieren, als ich in meinem Anputzen häßlich gestört wurde.

Es waren die Herren Soldaten, die kaum zehn Schritte von mir um eine Ecke bogen. Ich suchte mein Heil in der Flucht; aber eben dadurch verriet ich mich und hatte alsobald meinen alten Widersacher Schnell nebst noch ein paar andern auf der Ferse hinter mir. Mein Lauf ging geradewegs nach einem im Hafen liegenden Schiffe zu, an dessen Bord sie mir nicht so hurtig nachfolgen konnten. Zu meinem Glücke lag an der andern Seite des Schiffes ein Boot befestigt. Ich sprang hinein, fand sogar ein Ruder darin vor, löste das Tau, stieß ab und ließ jenen in eben dem Augen blicke das Nachsehn, als auch sie endlich das Verdeck erreicht hatten.

Jenseits, in der Maikuhle, ging ich an Land und überlegte nun etwas ruhiger,[38] was weiter zu tun sei. Ich befand mich so gut als nackend in einer bitterlich kalten Märznacht und mußte vor allen Dingen meine Blöße zu decken suchen. Also wanderte ich getrost zu der nächstgelegenen Holzwärterei Grünhausen, klopfte den Bewohner (er hieß Krössin) hervor, gab mich zu erkennen und bat um Aufnahme. Seine abschlägige Antwort durfte mich nicht befremden, da es derzeiten hart verboten war, Flüchtlinge meiner Art zu hegen, die vielmehr sofort angehalten und ausgeliefert werden sollten. Ich beschränkte demnach meine Bitten auf irgendeine Kopfbedeckung und ein Paar Strümpfe. Der ehrliche Kerl reichte mir seine Schlafmütze vom Kopf und ein Paar hölzerne Pantoffeln von seinen Füßen und fügte den Rat hinzu, mich eiligst zu entfernen, weil es auch bei ihm nichts weniger als sicher sei, da er gleichfalls einen Sohn im Hause habe, dem, obwohl er krank und elend sei, von den Soldaten nachgetrachtet werde.

So aufs abenteuerlichste ausstaffiert, begab ich mich nach der Maikuhle zurück, um eine anderweitige Zuflucht aufzusuchen. Es stand dort, wie ich wußte, ein alter Schiffsrumpf hoch auf dem Strande, der im Sommer als ein Bierschank benutzt zu werden pflegte. An diesem kletterte ich hinan, stieg oben durch das Rauchfangloch und duckte mich da vor der Kälte in einen Winkel zusammen. Darüber ging endlich die langweilige Nacht zu Ende. Mit dem ersten Dämmerungsstrahl glosterte ich von meiner Hochwarte herab überall umher, und da nach der Münde hinaus alles ruhig schien, so wagte ich mich hervor, suchte mein verlassenes Boot wieder auf und ruderte mich leise zu einem Schiffe heran, das nach Königsberg gehörte und von Schiffer Heinrich Geertz geführt wurde. Dieser gute Mann nahm mich willig auf und hielt mich länger als vierzehn Tage bei sich verborgen.

Dennoch konnte hier meines Bleibens nicht ewig sein. Es war mir daher eine erwünschte Zeitung, daß ein Kolberger Schiffer, namens Martin Albrecht, der dicht neben uns vor Anker lag, am nächsten Morgen mit Ballast nach Danzig auszugehen gedenke. Zu diesem Schiffe führte mich um Mitternacht mein Freund Geertz in aller Stille. Meine ganze Reiseausrüstung bestand in einem Bündelchen mit Hemden und andern kleinen Notwendigkeiten, welches meine Muttee mir unter der Hand zugeschickt hatte. Sobald ich an Bord hinübergestiegen war, dankte ich meinem freundlichen Beschützer zum Abschied mit einem warmen Händedruck, bat ihn, meinen besorgten Eltern meinen Gruß und Lebewohl zu bringen, und ließ nunmehr meinen guten oder bösen Stern weiter walten.

Auf dem Schiffe war alles still. Niemand hatte mich wahrgenommen. Ich öffnete die vordere Kabelgatsinke, rutschte hinunter, machte die Luke hinter mir zu und suchte mir auf den Tauen und Segeln, die hier verwahrt lagen, ein Ruheplätzchen. Bald aber überlegte ich, daß dieses Versteck mit Tagesanbruch auch sofort von Menschen wimmeln würde, die zu der vorhabenden Abfahrt[39] Segel und anderes Zubehör daraus hervorlangten, wo es denn garstig für mich ablaufen könnte. Ich versuchte es also, mich durch tausend Gegenstände, die sich mir hindernd in den Weg stellten, tiefer in den Raum hinab zu minieren. Es glückte mir endlich damit; aber zu gleicher Zeit hörte ich hinter dem Ballast etwas rasseln und flüstern, das mir unheimlich vorkam. Gleichwohl kroch ich noch weiter heran und unterschied bald menschliche Stimmen, die mir, je länger ich sie behorchte, um so bekannter vorkamen. Kurz, es gab hier eine ganz unvermutete Erkennungsszene zwischen mir und elf andern jungen Seekameraden, welche gleiche Not und gleiche Hoffnung hierher zusammengebracht hatte.

Für den Augenblick hielten wir uns zwar geborgen; aber unter Furcht und Zagen hatten wir nun zu erwarten, ob das Schiff vor seiner Abfahrt nicht nach uns Flüchtlingen visitiert werden dürfte. Inzwischen brach der Tag an, und am Borde ward es über unsern Köpfen lebendig. Wir unterschieden deutlich, wie man Anstalten machte, in See zu gehen; ja, ein wenig später spürten wir mit steigender Freude das Schiff in Bewegung, dann das Anschlagen der Brandung an die Seitenborde und endlich auch den Abgang des Lotsen, der uns zum Hafen hinaus begleitet hatte. Da auch der Wind gut sein mußte, so glaubten wir nach Verlauf von noch einer Stunde weit genug von Kolberg, das uns ein Schreckensort geworden, entfernt zu sein, um uns wieder ans Tageslicht hervorwagen zu dürfen. Wir setzten also die Leiter an, schoben die große Luke auf und traten wohlgemutet auf das Verdeck hervor.

Das Erstaunen des Schiffers über unsern unerwarteten Anblick kannte keine Grenzen; aber auch von seinem Volke mußten selbst die, welche vielleicht um das Geheimnis wußten, sich billig verwundern, daß wir uns ihnen unter den Händen in unsrer Anzahl verdoppelt hatten. Eines besonders freundlichen Empfangs hatten wir uns indes nicht zu rühmen. Der Kapitän, der nur seine schwere Verantwortlichkeit erwog, tobte wie besessen. »Könnte ich nur gegen den Wind ankommen«, rief er, »ich brächte euch alle auf der Stelle nach Kolberg zurück und machte rein Schiff. Aber ich weiß darum wohl, wohin ich euch abzuliefern habe.« – Zugleich verbot er seinen Leuten aufs strengste, sich um uns zu kümmern und uns Essen oder Trinken zu reichen.

Zwar ward es mit diesem Befehl nicht so gar genau genommen, und unsere Freunde steckten uns immerfort etwas von ihren Mundportionen zu; allein da wir volle acht Tage in See blieben, so litten wir gleichwohl grausamen Hunger und Durst, und waren darum von Herzen froh, als endlich die Anker im Danziger Fahrwasser fielen. Hier deutete der Schiffer seiner Mannschaft in unsrer Gegenwart (und also auch wohl nicht ohne geheime Absicht) an: er gehe in diesem nämlichen Augenblicke an Land und nach Danzig zum preußischen Residenten, um ihm uns Deserteure anzumelden und uns in seine Hände zu überliefern. Bis dahin sollten sie uns an Bord festhalten und mit Leib und Leben[40] für uns einstehen. Vergeblich wandten sie ihm ein: die Partie sei gar zu ungleich, da ihrer nur fünf Mann, wir aber zwölf Köpfe stark wären. – »Was kümmert's mich?« war seine Antwort – »und wenn es auch Mord und Totschlag gibt, so laßt sie nicht laufen!«

Das hieß nun wohl deutlich genug: immerhin, laßt sie laufen! – Kaum hatte er auch nur den Rücken gewandt, so machten wir uns zum Abzuge fertig. Zum Schein gab es zwischen uns und dem Schiffsvolk ein unbedeutendes und unblutiges Handgemenge, worauf wir unsers Weges gingen, uns sofort über die Weichsel setzen ließen und längs dem Seestrande die Richtung nach Königsberg einschlugen. So mochten wir ein paar Stunden wacker zugeschritten sein, als wir den Weg zu beschwerlich fanden und darum gern auf den Vorschlag einiger Gefährten hörten, die ihn früher schon mehrmals gemacht hatten und das Fortkommen an der andern Seite der Nehrung längs dem Frischen Haff als angenehmer und gemächlicher priesen. Sogleich schlugen wir uns nach dieser Seite hinüber und entgingen dadurch, ohne es zu ahnen, einer Gefahr, die das bisherige Spiegelfechten leicht in bittern Ernst verwandelt haben würde.

Denn seinerseits hatte der Kapitän in Danzig nicht umhin gekonnt, seine Pflicht zu tun. Wir waren gesucht, vermißt und auf fernere Anzeige bei der Ortsobrigkeit sofort verfolgt worden. Ein Kommando von einigen Danziger Stadtdragonern setzte uns längs dem Seestrande nach und würde uns gar bald eingeholt haben, wenn wir uns nicht bereits landeinwärts gelenkt hätten. So verfehlten sie uns und kehrten unverrichteter Dinge nach Danzig zurück, während wir ohne weitere Anfechtung Königsberg erreichten und vor weiterer Entdeckung sicher, uns im Gewühl dieses lebendigen Handelsplatzes verloren.

Es traf sich sehr gelegen, daß es hier bei eben wieder eröffneter Schiffahrt Mangel an unterrichteten Seeleuten gab, die als Steuerleute gebraucht werden konnten. Daher währte es nicht zwei oder drei Tage, daß wir uns nicht samt und sonders und meist in jener Eigenschaft mit Vorteil angebracht hatten. Ich selbst fand einen Platz als Steuermann auf einer kleinen Jacht von fünfzig Lasten und fünf Mann Equipage. Mein Schiffer hieß Berend Jantzen und war mit einer Ladung Hanf nach Irwin in Westschottland bestimmt, sollte aber, um die französischen Kaper zu vermeiden, oben herum durch die Nordsee und die Orkaden steuern.

Wir gingen unter Segel; aber schon im Sunde erlebten wir das Unglück, daß das eiserne Band eines Wasserfasses beim Zerspringen dem Schiffer von hinten gegen die Wade schlug und dadurch das Bein so heftig gegen eine scharfe Holzecke schleuderte, daß wir ihn in die Kajüte tragen mußten, und er an dem Schaden mehrere Monate lang das Bett zu hüten hatte. Da nun er so wenig als einer unsrer Matrosen, an welchem sich bald ein venerisches Übel offenbarte, auf dem Deck ausdauern konnte, unser Schiffsjunge aber (eigentlich ein verdorbener[41] Tischlergesell) bei dem geringsten Sturmwetter mit Seekrankheit zu tun hatte: so beruhte nunmehr die Führung des Schiffes einzig auf mir und einem Matrosen, und ich darf wohl gestehen, daß mir bei der Sache nicht gar zu wohl zumute wurde.

In der Tat gehört auch die Schiffahrt in diesen Gegenden zwischen Schottland und der Insel Lewis und den übrigen zahlreichen Hebriden hin zu den gefährlichsten, die es geben kann; – nicht nur des engen Fahrwassers zwischen den Inseln und der vielen Klippen wegen, sondern hauptsächlich, weil hier so starke Strömungen gehen, daß es oft überall brandend aufschäumt und nicht anders aussieht, als ob alles rings umher dicht mit blinden Klippen besäet wäre. Noch unglücklicher aber ist es, daß die holländischen Seekarten, deren wir uns damals allein bedienen konnten, hier durchaus unzuverlässig sind und jeden Augenblick irreführen. Das begegnete denn auch mir, und so darf man sich denn nicht wundern, daß ich hier endlich gar nicht mehr aus oder ein wußte.

In dieser Bedrängnis kam uns ein englisches Schiff zu Gesicht, welches zwischen zwei hohen Landspitzen hervorsegelte, und von welchem ich richtigeren Bescheid zu erlangen hoffte. In dieser Absicht richtete ich die Segel nach jener Seite hin, indem ich zugleich die preußische Flagge aufsteckte, welche bekanntlich weiß ist und in der Mitte den schwarzen Adler führt. Aber auch die französische Flagge ist von weißer Farbe, und da sich bei dem mäßigen Winde die meinige zu wenig entfaltete, um den Adler anstatt der Lilien erblicken zu lassen, so ward ich von den Engländern für einen französischen Kaper angesehen, und er setzte bei dem stillen Wetter so viel Segel auf, als sein Schiff nur tragen konnte, um mir zu entgehen. Ich tat desgleichen, um Jagd auf ihn zu machen, und so machten wir uns beiderseits Not und Mühe, bis zuletzt nachmittags der Wind völlig erstarb, als ich nur noch eine kleine Viertelmeile von dem Flüchtling entfernt war.

Meinen Zweck verfolgend, setzte ich nunmehr mit Hilfe meines Matrosen und des Jungen die Jolle aus und ließ mich von ihnen an den jenseitigen Bord hinüberrudern. Als Vorwand meines Besuchs sollte mir ein mitgenommenes lediges Wasserfaß und die kleine Notlüge dienen, daß uns unser Trinkwasser ausgegangen. Wir kamen dem Schiffe auch glücklich zur Seite, wo wir mit Verwunderung alles zum Gefechte in Bereitschaft fanden, während sie selbst beim nähern Anblick von uns drei Köpfen über ihre ausgestandene Furcht lachen mußten.

Meine Bitte um frisches Wasser schien unverdächtig und fand willigen Eingang. Unter der Zeit aber, daß es gezapft und in mein Faß übergefüllt wurde, nahm ich die Gelegenheit wahr, ganz unbefangen nach dem Namen dieses und jenes Landes, das uns eben im Gesicht lag, zu fragen. So erfuhr ich, daß dort hinaus Kap Cantrie, hierwärts aber die Insel Lamlach gelegen sei. Ich war[42] nun zu meiner großen Beruhigung wieder orientiert, ohne mir die arge Blöße gegeben zu haben, meine Unwissenheit einzugestehen; ebensowenig aber mochte ich mir auch die Schande antun, mich hier für einen Steuermann halten zu lassen. Dennoch möcht' ich unter meinesgleichen immer noch nicht der Dümmsten einer gewesen sein, und wenn man bedenkt, daß ich damals noch keine zwanzig Jahre zählte und mir meinen Mangel an Erfahrung billigerweise zugute hält, so wird auch unter den angeführten Umständen selbst das Urteil des gewiegteren Seemanns schonend genug für mich ausfallen.

Irwin, unser Bestimmungsort, liegt im Grunde einer tiefen, runden Bucht, in welche, als wir ihre Höhe erreichten, ein Sturm aus Nordwest gerade hineinblies. Da sie mir durchaus unbekannt war, bekanntlich aber schlechten Ankergrund hat, so wäre es verwegen gewesen, mich bei diesem Winde und Wetter in sie hineinzuwagen. Ich steuerte also gegen die Insel Arron, um dort vielleicht eines Lotsen habhaft zu werden; allein vergebens kreuzte ich zwei Tage umher. Meine weiße Flagge spielte mir abermals den Streich, daß alles auf der See vor mir floh, und vom Lande niemand sich zu mir heranwagte, weil ich für einen Franzosen gehalten wurde. Zuletzt näherte ich mich dem Strome von Portglasgow, und hier gelang es mir denn, einen Lotsen zu finden, der mich nach Irwin brachte.

Ich berühre es nur kurz, daß wir, nachdem auch unser Schiffer wieder auf die Beine gekommen, von hier mit Ballast und unter neutraler Flagge nach der Insel Noirmoutiers an der westlichen Küste von Frankreich gingen, wo wir eine Ladung Seesalz einnahmen und uns dann nach Königsberg auf den Heimweg machten. Leider konnten wir es im Kanal in der Nähe von Dover nicht vermeiden, nach und nach mit sieben englischen Kapern zusammenzugeraten. Alle diese Schnapphähne – Kerle mit wahren Galgenphysiognomien, stiegen zu uns an Bord und wußten in allem, was ihnen anstand (und ihnen stand fast alles an!), so geschickt reinen Tisch zu machen, daß sie es uns schier unmöglich machten, wieder an Land und zu Leuten zu kommen. Kessel und Pfannen, Tauwerk und losgebundene Segel, Seekarten und Kompaß mußten mit ihnen wandern. Was der eine uns ließ, das nahm der andere. Ja, endlich zogen sie uns sogar die Kleider vom Leibe.

Wir hatten eben Dover gegenüber beilegen müssen, als mir bei dem letzten unerwünschten Zuspruche solcher Art einer von diesen Taugenichtsen, zudringlicher als die übrigen alle, die langen Schifferhosen von den Beinen streifte. Das hätte ich verschmerzen mögen; aber bei der Gelegenheit fiel ihm auch ein Notpfennig von etwa dreizehn Rubeln in die Augen, die ich ins Hemde eingenäht hatte und hier für sicher genug hielt. Kaum aber erreichte der süße Ton des Silbergeklappers sein Ohr, so griff er gierig zu, hieb mit seinem Hauer mir den Hemdzipfel vom Leibe, zählte seine Beute über und trieb die britische Großmut[43] so weit, mir davon einen Rubel zurückzugeben. Dabei verbot er mir, diesen dem Schiffer zurückzustellen, welchem seiner Meinung nach der ganze Fund wohl eigentlich gehören möchte.

Ich aber war über diese Behandlung dermaßen erbittert, daß ich augenblicklich das Ruder aufholte, die Segel abbraßte und, da der Wind südlich war, nach dem Lande zuhielt. »Was soll das bedeuten? Wo hinaus?« fragten die Kerle, die mir auf dem Verdeck am nächsten standen. »Wo hinaus?« antwortete ich von der innern Wut übermeistert. »Geraden Weges nach Dover, wo ihr Schelmgezüchte noch heut am lichten Galgen baumeln sollt!« Flugs kam auf diese Drohung das ganze Pack aus Kajüte, Roof, Kabelgat und Raum, wohin sie sich zum Rauben verteilt hatten, im dichten Kreise um mich her zusammen. Soviel Hände, soviel Pistolen wurden mir auch an den Kopf oder Hauer auf die Brust gesetzt, doch schoß oder stach niemand. Dagegen rissen sie mich bei den Haaren aufs Deck nieder; einige hielten mich an Kopf und Füßen fest, andere schlugen mit den flachen Klingen auf mich drein, daß mir schier Hören und Sehen verging. Endlich wollten doch die Barmherzigsten meine weitere Mißhandlung nicht gestatten, doch ging es nicht ohne einige Fußtritte ab, und einer, der mir nun noch die Stiefeln von den Füßen zog, schlug sie mir zum Beschlusse um die Ohren, zog sie selbst auf der Stelle an und machte sich darauf mit seinen seinen Gesellen, zusammen dreizehn an der Zahl, an Bord ihres Kaperschiffes zurück.

Mein Zustand war so jämmerlich, daß unser Schiffsvolk mich für halbtot in meine Koje trug. Nicht genug aber, daß ich, der ich mich kaum regen konnte, der Regierung des Schiffes abging, sondern nun entstand auch in der nächsten Nacht ein Sturm, gegen den die übrigen sich zu schwach fühlten, die Segel einzunehmen. Dies hatte die Folge, daß bald auch der große Mast brach und mit seiner ganzen Takelage über Bord ging. Nun trieben wir als ein Wrack in der See und hätten wahrscheinlich unsern Untergang gefunden, wenn nicht Tages darauf eine holländische Fischerschut in unsere Nähe gekommen und bereitwillig gewesen wäre, unser Schiff nach dem Texel und von dort nach Medemblyk zu schleppen, wo sich die bequemste Gelegenheit fand, es wieder zu vermasten und in segelfertigen Stand zu setzen.

Als es zugerüstet war, fühlte ich mich noch zu krank und elend, um wieder mit an Bord zu gehen. Ich mußte also in Medemblyk zurückbleiben und begab mich dort zu einem Kompaßmacher, dem ich seine Kunst gründlich ablernte, und diese ist mir in der Folge von großem Nutzen gewesen. Zugleich schrieb ich in meine Heimat und erhielt auch bald eine Aufforderung von meinem Vater, ungesäumt nach Kolberg zurückzukommen. Die Gefahr, zum Soldaten ausgehoben zu werden, sei jetzt nicht zu fürchten, da er als Bürgeradjutant sich den Festungskommandanten v. Heyden besonders geneigt wisse, und daß es mehr als eine Weise gebe, dem Vaterlande rechtschaffen zu dienen. Überdem sei es sehr[44] wahrscheinlich, daß der Festung binnen kurzem eine Belagerung von den Russen bevorstände. Es sei also das beste, daß ich nach Hause käme, um mit meinen Eltern zu leben und zu sterben. Schlüge ich jedoch diese Ermahnung in den Wind, so möcht' ich auch fernerhin nimmer wagen, mich seinen Sohn zu nennen. Kurz, neben dem glühenden Patriotismus, der sein Herz beseelte, schimmerte immerdar noch die Besorgnis hindurch, daß ich meiner alten Begierde nach Abenteuern hier in Holland abermals die Zügel schießen lassen und mit leichtem Sinn in die weite Welt gehen möchte.

Was blieb mir unter diesen Umständen anders zu tun, als mich unverzüglich auf das Schiff eines Landsmannes zu setzen, der zu Amsterdam lag und unter Danziger Flagge fuhr, und es so einzurichten, daß ich auf der Kolberger Reede im Vorüberfahren von ihm an Land geschickt wurde.[45]

Quelle:
Nettelbeck, Joachim: Eine Lebensbeschreibung, von ihm selbst aufgezeichnet. Meersburg, Leipzig 1930, S. 36-46.
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