Zwanzigstes Kapitel

[317] Wenige Tage nach Einstellung der Feindseligkeiten trieb es auch mich hinaus auf die Lauenburger Vorstadt, wo mein liebes Gärtchen gelegen war, um den Greuel der Verwüstung, den es hier gab, mit Muße und in stiller Wehmut zu betrachten. Fast erkannte ich die Stelle meines Eigentums, auf der ich so manchen süßen Schweiß vergossen hatte, nicht wieder. Alles war aufgewühlt und verheert (denn gerade auf diesem Fleck hatten wir eine Batterie von fünf Kanonen errichtet), oder es war dem frei und üppig wuchernden Unkraut preisgegeben! Meine schönen, edlen Obststämme, die Genossen meiner Jugend – sie starrten mich an in ihren abgehauenen Stümpfen... Doch, da gab es nichts zu klagen, denn ich selbst hatte ja, als es Not tat, die Axt an sie gelegt! Aber es war mir doch wunderlich und weh ums Herz, und ich mußte dem verödeten Plätzchen den Rücken wenden, um nicht noch weicher zu werden.

Da blickte ich nun zufällig in der nächsten Nachbarschaft umher und sah bald, daß ich es nicht allein war, der Trost und Ermutigung bedurfte. Auf der ganzen, weiten Brandstätte umher schlichen die unglücklichen Bewohner zum Teil mit ihren Säuglingen auf den Armen zwischen den Schutthaufen ihres vernichteten Eigentums, scharrten hie und da etwas aus der Asche hervor, das der Glut widerstanden, aber nun doch keinen Nutzen mehr für sie hatte, jammerten und weinten schmerzliche Tränen, daß sie nun nirgend eine bleibende Stätte fänden. Das schnitt mir je länger, je tiefer durchs Herz; mir selber gingen nunmehr die Augen vor Mitleid über, und ich verfiel in ein tiefes Nachdenken, wie doch diesen Unglücklichen, wenn auch nur vor der Hand, zu helfen sein möchte? Indem ich aber über einige verkohlte Balken und andre halb verbrannte Trümmer, die mir im Wege lagen, dahinstolperte, fiel mir's plötzlich bei, daß sich eben davon wohl einige Nothütten würden errichten lassen, um den armen Leuten zumal jetzt in den Sommermonaten einstweilen ein leidliches Obdach zu verschaffen.

Voll von diesem Gedanken machte ich mich sogleich auf den Weg zu unserm Kommandanten, um ihm die Not der Obdachlosen zusamt meinem Einfall vorzutragen und die Erlaubnis von ihm zu erbitten, daß sie sich auf den verwüsteten[317] Stellen notdürftig ansiedeln könnten. Ich langte an und stieß unten im Hause auf ein großes Gewühl von Menschen; denn der Kommandant hatte an diesem nämlichen Tage den General Loison zusamt seinem ganzen Generalstabe zu sich eingeladen, und eben saß die Gesellschaft zur Tafel. Indes stieß mir doch unter den Kommenden und Gehenden alsbald unser Vizekommandant, der Major v. S., auf, der mich wegen meines etwaigen Anbringens befragte. Obwohl nun gerade er nicht allemal mein Mann war, so trug ich doch kein Bedenken, mich in meinen Wünschen gegen ihn auszusprechen. Seine kurze Antwort war: »Daraus kann nichts werden. Und wenn ich selbst der Kommandant wäre, würde ich es nimmermehr zugeben. – Nun, das war kurz und deutlich, und so verließ er mich auch und ging die Treppe hinaus.

Aber ich blieb auch nicht dahinten und folgte ihm auf der Ferse, bis er in den Gesellschaftssaal eintrat und die Türe hart hinter sich zuzog. Das war ich nicht gewohnt an diesem Orte; ich bedachte mich also im Vertrauen auf meine gute Sache auch nicht, sein säuberlich anzuklopfen und unmittelbar darauf einzutreten. Meine Augen suchten den Kommandanten; er saß dem General Loison zur Seite an der Tafel. Kaum ward er meiner ansichtig, so stand er auf und trat mir einige Schritte entgegen. Mit leiser Stimme trug ich ihm kurz vor, was zur Sache gehörte und was sichtbar seine volle Aufmerksamkeit beschäftigte. »Die armen Leute!« rief er dann, – »ja, Nettelbeck! Laß sie in Gottes Namen bauen!« – Zugleich füllte er mir ein Glas Wein; ich dankte und nahm mir im Davoneilen nur noch die Zeit, dem Herrn v. S., der gleichfalls zu Tische saß, eine lächelnde Verbeugung zu machen.

Aber nicht um diesen kleinen Triumph war mir's zu tun, sondern um dem kummervollen Häuflein dort draußen unverzüglich Trost und Freude zu bringen. Mit Jauchzen ward ich angehört und empfangen, als ich ihnen in Gneisenaus Namen verkündigte, daß ihnen gestattet sein solle, sich auf ihren Brandstätten in leichten Baracken wieder anzusiedeln. Wirklich auch verliefen nicht drei oder vier Tage, so stand dort eine neue Anlage fertig, die mich in ihren äußeren Umrissen auf das lebhafteste an ein früher gesehenes indianisches Dorf erinnerte. Sicher aber war es den Bewohnern selbst unter diesem armseligen Obdach leichter und wohler ums Herz als damals, da ich sie hoffnungslos unter den Trümmern ihres früheren Wohlstandes umherkriechen sah.

Indem ich jedoch nun selbst wieder zu einiger Ruhe kam, konnte ich nicht umhin, den Blick auch auf meine eigene Lage zu richten und mir zu gestehen, daß diese Zeit der Belagerung mich leicht zum armen Manne gemacht haben könne. Mein kleines bares Vermögen war gänzlich drauf gegangen; teils an Arbeiter, die ich aus meiner Tasche bezahlte, teils durch Spenden an unser braves Militär, das jede Art der Erquickung, die wir Bürger ihm zu bereiten vermochten, so wohl verdient hatte. Mir aber war es das süßeste Geschäft, wenn ich den[318] wackern Leuten bei ihrem harten Dienst dann und wann einen warmen Mundbissen oder was es sonst gab, selbst auf die Wälle, vor die Tore, in die Blockhäuser hinbringen und ihnen Trost und guten Mut einsprechen konnte.

Es ist wahr, meine guten Freunde haben mir deshalb oftmals Vorstellungen getan, daß mich mein guter Wille zu weit führe und zum Verschwender mache; aber nie verließ mich der frohe Mut, ihnen zu antworten: »Ich bin ein alter Mann ohne Kind oder Kegel: wem sollte ich es sparen? Aber wär' ich auch der Jüngste unter euch, wie leicht kann man in diesen Zeiten den Tod haben! Mir liegen König und Vaterstadt allein am Herzen, und überleb' ich diese Zeit: – nun, so werden ja sie mich auch nicht darben lassen.«

Fest hielt ich und halte noch an diesem schönen Glauben; aber freilich war das auch um so notwendiger, wenn ich nun auf den geringen, mir jetzt übrig gebliebenen Rest meiner Habe blickte. Mein Haus hatte durch das Bombardement in allen seinen Teilen bedeutend gelitten; meine Scheune vor dem Tore war niedergebrannt, mein Gartenhäuschen abgebrochen worden, mein Garten verwüstet. Von den Vorräten meines Gewerbes war nichts mehr übrig, um es neu wiederherzustellen, um das beschädigte Eigentum zu bessern, hätt' es Hilfsmittel bedurft, die mir jetzt kaum mehr zu Gebote standen. Meine Lage war keineswegs erfreulich!

Aber war ich auch wohl berechtigt, über erlittene Einbuße zu klagen? Meine Mitbürger hat all dies Unglück ja auch – den einen mehr, den andern weniger – getroffen. Nein, ich habe auch nicht klagen, sondern mir's nur vom Herzen wegreden wollen. Er, der mir's gab, hat's auch genommen; sein Name sei gelobet! Aber daß Gott meine liebe Vaterstadt so wunderbar erhalten hat, des bin ich froh; und daß er unserm guten König Gesundheit, Mut und Stärke verliehen, sich in seinem großen Unglück so herrlich wieder aufzurichten. – Wer, der ihm angehört, hätte ein solches Heil nicht gern mit noch größeren Opfern erkaufen mögen?

Mir ward indes in diesen nämlichen Tagen von dieses gnädigen Monarchen Hand eine Auszeichnung zuteil, die ich so wenig erwartet hatte, als vor andern, die mit mir auch nur ihre Pflicht getan, verdient zu haben glaube: – eine Auszeichnung, die mich sogar beschämen würde, wenn ich nicht in der Meinung stände, daß diese königliche Hand in mir eigentlich die gesamte Kolberger Bürgerschaft habe ehren und ihren bewiesenen Pflichteifer anerkennen wollen. Ich erhielt nämlich folgendes Königliche Kabinettsschreiben:


»Seine Königl. Majestät von Preußen etc. haben aus dem Berichte des Obristlieutenants v. Gneisenau, worin er Höchstdenenselben diejenigen Personen an zeigt, welche sich während der Belagerung der Festung Kolberg ausgezeichnet haben, mit besonderem Wohlgefallen ersehen, daß der Vorsteher der Bürgerschaft,[319] Nettelbeck, die ganze Belagerung hindurch mit rühmlichem Eifer und rastloser Tätigkeit zur Abwehrung des Feindes und zur Erhaltung der Stadt mitgewirkt hat. Seine Majestät wollen daher dem Nettelbeck für den solchergestalt zu Tage gelegten löblichen Patriotismus hierdurch Dero Erkenntlichkeit bezeigen und ihm als ein öffentliches Merkmal der Anerkennung seiner sich um das Beste der Stadt erworbenen Verdienste die hierneben erfolgende goldene Verdienstmedaille verleihen.

Friedrich Wilhelm.

Memel, den 31. Juli 1807.«


»An den Vorsteher der Bürgerschaft zu Kolberg, Nettelbeck.«


Gleichzeitig erhielt unser verehrter Kommandant nach dem gnädigen Willen des Königs seine Abberufung von dem so ehrenvoll bekleideten Posten, um unmittelbar unter den Augen des Monarchen an die Reorganisation des preußischen Heeres mit Hand anzulegen. Das war für uns ein schmerzlicher Verlust, ein bittrer Wermutstropfen in den Freudenkelch, den uns unsre Erlösung dargeboten hatte! Allein unser Liebling eilte einer höheren Bestimmung entgegen, und unser Eigennutz, wie verzeihlich er hier auch war, mußte schweigen! Schon am 8. August schied Gneisenau von uns, doch wie er schied, möge nachstehendes Schreiben dokumentieren, welches er im Augenblick seiner Abreise an uns erließ:


»Meine Herren Repräsentanten der pattiollschen Bürgerschaft zu Kolberg!


Da ich auf unsers Monarchen Befehl mich eine Zeitlang von dem mir so lieb gewordenen Kolberg trenne, so trage ich Ihnen, meine Herren Repräsentanten, auf, den hiesigen Bürgern mein Lebewohl zu sagen. Sagen Sie denselben, daß ich ihnen sehr dankbar bin für das Vertrauen, daß sie mir von meinem ersten Eintritt in die hiesige Festung an geschenkt haben. Ich mußte manche harte Verfügung treffen, manchen hart anlassen: – dies gehörte zu den traurigen Pflichten meines Postens. Dennoch wurde dies Vertrauen nicht geschwächt. Viele dieser wackern Bürger haben uns freiwillig ihre Ersparnisse dargebracht, und ohne diese Hilfe wären wir in bedeutender Not gewesen. Viel haben sich durch Unterstützung unserer Kranken und Verwundeten hochverdient gemacht. Diese schönen Erinnerungen von Kolberger Mut, Patriotismus, Wohltätigkeit und Aufopferung werden mich ewig begleiten. Ich scheide mit gerührtem Herzen von hier. Meine Wünsche und Bemühungen werden immer rege für eine Stadt sein, wo noch Tugenden wohnen, die anderwärts seltener geworden sind. Vererben Sie dieselben auf Ihre Nachkommenschaft.[320]

Dies ist das schönste Vermächtnis, das Sie ihnen geben können. Leben Sie wohl und erinnern sich mit Wohlwollen


Ihres

treu ergebenen Kommandanten

N. v. Gneisenau.«


Ein so herzlicher Abschied durfte nicht ohne Erwiderung bleiben. Wir versammelten uns und machten unserm vollen Herzen in folgender Bekanntmachung an unsre Bürgerschaft Luft:


Kolberg, den 15. August 1807.


Am 9. d. M. entrückten höhere Befehle unsern würdigen Herrn Kommandanten aus unsrer Mitte, und mit dem Verluste dieses mit seltenen Tugenden geschmückten Mannes schwanden unsre stolzen Träume dahin. Gern wären wir im Besitz des unverzagten Beschützers unsrer Wälle für immer geblieben, und gern hätten wir nach den vollbrachten verhängnisvollen Tagen die seligen Früchte des Friedens nur mit Ihm geteilt; aber nicht bestimmt, diese in unsern sichern Mauern zu genießen, hatte Ihm unser Monarch, ganz überzeugt von dem Werte dieses großen Mannes, einen andern Kreis vorgezeichnet, in welchem sein rastloser und tätiger Geist sich ein neues Denkmal stiften sollte.

Ist jedoch dieser unsern Herzen so teuer gewordene Held nicht mehr unter uns, und hat er uns verlassen, um vielleicht nie den Ort wieder zu sehen, dessen beneidenswertes Schicksal in den mißlichsten Augenblicken seinen einsichtsvollen Befehlen untergeordnet war: so wird gleichwohl das Andenken an Ihn, der bei den Tugenden des Kriegers nie die Pflichten des Menschen vergaß, der von der ersten Minute seines Erscheinens an Vater eines jeden einzelnen wurde und es auch noch im Moment des Scheidens blieb, nie in unserer von Dank gegen ihn erfüllten Seele erlöschen. Wir alle haben Ihm ja alles – die Erhaltung unsrer Ehre und unsrer Habe, die Zufriedenheit unsers Landesherrn und die Achtung unsrer ehemaligen Gegner zu verdanken.

Möge es erst nur unsrer spätesten Nachkommenschaft vorbehalten sein, die Asche unsers Verteidigers zu segnen!

Von seiner Abreise wurden wir Tages zuvor durch das hier wörtlich eingerückte Schreiben benachrichtigt. (Folgt nun das oben bereits mitgeteilte Abschiedsschreiben des Herrn v. Gneisenau.)

Wir haben seinen Auftrag mit frohem Herzen erfüllt, und zur Steuer der Wahrheit vereinige sich die Bürgerschaft in dem öffentlichen Geständnis:

›Wir haben nie einen Zwang empfunden; uns haben keine harten Verfügungen gedrückt, und das, was wir taten, geschah aus reiner Vaterlandsliebe.[321] Das höchste Wesen nehme Ihn dafür in seine besondere Obhut, lasse Ihn nach seinem tatenvollen Leben auch bald die Früchte des Friedens im Schoße der teuern Seinigen genießen, und wenn uns neue Stürme und Gefahren drohen, so kehre Er zurück in unsre nicht überwundenen Mauern und finde auch in uns noch das Völkchen wieder, von dem Er so liebevoll schied!‹

Dresow. Hentsch. Zimmermann. Höpner.

Nettelbeck. Darchow. Ziemcke. Gibson.«


Wenige Tage vor der Abreise des so allgemein verehrten Mannes führte mich das Gespräch mit ihm auf meinen verstorbenen Vater, wie der in den drei russischen Belagerungen dem damaligen Kommandanten, Obrist von der Heyden, ebenso mit seinen guten und willigen Diensten habe zur Hand gehen können, als es durch ein sonderbares Verhängnis nach so langen Jahren nun auch mir, dem Sohne, so gut geworden sei, dem zweiten preiswürdigen Verteidiger meiner Vaterstadt mich in gleicher Weise nutzbar zu machen. Zum Andenken eines so ehrenden Verhältnisses – setzte ich hinzu – habe sich damals mein Vater Heydens Bildnis von ihm erbeten, es auch erhalten und danach unserm Schützenhause geschenkt, wo es noch zu dieser Stunde aufgestellt sei und der Stadt zu einer dankbaren Erinnerung diene. So bewege mich's nun auch zu dem herzlichen Wunsche, daß unser scheidender Freund und Wohltäter mir ein ähnliches Unterpfand seiner geneigten Gesinnung hinterlassen möge, daß sein Ehrengedächtnis für alle künftige Zeiten unter uns bewahre. Gneisenau versprach es mit freundlichem Lächeln.

Und dieser Zusage hatte er auch nicht vergessen! Vielmehr, damit dies Geschenk einen neuen, noch höheren Wert erhielte, veranstaltete er es, daß mir dasselbe mittels einer überaus gütigen Zuschrift durch seine Frau Gemahlin ein Jahr später von Schlesien aus zugeschickt wurde. Meine Freude kannte, wie man sich leicht denken kann, keine Grenzen. Ich besorgte dem teuern Bildnisse einen Rahmen, so schön, als er nur immer bei uns aufzubringen war, und auf der Rückseite ließ ich den Namen des Gebers und die Umstände, welche dies Geschenk begleitet hatten, verzeichnen. Zugleich aber stand ich in Sorge, daß ein solches Denkmal in den Händen eines Privatmannes, zumal in meinen hohen Jahren, leicht das Los einer unrühmlichen Vergessenheit treffen könne, und so hielt ich es für wohlgetan, meinen Schatz dem Kommandanturhause als ein Vermächtnis zuzuweisen, bei dessen Anblick einst noch unsern Urenkeln das Herz vor Stolz und Freude höher aufgehen möchte.

Aber bald wechselten unsre Kommandanten in schneller Folge, und auch einer, dessen Name hier zur Sache nichts tut, war eben abgegangen, während seine Gemahlin, die noch einige Zeit bei uns verweilte, bereits ein andres Haus bezogen hatte. Zufällig kam ich in das Kommandanturgebäude; meine Augen[322] suchen und – vermissen das von mir gestiftete Bildnis. Nach langem und vielem Fragen erfahre ich endlich, es habe neuerdings samt andern Mobilien den Umzug mitgemacht. Ich eile hin zu der Dame und bitte höflichst um Wiedererstattung. Die Dame weiß von keinem Bildnis und verweist mich zuletzt an ihre Domestiken, die es aus Unkunde mitgenommen haben könnten. Nun frage, nun forsche ich selbst in allen Winkeln des Hauses umher, – und – siehe da! Das mir so teure Gemälde findet sich endlich wieder – im Hühnerstall; beschmutzt auf eine Art, die keiner näheren Andeutung bedarf! Mein ganzes Herz war empört. Ich mag mich auch wohl ein wenig deutsch und kräftig über diese schmähliche Entweihung ausgelassen haben, indem ich mein wiedererobertes Kleinod heim trug, es von allem Makel säubern ließ und dann mit freudigem Gefühl an die Stätte zurückbrachte, die ihm gewidmet worden. Möge es da fortan und immer die ihm gebührende Achtung und bessere Aufsicht finden!

Allein mit dem Andenken an verdiente Männer ist es ein Ding, das einen wohl traurig und niedergeschlagen machen könnte, wenn man sieht und erlebt, wie schwer es dem selbstsüchtigen Menschenherzen eingeht, seine Liebe und Dankbarkeit für die Davongeschiedenen treu zu bewahren. Das sollte ich auch noch anderweitig mit Leidwesen erfahren! Es kam nämlich bald nach der Belagerung der Herr Großkanzler v. Beyme auf seinem Wege aus Preußen nach Berlin hieher zu uns und nahm während seines Verweilens bei dem Kaufmann Schröder ein Mittagsmahl ein, wobei ich die Ehre hatte, von ihm an seine Seite gezogen zu werden. Auch mehrere angesehene Männer vom Handelsstande waren gegenwärtig. Daß die Unterhaltung, deren mich der Minister würdigte, sich meist auf die nächstverlebte Zeit bezog, war wohl sehr natürlich, sowie nicht minder, daß dabei unsers wackern Vizekommandanten v. Waldenfels und seines Heldentodes mit rühmlichster Erwähnung gedacht wurde. »Einem so braven Manne«, äußerte dabei unser hoher Gast, »einem so braven Manne sollte der Denkstein auf seinem Grabe nicht fehlen!«

Der Gedanke elektrisierte mich. Ich stand auf von meinem Stuhle, sah Tafel auf und Tafel ab rings meine anwesenden Mitbürger an und sprach: »Ein Wort zur guten Stunde! – Ja, meine Herren, wir erfüllen es und setzen unserm Waldenfels ein Ehrenmal, wie er's verdient?«

Niemand antwortete mir. Ich aber erhob meine Stimme noch höher und rief: »Wie? Kein Denkmal auf eines solchen Mannes Grabe? – Meine Herren, das ist eine Ehrensache für jeden unter uns!« –

So herausgepreßt, erklang denn freilich hie und da ein zögerndes »Ja!« – Aber es fiel in die Augen, daß es nicht von aufgeregtem, freudigem Herzen hervorging. Meine funkelnden Augen spiegelten sich nur in denen des Großkanzlers wider, der zu mir sagte: »Sie gestatten mir doch, daß ich meinen Beitrag hier sofort in Ihre Hände lege?« – Das verbat ich mir nun wie[323] billig und hatte Mühe, meinen Willen darin durchzusetzen. Desto leichter ward mir's in den nächstfolgenden Tagen, mit den Jajastammlern, die ich an ihr Wort erinnerte, fertig zu werden, denn da fand sich's, daß es nur in die Luft gesprochene verhallende Worte gewesen waren!

Mochte es sein! Ich aber habe mir selber Wort gehalten und auf eigene Kosten einen schönen, achteckigen, geglätteten Grabstein, sieben Fuß hoch, besorgt, worauf der Name »Waldenfels« samt Angabe seiner Militärwürden und des Tages, da er für König und Vaterland gefallen, verzeichnet steht. Dies einfache Monument bezeichnet seine Grabstätte. Zu gleicher Zeit ließ ich auch mir die meinige hart neben derselben mit Steinen aussetzen, wo ich denn endlich auch ruhen werde. –

Ehre den braven Männern, die gleich Waldenfels in und für Kolberg geblutet und ihr Bestes getan haben! Wo einundzwanzig Offiziere auf dem Bette der Ehre das Leben verhauchten und eine gleiche Anzahl schwere, todesgefährliche Wunden aufzuweisen hatte, da bedarf es keines weiteren Zeugnisses, daß die Besatzung in allen ihren Graden ihre volle Schuldigkeit getan. Wie der Monarch selbst diese heldenmütige Dahingebung gewürdigt und anerkannt habe, spricht sich vollgültig in der Auszeichnung aus, die er dem zweiten pommerschen Infanterieregimente gewährte, welches seit jenen Tagen die Ehrennamen des Regimentes »Kolberg« und »v. Gneisenau« miteinander vereinigt.

Zwar – die Ausnahmen sind es, welche die Regel bestärken, und so gab es denn freilich auch unter Kolbergs Braven einzelne Feiglinge, die es nicht wert waren, in den ehrenvollen Reihen jener zu fechten; aber billig sollte ihr Andenken der Vergessenheit übergeben bleiben, und auch ich würde mich scheuen, es in dieser Schrift wieder aus diesem schimpflichen Grabe hervorzuziehen, wenn nicht eine anderweitige zweifache Betrachtung mir das Gegenteil zu gebieten schiene. Einmal geschieht selbst jenen Braven, die in so glänzendem Lichte dastehen, nach meinem Gefühl eine Ungebühr, wenn hier die Schattenseite des Gemäldes gänzlich verhüllt würde. Dann aber ist von dem unwürdigen Betragen dieser Finsterlinge schon früher so manches und mit Einmischung meines Namens zur Kunde des Publikums gekommen, was jetzt als lügenhafte Aufbürdung des damaligen, unseligen Parteigeistes ausgeschrien werden könnte, wenn ich es hier ganz überginge und dadurch gleichsam stillschweigend zurücknähme. Daß ich nicht gern davon spreche, wird man mir glauben; indes stehe hier meine treue und einfältige Erzählung! '

In einer Nacht, wo es scharf über die Stadt herging (es war zwischen dem 1. und 2. Julius), befand ich mich auf dem Markte neben dem Spritzenhause, um sofort bei der Hand zu sein, wenn irgend etwa eine Bombe zündete. Hier eilte nun ein Mann im grauen Regenmantel und die weiße Schlafmütze ins Angesicht gezogen, mit weiten Schritten an mir vorüber und verlor sich in einem[324] Weinkeller, den man für bombenfest hielt und wohin sich deswegen bereits mehrere alte Männer, Frauen und Kinder zusamt einigen furchtsamen Bürgern vor dem feindlichen Geschoß geflüchtet hatten. Gleich nachher aber stürmte aus eben diesem Keller der Hause in größter Verwirrung hervor, und indem ich mich nach der Veranlassung erkundige, erfahre ich: es sei eine Granate durch das Gewölbe hineingedrungen. Ich steige hinunter, um mich zu überzeugen, ob Schaden geschehen und Hilfe nötig sei. Davon zeigt sich indes nirgends eine Spur; man faßt nun wieder Mut, kehrt in den verlassenen Zufluchtsort zurück und drei meiner Bekannten, rechtliche Männer, fordern mich auf, noch einige Augenblicke zu verweilen und ein Glas Wein mit ihnen zu trinken.

Indem ich mir nun hierbei die bunte Versammlung mit etwas besserer Muße ansehe, bemerke ich auch seitabwärts den Mann in der Schlafmütze, der mir bereits durch seine langen Beine merkwürdig geworden. Halb kommen mir seine Gesichtszüge bekannt vor, aber die Dunkelheit des Winkels läßt mich nichts mit Gewißheit erkennen. Ich greise nach einer Kerze, leuchte ihm näher unter die Augen und – siehe! es ist der Hauptmann *** von unserer Garnison. Hochverwundert frage ich: »Ei tausend, Herr Hauptmann! Wie geraten Sie hierher? Ist dies Loch ein Aufenthalt für Sie? Ein Offizier – und verkriecht sich unter alte Weiber und Wiegenkinder! Der König hat Ihnen gewiß vierzig Jahre Brot gegeben, und nun es in seinem Dienste gilt, vertun Sie sich abseits?« – Er stotterte etwas daher: »Sehen Sie nicht, daß ich krank bin? Ich habe das Fieber.« – »Daß Sie eine Schlafmütze sind, sehe ich; und das Bombenfieber sehe ich auch«, war meine Antwort. – »Hier heraus mit Ihnen und fort, wohin Sie gehören!« – Ich wäre in meiner Ereiferung vielleicht noch tiefer in den Text hineingeraten, wenn meine vorgedachten Bekannten mich nicht von ihm abgezogen und begütigt hätten. Unterdessen ließ der Fieberpatient sich ein gutes Gericht Essen und ein Viertel Wein auftragen und speisete mit einem Appetit, der auch dem Gesundesten Ehre gemacht haben würde.

Aber es sollte hier gleich noch ein zweites ähnliches Abenteuer geben. Denn indem ich mich von dem Jammerbilde nach einer andern Seite wende, fiel mir ein Feldbette in die Augen und auf dasselbe hingestreckt ein Mensch, der notwendig auch eine Militärperson sein mußte, da unter der Bettdecke hervor ein Degen mit dem Portepee niederhing. Mein Gesicht mochte bei diesem Anblicke wohl wie ein großes Fragezeichen aussehen; denn unaufgefordert erklärten mir meine Freunde, die hier Bescheid wußten: es sei der Leutnant ***, der sich zu gütlich getan und in diesem ihm gewöhnlichen Zustande so seinen Aus- und Eingang im Weinkeller habe. Das war mir ein Greuel mit anzuhören! Ich riß ihm die Bettdecke vom Leibe und rief: »Herr, plagt Sie... Was haben Sie hier zu schaffen? Heraus und auf Ihren Posten! Hören Sie den Geschützdonner nicht?«

Brummend taumelte er empor, und sich mit Mühe auf den Füßen haltend,[325] tobte der Jämmerliche: »Warum wird das verfluchte Loch nicht übergeben, damit man nur einmal aus dem miserablen Neste herauskäme!« – Ich traute meinen eignen Ohren nicht und hätte mich wahrlich an dem Elenden tätlich vergriffen, wenn meine gelasseneren Freunde mir nicht in den Arm gefallen wären, während jener wieder auf sein Lager niedertorkelte und prahlte, wieviel Weinflaschen er heute schon den Hals gebrochen.

Beide Auftritte waren indes zu öffentlich und vor zu vielen Zeugen vorgefallen, als daß sie ganz mit dem Mantel der Liebe zu bedecken gewesen wären. Der Hauptmann rechtfertigte sich mühsam durch ein, sei wie es wolle, beigebrachtes ärztliches Attest, das seine Krankheit bekräftigte, aber es unermittelt ließ, warum sich der Patient nicht lieber ruhig in seinem Quartier verhalten und eine genauere Diät befolgt habe. Gegen den Leutnant aber sprachen die Zeugnisse so entscheidend, daß er einem dreimonatigen Arrest und demnächst seiner Dienstentlassung sich nicht entziehen konnte.

Zu einer andern Zeit standen unsre Vorposten ringsum des Abends in einem lebhaften Feuer gegen den Feind, der allmählich immer mehr Truppen ins Gefecht brachte. Der Kommandant, in dessen Gefolge ich war, befand sich auf dem Bastion Pommern, von wo auch das Feld zu beiden Seiten des Platzes am bequemsten übersehen werden konnte. Um die Unsrigen gegen Sellnow hin zu unterstützen, war der Obrist *** mit drei Kompanien seines Bataillons abgeschickt worden mit dem Auftrage, sich den Schillschen Truppen anzuschließen und das Gefecht zum Stehen zu bringen. Anstatt aber hier vor dem Gelder Tore nunmehr eine neue Regsamkeit zu bemerken, hörte das Feuer dorthin zu des Kommandanten nicht geringer Verwunderung bald gänzlich auf und die Verwunderung stieg zur Unruhe, da immer noch kein Rapport von der entsandten Verstärkung einging. Ich erbot mich, Nachricht an Ort und Stelle einzuziehen und eilte von dannen den Wall hinunter.

Von einem Pulverwagen, der mir in den Weg kam, strängte ich ein Zugpferd ab, warf mich hinauf und trabte zum Gelder Tore hinaus. Die Nacht war stockfinster geworden. Als ich über die sogenannte Kuhbrücke kam, stutzte mein Gaul, hob sich und wollte trotz all meinem Treiben nicht von der Stelle. Endlich ward ich gewahr, daß er sich vor einem Soldaten scheute, der sich dicht vor seinen Füßen quer über den Weg gelagert hatte. Der Bursche hatte geschlafen, und mit ihm ward es auf einmal rund um mich her wach und laut, und ein Dutzend Baßkehlen rief: »Holla! Holla! Nur sachte!« – Mit einem Blicke über sah ich nun die saubre Schlafkompanie, die sich hier meist ins Gras gestreckt hatte, anstatt den bedrängten Kameraden weiter vorwärts Luft zu machen.

Im bittern Unmut meines Herzens stürmte ich auf sie ein und rief: »Ihr seid mir schöne Helden! Pfui euch an, daß ihr hier liegen könnt und schnarchen!« – Beschämt wichen sie mir zu beiden Seiten aus, bis ich weiterhin kam[326] und nun auch auf ihren edlen Anführer stieß, der sich sein Ruheplätzchen hart am Heckenzaune ausgesucht hatte, den Kopf nur soeben aus dem Mantel hervorstreckte und mir einen guten Morgen bot. Drei Schritte hinter ihm zeigte sich mir der Hauptmann *** in gleicher Positur, der jedoch aufstand und mir seinen guten Morgen bis dicht ans Pferd entgegenbrachte. Mich noch weniger haltend als vorhin, tobte ich: »Den T... und seinen Dank für euren guten Morgen! Ist das recht? Ist das erhört, daß ihr hier auf der Bärenhaut liegt? Ob eure besseren Kameraden indessen ins Gras beißen, das kümmert euch nicht! – Da! Da seht!«

In dem Augenblick nämlich kamen einige Schillsche Leute vom Felde daherwärts, die zwei Erschossene auf einer Art von Tragbare aus dem Gefechte trugen und mehrere Verwundete leiteten. Ich schloß mich nun an diese wackern Leute an und erfuhr von ihnen noch bestimmter, daß die ganze Zeit her von einem solchen Unterstützungstrupp bei ihnen im Felde weder etwas zu sehen noch zu hören gewesen. Demgemäß fiel nun auch mein Rapport an den Kommandanten aus, der mit Achselzucken versetzte: »Nun, nun – ich werde den Herren die Epistel lesen!«

Ich meines Orts hatte kein Gelübde getan, aus den mancherlei Erlebnissen dieser Art vor meinen täglichen Bekannten ein Geheimnis zu machen, und so hatten denn durch mehr als einen Mund jene Anekdoten auch ihren Weg in des Herrn v. Cölln damals vielgelesene »Feuerbrände« und einige andre politische Tagesschriften gefunden und bei manchem noch altgläubigen Militär mitunter Anstoß erregt. Wer aber hätte es glauben sollen, daß es irgend einst einem solchen einfallen könnte, mich, den Unschuldigsten bei dem gesamten Handel, deshalb feierlichst in Anspruch zu nehmen? Dennoch geschah es also, und auch hierüber gehört ja wohl ein kurzer Bericht in meine Lebensgeschichte.

Von seiten eines der Kommandanten, die auf Gneisenau folgten, ward ich eines Tages durch eine Ordonnanz beschickt, mich zu einer bestimmten Stunde in seiner Amtswohnung bei ihm einzufinden. Ich ging und ward in einen großen Saal eingeführt, den ich ganz von den sämtlichen in einem Zirkel herumstehenden Offizieren unsrer Besatzung gefüllt fand. Mitten unter ihnen saß der Garnisonauditeur L. hinter einem Tische, den viele Schriften und Schreibmaterialien bedeckten. Alles hatte so ziemlich die Miene eines großen gerichtlichen Akts, und ohne noch zu wissen, wozu diese Vorbereitungen führen sollten, wurden doch Verwunderung und Neugier bei mir in gleichem Maße rege.

Sofort nach meinem Eintritt kam mir der zeitige Kommandant mit einem gedruckten Buche in Quarto entgegen und bedeutete mich: er habe mir etwas vorzulesen, auf das ich ihm sodann antworten werde. – Ich hatte nichts darwider, und er setzte hinzu: »Sollten die Worte und Beschuldigungen erlogen sein, so verdiene der Schriftsteller, daß ihm der Prozeß gemacht werde, und man[327] werde bei Sr. Majestät, des Königs, höchster Person darauf antragen, denselben exemplarisch bestrafen zu lassen.« – Und nun zu dem ganzen Zirkel: »Meine Herren! Ich werde lesen, Sie werden hören!« Jetzt las er mir das Geschichtchen von der Nachtmütze im Ratskeller und verlangte darüber eine weitere Erklärung. »Die wird am leichtesten zu geben sein«, versetzte ich, »wenn, wie ich glaube, der Herr Hauptmann hier in der Versammlung gleichfalls zugegen ist.« – Zu gleicher Zeit schaute ich ein wenig umher und erblickte ein Stückchen von ihm hinter und zwischen einer Gruppe von Kameraden, die mich jedoch nicht verhinderten, mich durch sie hinzudrängen und meinen Mann, gern oder ungern, hervor an das Tageslicht zu ziehen. Nun kam es denn zu einem Katechismusexamen, wo es auch von ihm hieß: »Und er bekannte und leugnete nicht« – daß sich alles so verhalte, als dort im Buche stände; denn ich führte ihm die drei unverwerflichen Zeugen zu Gemüte, welche damals neben uns gestanden.

»Allein«, nahm nun der Kommandant aufs neue das Wort, »wie steht es um dies zweite Geschichtchen, das ich Ihnen vorzulesen habe – von einer schlaftrunkenen Weglagerung usw., wobei der Obrist *** in ein so nachteiliges Licht gestellt ist?« – Er las, und meine Gegenfrage war: »Hätte der Herr Obrist in der Tat etwas dagegen?« – Ich sah mich nach ihm um in dem Gedränge, fand ihn auf und wiederholte nun Wort für Wort, was damals zwischen ihm, seinen Begleitern und mir verhandelt worden. Der Mann, zum Leugnen zu ehrlich, spielte hierbei eine etwas einfältige Rolle, während der Auditeur frischweg protokollierte und sich fast die Finger lahm schrieb. Nun endlich noch die Gewissensfrage: »Ob ich diese Erzählungen dem Verfasser der Feuerbrände mitgeteilt hätte?« – Das konnte ich mit Wahrheit verneinen, und so nahm das gestrenge Inquisitionsgericht ein Ende, ohne daß weiter Gutes oder Böses dabei herausgekommen wäre. Auch habe ich mich ferner nicht darum gekümmert.

Überhaupt muß gesagt werden, daß seit Gneisenaus Abschiede zwischen dem Militär und der Bürgerschaft in meiner Vaterstadt sich ein Verhältnis gebildet hatte, welches mit der jüngst verflossenen Zeit gemeinschaftlichen Bedrängnisses in einem traurigen Gegensatz stand und mir wie jedem patriotisch gesinnten Herzen unendlich viel Unmut, Kummer und Sorge erweckt hat, wenn wir bedachten, wie wir unsern Feinden und Neidern dadurch das empörende Schauspiel gäben, daß wir, nachdem wir Gefahr und Ungemach miteinander getragen, nun in der Ruhe des Friedens – oder Halbfriedens wenigstens – einander nicht mehr ertragen könnten. Man könnte freilich sagen, wir Kolberger seien verwöhnt gewesen und hätten unsre Forderungen zu hoch gespannt, allein die Wahrheit lag hier, wie fast immer, in der Mitte, und es ward mehr oder weniger auf beiden Seiten gesündigt.

Kolbergs militärische Wichtigkeit, zumal in jenem schwierigen Zeitverlauf, der auf den Frieden von Tilsit folgte, war lebhaft anerkannt worden; aber eben[328] dadurch fühlte sich auch die Besatzung des Platzes in ihrer Bedeutung gehoben und zü Ansprüchen von mancherlei Art berechtigt. Darüber und weil dies bald einigen Widerstand erzeugte, hatte sich in allen Berührungen mit den bürgerlichen Behörden ein gewisser unfreundlicher Ton eingeschlichen, der immer schmerzlicher empfunden wurde. Es sollte alles martialisch und gewaltig bei uns zugehen, als wenn es noch mitten im Kriege wäre; wogegen der Bürger nur durch die milden, bürgerlichen Gesetze des Friedens beherrscht sein und von außerordentlichem Kriegszwange nichts mehr wissen wollte. Die Lasten der Einquartierung bei einer noch immer sehr starken Garnison, die an sich schon lästig genug waren, wurden es noch mehr dadurch, daß die Verteilung derselben sich ungesetzlich in den Händen einer außerordentlichen Kommission befand, die von ränkesüchtigen Köpfen nach Gunst oder Ungunst geleitet ward. Böse Ratgeber der nämlichen Art belagerten das Ohr der Machthaber und freuten sich des gestifteten Unheils; überall Neckerei, Reibung und abgeneigter Wille und – zum Übermaß dieses Notstandes – eine vielleicht nicht hinlänglich beschäftigte Anzahl alter und junger Militärs, deren Überschwang an Lebendigkeit sich in mancherlei Störungen des friedlichen, bürgerlichen Verkehrs, in Prügelszenen, in gewaltsamen Angriffen und Verwundungen rechtlicher Männer kund tat.

Wiederum auf der andern Seite ist ebensowenig in Abrede zu stellen, daß unsern Einwohnern durch die Belagerung das Herz ein wenig groß geworden. Sie hatten in ungewöhnlichen Anstrengungen auch ungewöhnliche Kräfte in sich erwecken müssen, und so wie sie sich dadurch selbst im Werte gehoben fühlten, wollten sie sich auch von andern besser geachtet wissen, während manches andre Verdienst, das sich neben ihnen spreizte, entweder hie und da noch einige nähere Untersuchung zuließ oder doch ihres Ermessens mit dem angefochtenen eigenen auf gleicher Linie stand. Aber vielfach hatten sie auch in der Zeit der Not und Gefahr nicht bloß redlich mit ihrer Person bezahlt, sondern auch bedeutende Opfer an Eigentum und Vermögen dargebracht; hatten gehofft, nach des Feindes Abzuge durch mancherlei Erleichterungen sich für so viel Einbußen und Entbehrungen entschädigt zu sehen und fühlten sich nun doppelt getäuscht, da statt der gehofften goldenen Zeit nur neue, herbe Früchte für sie reisten. Zwar was das allgemeine Mißgeschick der Zeit damals über unser armes, bedrücktes Vaterland schwer genug verhängte, hätten sie gern und freudig ihrem guten Könige zuliebe auch ferner getrost und willig mitertragen; aber so manche örtliche und besondre Belastung, die der Monarch nicht wollte und wußte, wäre ihnen füglich zu ersparen gewesen und konnte nicht verfehlen, einen dumpfen Mißmut zu erregen. Dennoch blieben ihre Klagen stumm und scheuten sich, ein Königsherz, dem das Schicksal bereits so große Prüfungen auferlegt, noch tiefer zu bekümmern.[329]

Wie aber mußte denn nicht jedes wackre Bürgerherz sich um so tiefer von Dank und Freude ergriffen fühlen, als ein königliches Kabinettsschreiben vom 21. Oktober 1807 an die verordneten Stadtältesten Dresow, Zimmermann usw. uns den sprechenden Beweis führte, daß Kolberg in seines gütigen Herrschers Beachtung und Fürsorge unvergessen geblieben, indem uns darin unter den huldvollsten Ausdrücken der Erlaß unsers Anteils an der allgemeinen französischen Kriegskontribution im Belauf von 180216 Tlr. 23 gGr. 10 Pf. angekündigt wurde. Wir betrachteten diese Anordnung weniger als einen Akt der königlichen Gerechtigkeit, insofern Kolberg nicht in feindlicher Macht und Gewalt gewesen war, als einen Ausfluß seiner Gnade, die uns ehren und unsern gesunkenen Wohlstand stützen wollte.

Indes zeigten sich auch die trüben Wolken, welche am Horizont unsers friedlichen Bürgerlebens so drohend aufgestiegen waren, nur als eine vorübergehende Erscheinung. Es bedurfte nur, daß ein geringer Wechsel in Personen und Verhältnissen eintrat, um auch sofort einen andern und freundlicheren Geist hinauf zu beschwören, der uns, die wir so Hartes miteinander ertragen hatten, auch bereitwilliger machte, uns miteinander zu vertragen. Eintracht, Achtung, Vertrauen und Liebe kehrten in die bisher entfremdeten Gemüter zurück, und wir lernten uns je mehr und mehr als Kinder eines Vaterlandes betrachten, die ein Rock, so oder so gefärbt, nicht länger scheiden dürfe.

Schade nur, daß ich an diesem Lobe unsers zum Bessern erwachten Bürgersinns sofort wieder einiges kürzen muß, insofern er uns auch in unsern eigenen, inneren Angelegenheiten billig hätte besser leiten und beraten sollen. Als nämlich im Jahr 1809 durch die in der preußischen Monarchie eingeführte neue Städteordnung überall die bisherige Magistratsverfassung abgeschafft und den Bürgerschaften ein erweiterter Einfluß auf die Verwaltung der städtischen Angelegenheiten zugestanden wurde, wußte sich so wie an vielen andern Orten so auch bei uns in Kolberg die Menge in die verbesserten Einrichtungen nicht sogleich zu finden; die Ränkeschmiede und Selbstlinge aber waren nur um desto eifriger darauf bedacht, ihr Schäfchen dabei zu scheren und den blinden Unverstand nach ihren geheimen Absichten zu bearbeiten. Als es daher zur ersten Wahl der Stadtverordneten und eines neuen Magistrats kam, ging es dabei so stürmisch, unmoralisch und ordnungswidrig zu, daß ein jeder rechtschaffner Mann, der es wohl mit der Stadt meinte, sein äußerstes Mißfallen daran haben mußte.

Es kann mir also auch nicht als Lobspruch gelten sollen, wenn ich, obwohl als erster Stadtverordneter gewählt, mich dieser Ehre bedankte und mit einer Versammlung nichts zu schaffen haben wollte, von deren gleich im ersten Beginnen kundgegebenen Gesinnungen ich nichts als Unheil für die Stadt erwarten konnte. Zwar fehlte es nicht an dringendem Zureden meiner Freunde, welche in der Meinung standen, daß ich durch Übernahme jenes Postens, wenn auch[330] nicht Gutes sonderlich zu fördern, doch manches Böse durch meinen Einfluß zu verhüten imstande sein würde; allein das ganze Wesen, so wie es sich da gestaltet hatte, war mir ein Greuel, und ich lehnte es standhaft ab, mich damit zu bemengen. Noch ärger ward das Ding, als nun demnächst zur Ratswahl selbst geschritten werden sollte. Kabalen kreuzten sich mit Kabalen; einige rechtliche Männer, welche die gesetzliche Stimmenmehrheit für sich gehabt, wurden tumultuarisch wieder ausgestoßen, und ich hörte sogar von tätlichem Handgemenge, worin die Anhänger der verschiedenen Parteien sich bestritten hatten.

So wie ich mir nun in stiller Klage mit andern Biedermännern dies schändliche Unwesen tief zu Herzen nahm und täglich Zeuge sein mußte, wie es immer weiter um sich griff, und eine widerrechtliche Anordnung auf die andre folgte, so konnte ich es nicht länger übers Herz bringen, sondern setzte mich hin und schilderte Seiner Majestät dem Könige unmittelbar und umständlich, mit Gewissenhaftigkeit und Wahrheit, wie alle diese Sachen bei uns ihren Verlauf gehabt. Ich nahm mir dabei den Mut, hinzuzufügen, daß, wenn Se. Majestät die jetzt bestehende Stadtverordnetenversammlung nicht gänzlich kassierte und zur Wahl einer neuen, mittels einer unparteiischen Kommission schreiten ließe, der Wirrwarr immer größer werden und nur mit dem Untergange unsrer gesamten städtischen Wohlfahrt endigen werde.

Es geschah auch, was ich vertrauensvoll gehofft hatte. Der Monarch beschied mich in einer gnädigen Antwort, daß meinem Antrage gemäß die dermalige Stadtverordnetenversammlung von Stunde an suspendiert und dem Minister v. Domhardt die Ernennung einer Kommission aufgetragen sei, um die stattgefundenen Vorfälle genau untersuchen zu lassen und erforderlichenfalls neue rechtmäßigere Wahlen zu verfügen. Einen gleichen Bescheid erhielt ich fast unmittelbar darauf von dem benannten Minister zusamt der Benachrichtigung, daß er den Polizeidirektor Struensee zu Stargard zum Kommissarius in dieser Sache ernannt habe, und auch dieser meldete mir binnen kurzem seine neue Bestimmung, indem er mir zugleich den Zeitpunkt seines Eintreffens in Kolberg anzeigte und mir aufgab, bis dahin meine verschiedenen Klagepunkte gehörig zu ordnen.

Von allen diesen Schritten, die ich lediglich mit mir selbst beraten und ausgeführt hatte, wußte niemand ein leises Wort, und ich hütete mich auch wohl, sie voreilig unter die Leute zu bringen. Weniger zurückhaltend war ich in meinem freimütigen, oft wohl etwas derben Urteil über all den Unfug, der täglich unter meinen Augen vorging, gewesen; denn Schändliches sehen und im gerechten Eifer entbrennen, das ist von jeher ein Überwallen bei mir gewesen, wovon ich weder etwas hinzutun noch lassen konnte. Natürlich waren nun dergleichen Äußerungen, die zudem nicht im Winkel gesprochen worden, den Leuten, die es galt, fleißig zu Ohren gekommen. Die ganze Korporation kam darüber in Harnisch und[331] ernannte eine Deputation aus ihrer Mitte, mit dem Kaufmann S** an der Spitze, um eine Klage wider mich wegen ehrenrühriger Beschuldigungen beim Stadtgericht anzubringen. Die Sache war bereits anhängig geworden und mir ein Termin angesetzt, wo ich erscheinen und mich verantworten sollte.

Es ist ein wunderlich Ding, daß all meine Händel vor der Obrigkeit anfangs immer ein hochgefährliches Ansehen hatten und zuletzt doch ein lächerliches Ende nahmen. Das begab sich auch hier. Ich trat zur bestimmten Stunde vor die Schranken, und der Stadtgerichtsdirektor Harder deutete mir an: ich sei in diesem und jenem durch vorlautes Absprechen und Urteilen über eine löbliche Stadtverordnetenversammlung, wofern die deshalb erhobene Klage gegründet, gar sehr straffällig geworden. Letztere solle mir jetzt vorgelesen und meine rechtliche Verantwortung gewärtigt werden.

»Das möchte sein«, erwiderte ich, indem ich mich zugleich gegen die anwesenden drei gegnerischen Deputierten wandte, »wenn ich nur diese Herren noch für wahre und wirkliche Stadtverordnete anerkennen könnte, nachdem des Königs Majestät sie sämtlich von ihren Ämtern suspendiert hat.« – Ohne mich auch weiter an die großen Augen zu kehren, welche eine so frevelnde Rede hervorbrachte, zog ich das königliche Handschreiben aus der Tasche und gab es stillschweigend in des Direktors Hände. Der nahm und las, erst für sich allein, dann laut und vernehmlich vor allen Anwesenden, was der schon angeführte Inhalt besagte. Ich aber, nachdem ich mich einige Augenblicke an den verlängerten Gesichtern geweidet, erklärte dem Gerichte weiter: »Solchergestalt fände ich auch keinen Beruf in mir, jetzt auf die erhobene Klage weiter zu antworten, wozu sich vielmehr wohl eine andre und bessere Gelegenheit finden werde.«

»Recht gut!« sagte der Direktor mit einiger Verlegenheit, indem er mir das Schreiben zurückgab, und ich mich zum Fortgehen anschickte, »aber wir haben einen Termin abgehalten, und hier sind Kosten aufgelaufen. Wer wird die bezahlen?«

»Nun, das werden die Herren, die sie verursacht haben, sich ja wohl nicht nehmen lassen«, erwiderte ich lachend, und ich hatte recht geraten. Denn sogleich auch erbat sich Herr S** die Erlaubnis, mit sei nen Begleitern auf wenige Augenblicke seinen Abtritt nehmen zu dürfen, und nachdem sie sich draußen beraten, zog jener großmütig seinen Beutel und zahlte der Justiz ihre Gebühren.

Wenige Tage später trat auch der königliche Kommissarius Struensee in dieser Eigenschaft bei uns auf, und meine Anklage gegen die Stadtverordneten und den von ihnen erwählten Magistrat ward in seine Hände übergeben. Ich hatte reichen Stoff gefunden, sie seit meiner ersten Anzeige im Kabinett noch um manches himmelschreiende Faktum zu vermehren, so daß es denn kein kleines Sündenregister gab, welches ich nach und nach bei der Kommission zu Protokoll diktierte und worüber ich die erforderlichen Beweise beibrachte. Andrerseits wurden[332] auch die Angeschuldigten vorgeladen, und nach geführter genauester Untersuchung fiel die Entscheidung dahin aus, daß einige der Schuldigsten förmlich von ihrem Posten entsetzt und zur Bekleidung städtischer Amts- und Ehrenstellen auf immer für unzulässig erklärt wurden.

Nach dieser Reinigung leitete der Kommissarius eine neue, ordnungsmäßige Wahl beider Kollegien ein, wodurch das städtische Interesse besser beraten und allen Gutgesinnten der Anlaß gegeben war, sich zu bessern Hoffnungen für die Zukunft zu erheben. Ihre Stimmen erkoren mich nunmehr zum ersten unbesoldeten Ratsherrn, und zu diesem Stadtamte bin ich seitdem auch bei jeder wiederholten Wahl aufs neue bestätigt worden: – ein Beweis von dem Zutrauen meiner Mitbürger, der meinem Herzen immer sehr wohl getan hat, wiewohl mein seither so sehr viel höher gestiegenes Alter und damit verbundene Schwachheit mich dringend mahnt, mich nunmehr von allen öffentlichen Geschäften vollends zurückzuziehen.

Um die nämliche Zeit etwa, oder kurz vorher, da es jenen kleinen Krieg im Innern bei uns gab, ward mir durch des Königs Gnade eine Auszeichnung zuteil, deren ich mir auf keine Weise hatte gewärtig sein können. Es war Sr. Majestät, ich weiß selbst nicht auf welche Weise, zur Kenntnis gekommen, daß ich einst vor langen Jahren in wirklichem königlichen Seedienst gestanden, und demzufolge ward mir jetzt die förmliche Erlaubnis erteilt, die königliche Seeuniform zu tragen. Warum sollte ich auch leugnen, daß gerade diese Vergünstigung einen tiefen und rührenden Eindruck auf den alten Seemann in mir machte, dessen Patriotismus sich immer und unter allen Himmelsgegenden mit einigem Stolz zur preußischen Farbe bekannt hatte? Zudem fühlte ich mich auch damals noch rüstig genug, meinem Landesherrn auch auf meinem eigentümlichen Elemente in Krieg und Frieden einige nutzbare Dienste leisten zu können, und nur des leisesten Winkes hätte es bedurft, um alles zu verlassen und unter jeder Zone für Preußens Nutzen und Ehre zu leben und zu sterben!

Die Rückkehr unsers gefeierten Königspaares von Preußen nach Berlin im Dezember des Jahres 1809 war ein Ereignis, das meine Seele mit hoher, freudiger Teilnahme beschäftigte. Einem frühern Gerüchte zufolge sollte der Weg dasselbe auch zu uns nach Kolberg führen; aber der Anblick unsrer fast noch rauchenden Trümmer konnte kein erfreulicher und uns selbst es daher kaum wünschenswert sein, das landesväterliche Herz damit zu betrüben. Auch erfuhren wir bald, daß die Strenge der Jahreszeit die nächste und kürzeste Richtung geboten habe und der königliche Reisezug am 21. in Stargard eintreffen werde, um dort einen Rasttag zu halten. Es war also auch zu erwarten, daß die pommerschen Stände und andere Behörden der Provinz sich dort dem Könige vorstellen würden.

Diese Nachricht traf mich am 19. abends in einer Gesellschaft, wo viele würdige Männer unserer Stadt beisammen waren, und schnell und plötzlich flog mir[333] ein Gedanke feurig durchs Herz. »Wie?« rief ich aus, »so viele unsrer Landsleute sollten dort vor dem Könige stehen, ihm ihre frohen Glückwünsche darzubringen, und nur aus unserer Vaterstadt sollte sich niemand zu einer solchen freiwilligen Huldigung eingefunden haben? Das hat weder der König um Kolberg, noch wir um ihn verdient! Seine Gnade hat uns erst unlängst eine Kriegssteuer von nahe an zweimalhundertausend Talern erlassen; bei welcher schicklicheren Gelegenheit könnten wir ihm dafür unsern Dank bringen, als wenn eine Deputation der Bürgerschaft sich jetzt dazu auf den Weg machte? – Vollmacht? Die würden wir von unsern verkehrten Stadtobrigkeiten, wenn es auch noch Zeit zur Beratung und Ausfertigung wäre, umsonst erwarten! Und wozu auch Vollmacht? Trägt sie nicht jeder mit seinem Gefühl der Dankbarkeit im eignen Herzen? Wird dort auch nach Vollmacht gefragt werden, wo wir nichts bitten, nichts verlangen und wo nur allein unsere Glück- und Segenswünsche aus einem begeisterten Herzen hervorquellen werden?«

Alles war meiner Meinung, aber alles glaubte auch, es sei nicht mehr an der Zeit, diesen Gedanken weiter zu verfolgen; denn um ihn zur Ausführung zu bringen und zu rechter Zeit zur Stelle zu sein, würde man noch den nämlichen Abend sich auf den Weg machen müssen. – »Nun, und wenn es sein müßte,« unterbrach ich die kühlen Zweifler, »warum nicht auch schon in der nächsten Stunde? Ich bin dazu bereit, aber ich bedarf noch eines Gefährten. Wer begleitet mich?«

Ringsherum nichts als Schweigen und Kopfschütteln, und schon wollte ich im feurigen Unmute auflodern, als der Kaufmann Herr Göickel mir die Hand reichte, sich mir zum Gefährten erbot, in einer Stunde reisefertig zu sein versprach und nun selber zur Eile trieb, damit wir noch vor völligem Torschluß die Festung im Rücken hätten. Ich selbst übernahm es, die Postpferde für uns zu bestellen.

Glücklich auf den Weg gelangt, bemerkten wir erst draußen auf dem Felde, daß es eine stockdunkle Nacht gab, und daß es schwer halten werde, den rechten Weg nicht zu verfehlen. Wirklich auch hatten wir noch nicht Spie erreicht, als wir mit Unlust inne wurden, daß wir uns seitabwärts nach Garrin verirrt und genötigt waren, auf einem weiten Umwege wieder auf die Poststraße zurückzukehren. Dies machte mich so ungeduldig, daß ich dem Postillon Zügel und Peitsche aus den Händen riß, um selbst zu kutschieren, und es könnte wohl sein, daß ich ihm nebenher einige fühlbare Denkzettel auf den Rücken zugemessen hätte. So ging es langsam weiter, von Station zu Station, ohne daß mein stetes Treiben sonderlich fruchtete oder daß ich auf die Vorstellung meines gleichmütigern Reisegefährten viel gegeben hätte, der mir bemerklich machte, daß wir auf diese Weise mitten in der nächstfolgenden Nacht in Stargard anlangen und dann um so weniger in dem überfüllten Orte ein Quartier für uns auffinden würden. Diese Sorge kümmerte mich aus guten Ursachen ungleich weniger.[334]

In der Tat war es auch, als wir an Ort und Stelle kamen, noch so früh am Morgen, daß wir noch alles in Finsternis und Schlaf begraben fanden. Dies hinderte jedoch nicht, daß ich gleich zunächst dem Tore mir ein Haus drauf ansah, vor welchem ich zu halten befahl. Es wurde abgestiegen, angeklopft und, nachdem es drinnen munter geworden, mit lauter Stimme Herberge begehrt. Die Antwort war, wie sie zu erwarten stand, eben nicht sehr tröstlich: alles sei dicht besetzt und kein Unterkommen mehr möglich. – »Aber, lieben Leute,« rief ich dagegen, »den alten Nettelbeck werdet ihr doch nicht auf der Straße stehen lassen?« – »Nein, wahrhaftig nicht!« scholl eine weibliche Stimme dagegen, »tausendmal willkommen! Da muß sich schon ein Winkelchen finden.« – Und es fand sich auch so bequem und wohnlich, daß wir noch in guter Ruhe einige Stunden ausschlafen konnten. Mein Reisegefährte hatte große Luft, sich über diesen glücklichen Zauber meines bloßen Namens zu verwundern; allein ich entzauberte ihn schnell, indem ich ihm erklärte, daß ich bloß meinen alten, freundlichen Wirt wieder aufgesucht, bei welchem ich vor nicht gar langer Zeit gehauset hätte, als ich hier das Kind meines Freundes, des Regierungsrats Wisseling, aus der Taufe gehoben.

Noch vormittags ward die Ankunft des königlichen Paares erwartet, dessen Zug vor unserm Hause vor über mußte. Wir warfen uns also in unsre Staatskleider – ich in meine Admiralitätsuniform, mein Gefährte in das Kostüm der Bürgergarde, und erwarteten auf einer erhöhten Treppe den für unser Herz so teuern Anblick, dessen Hoffnung bereits überall eine unzählbare Menge um und neben uns versammelt hatte. Wagen auf Wagen, mit dem königlichen Gefolge erfüllt, rollten vorüber. Endlich um zehn Uhr nahte sich der König selbst, neben ihm die Königin sitzend, langsamen Schrittes in einem offenen Wagen. Es klopfte uns hoch in der Brust, und wir verbeugten uns ehrerbietig samt allen übrigen, ohne jedoch darauf rechnen zu können, ob wir bemerkt worden sein würden.

Jetzt aber forderte ich meinen Begleiter auf, dem Zuge mit möglichster Eile zu folgen oder lieber noch zuvorzukommen, um die Gelegenheit zu unsrer persönlichen Vorstellung nicht zu versäumen, bevor der Monarch noch dicht und immer dichter umzingelt würde. Denn was für ein Eulenspiegelstreich wäre es gewesen, uns im Namen einer ganzen Stadt auf den fernen Weg gemacht und dennoch unser Wort nicht angebracht zu haben! Allerdings war das Gedränge um des Königs Quartier unbeschreiblich groß und lebendig, aber mein treuherziges: »Kinder, maakt en betken Platz!« und auch wohl die paar Streifen Gold auf unsern Röcken halfen uns zuletzt glücklich durch das Gewühl, bis wir durch das Spalier des Militärs vorgedrungen waren, uns unter die bunten Gruppen der Offiziere und diensttuenden Adjutanten mischten und so zuletzt die Flur des Hauses erreichten.[335]

Noch kam es darauf an, uns mit unserm Wunsche, vorgelassen zu werden, an den rechten Mann zu wenden, als wir von des Königs Gemächern einen Stabsoffizier die Treppe herniedersteigen sahen, der auf uns zuging und mich freundlich fragte: »Gelt, Nettelbeck, Sie wollen den König sprechen? Dann ist's gerade an der rechten Zeit. Kommen Sie!« – Zugleich faßte er mich und meinen Freund an der Hand und stieg in unsrer Mitte die Treppe hinaus. Nicht ohne seltsame Verwunderung fragte ich ihn: »Wie kommt mir das Glück, daß Sie mich beim Namen kennen?« – »Und darüber wundern Sie sich?« war die Antwort, »bin ich nicht in Kolberg bei Ihnen in Ihrem Hause gewesen?« – Es war der General v. Borstell.

Indem wir oben kamen, fanden wir zwei schwarz gekleidete Männer, Deputierte von der Kaufmannschaft einer benachbarten Stadt, vor der offenen Flügeltür, die zu des Königs Audienzzimmer führte. Der General wies sie vor uns hinein, und wir folgten dann nach. Das ganze große Zimmer war erfüllt von Generalen, Damen und andern Standespersonen, worunter mir die Prinzessin Elisabeth, die von Stettin gekommen war, der General v. Blücher und andre bemerkbar wurden. Alles blitzte von Ordenszeichen jeder Art und Gattung, und es gab eine feierliche Stille, bis der König hereintrat samt seiner königlichen Gemahlin, und die Anwesenden ihnen nach der Reihe vorgestellt wurden.

Vor uns traten die genannten beiden Deputierten vor, die etwas beklommen schienen und überaus leise sprachen, so daß uns davon sowie von des Königs Antwort wenig oder nichts hörbar wurde, und was auch hier zur Sache nicht gehört. Als sie sich darauf zurückgezogen hatten, wandten beide hohe Personen sich zu uns, und mich anblickend, fragte der König: »Nicht wahr, der alte Nettelbeck aus Kolberg?« – und dann, während wir unsre Verbeugung machten, zu meinem Gefährten gekehrt: »Die Kolberger sind mir willkommen.«

Wir hatten im voraus verabredet, uns, wenn es dahin käme, in unsern Vortrag zu teilen, damit wir nicht beide durcheinander sprächen. Ich hub demnach an: »Ew. Majestät geruhen gnädigst, uns zu erlauben, daß wir im Namen unserer Mitbürger Ihnen fußfällig unsern Dank bringen für die große Gnade und Wohltaten, die Sie unsrer guten Vaterstadt haben angedeihen lassen. Wir haben dafür kein anderes Opfer als die abermalige Versicherung unserer unerschütterlichen Treue; nicht allein für uns, sondern auch für unsre spätesten Nachkommen, denen wir mit gutem Beispiel vorangegangen sind. Stets soll es ihnen in Herz und Seele geschrieben bleiben: Liebt Gott und euern König, und seid getreu dem Vaterlande!«

Hierauf wandte sich der König halb gegen uns und halb gegen die hinter ihm stehende glänzende Versammlung und sprach in lebendiger Bewegung die Worte: »Kolberg hat sich bereits im Siebenjährigen Kriege treu gehalten und dadurch die Liebe meines Großoheims erworben. Auch jetzt hat es das Seinige[336] getan, und wenn ein jeder so seine Pflicht erfüllt hätte, so wäre es nicht so unglücklich ergangen.«

Jetzt nahm mein Freund das Wort und äußerte, wie nahe es uns gehen würde, wenn unsre Gegenwart bei Sr. Majestät eine unangenehme Erinnerung aufregte; allein die Gefühle unsrer dankbarsten Verehrung hätten uns nicht zurückbleiben lassen wollen, und ganz Kolberg teile unsere Gesinnungen. Der König erwiderte darauf: »Ich weiß es, wenn früh oder spät einmal es die Umstände gebieten, werden die Kolberger auch gern wieder für mich auftreten.«

Hier fing ich Feuer und brach begeistert aus, indem ich mit der Hand auf mein Herz schlug: »Ew. Majestät, dazu lebt der freudige Mut in uns und unsern Kindern, und verflucht sei, wer seinem Könige und Vaterlande nicht treu ist!« – »Das ist recht! Das ist brav!« versetzte der Monarch, und als er darauf fragte, wie wir sonst in Kolberg lebten, gab ich zur Antwort: »Gut, Ew. Majestät! Kleinigkeiten machen wir unter uns ab, und ist es was Bedeutendes und wir können nicht durchkommen, da wenden wir uns geradezu an Ew. Majestät. Wir hoffen, Sie werden uns nicht sinken lassen.«

»Nein, nicht sinken lassen, nicht sinken lass' ich euch!« rief der König, wobei er mir die Hand entgegenbot. – »Wendet euch nur an mich, und was zu erfüllen möglich ist, soll geschehen.« – Dann fragte er, ob wir eigentlich dieserhalb gekommen wären oder ob uns andere Geschäfte nach Stargard führten? – »Kein anderes Geschäft als der Auftrag der Unsrigen«, entgegnete ich, »und eben dadurch wird dieser Tag der glücklichste unsres Lebens.«

Jetzt beurlaubte uns der König mit den Worten: »Ich danke euch! Grüßt eure guten und braven Mitbürger und sagt ihnen: auch ihnen dankte ich für die Treue und Anhänglichkeit, die sie mir erwiesen haben. Haltet immer auf Religion und Moralität.« – Als wir uns darauf verbeugten und Miene zum Abtreten machten, sagte der König: »Sie bleiben noch hier!« – worauf auch bald hernach die Königin sich uns näherte, neben ihren Gemahl trat und sich mit gütigem Lächeln und der Bemerkung zu uns wandte: »Wir haben uns heute schon gesehen«; und der Monarch fiel ihr ein: »Nicht wahr? Ich hatte doch recht geraten?« – So ergab sich's denn, daß ich oder meine Uniform dem königlichen Paare bereits im Vorbeifahren aufgefallen sein mußte. Sie aber fuhr fort zu mir: »Ich bin gewiß recht froh, Sie hier zu sehen und persönlich kennenzulecnen.« – »Und ich«, war meine Antwort, »ich danke Gott dafür, daß er mich den Tag hat erleben lassen, wo meine Augen den guten König und unsere allgeliebte Königin in solchem Wohlsein erblicken. Der Name des Herrn sei dafür gelobt!« – So erhielten wir nunmehr unsre gnädige Entlassung, eilten nach unserm Gasthofe zurück und waren von Herzen froh, unser Geschäft so wohl und mit solchen Ehren abgetan zu haben.[337]

Indes hatte mein Freund sich entfernt, um einige Besuche in der Stadt bei seinen Bekannten abzulegen, als etwa nach einer Stunde ein königlicher Page, der uns lange vergeblich gesucht und erst durch den Polizeidirektor Struensee hatte ausfindig machen können, zu mir eintrat, um uns zur königlichen Tafel einzuladen. Es war spät, mein Gefährte war abwesend, und ich mußte mich entschließen, ohne ihn zu gehen. Im Tafelzimmer hatte auch schon alles seine Plätze eingenommen. Als ich dann mich dem Könige präsentierte, fragte er nach meinem Mitdeputierten, und als ich darauf nichts Genügendes zu erwidern wußte, fiel ein ungnädiger Blick auf den Pagen, der noch nächst der Tür stand, daß er seinen Auftrag so unvollständig ausgerichtet.

Ein Kammerherr führte mich zu meinem Sitze hin, wo rechts der General v. Pirch und links der General-Chirurgus Görke meine Tischnachbarn waren. Beide unterhielten sich mit mir während der Tafel aufs freundlichste, und ersterer erbot sich, heute abend zu dem großen Ball, der von der Stadt veranstaltet worden, seinen Wagen zu meiner Abholung bei mir vorfahren zu lassen, was mit herzlichem Dank angenommen wurde.

Nach aufgehobener Tafel machte ich, wie ich es die andern tun sah, dem königlichen Paare das stumme Zeichen meiner Verehrung und war im Begriff, gleich jenen mich zu entfernen, als der König mich noch bleiben hieß und dann der Königin einen Wink gab. Hierauf kam dieselbe herbei und führte mich in ein besonderes Nebengemach, wo ich nun mit einer freudigen Überraschung mich ohne Zeugen dem hohen Paare gegenübergestellt fand. Beide taten eine Reihe von Fragen an mich, die ich nach bestem Vermögen beantwortete, deren Inhalt aber nicht in diese Blätter gehört. Mein Herz geriet dabei je mehr und mehr in eine hohe Bewegung.

Als 19 etwa nach einer halben Stunde eine kleine Stockung in dem Gespräche entstand und ich dem Könige so recht zuversichtlich in die Augen sah, befiel mich plötzlich eine über alles schmerzliche Empfindung. »Gott!« dachte ich, »wie unglücklich ist doch mein König!« und unwillkürlich erhoben sich meine Blicke sowie meine gefalteten Hände gen Himmel. Mein Atem stockte.

Da legte mir der König seine Hand auf die Schulter und fragte mit unendlicher Güte: »Haben Sie noch etwas auf dem Herzen?« (Denn aus meinem seltsamen Benehmen mochte er schließen, daß ich vielleicht noch etwas zu erbitten wünschte.) – Nun aber brachen meine Gedanken in Worte aus: »Ach, wenn ich Ew. Majestät und meine gute Königin jetzt so vor mir sehe und bedenke das Unglück, was Sie noch immer so schwer zu tragen haben: dann ist mir's, als müßte mir das Herz aus dem Leibe entfallen. Gott erhalte Ew. Majestäten und gebe Ihnen Kraft und Stärke, daß Sie diese harte Schicksalsprüfung bald und glücklich überstehen mögen.«[338] Bei diesen meinen Worten senkte der König sein Haupt auf die Brust, und die hellen Tränen entfielen seinen Augen; die Königin aber streichelte ihm still die Wangen und weinte auch. Dieser erschütternde Anblick lockte auch mir die Zähren in die alten Augen, und mein Herz ward immer weiter, und ich sprach zu der hohen, herrlichen Frau: »Ja, Gott erhalte auch Sie, meine gute Königin! zum Troste meines Königs; denn ohne Sie wäre er schon vergangen in seinem Unglück.« – So standen wir beiderseits noch einige Minuten in herzinniger Bewegung, ohne daß unsre Augen trocken wurden. Nach dem ich mich jedoch ein wenig gefaßt hatte, drückte ich Ihren Majestäten meinen gerührten Dank aus für so viel erwiesene Gnade, und noch im Abgehen rief der König mir nach: »Halten Sie bei Ihrer guten Bürgerschaft auf Sitte und gute Ordnung!« – und mit der Antwort: »Daran soll es wahrlich nicht mangeln« – schied ich von dannen.

Auf dem Balle, zu dem wir nach des Königs ausdrücklicher Bestimmung eingeladen worden, verweilten wir des starken Gedränges wegen nur kurze Zeit. Des nächsten Morgens reisten wir ab, und zufolge den Wünschen meines Freundes begleitete ich ihn nach Stettin, wohin ihn Geschäfte führten und wo uns eine sehr freundliche Aufnahme zuteil ward, so daß wir mehrere uns zugedachte Güte und Auszeichnung von uns ablehnen mußten, weil ich mich noch zum Feste wieder nach Hause sehnte und mich überdem ein wenig kränklich fühlte. Mein Geist aber war frei und froh, und es mag auch wohl sein (was mein Reisegefährte behauptet, und wessen ich mich gleichwohl wenig mehr entsinne), daß ich manches holländische Liedchen für mich gesungen habe. Das aber kommt nur an mich, wenn meine Seele im innern geistigen Wohlbehagen schwelgt.

Das war also mein kurzes, aber erfreuliches Leben am Hofe! In ein längeres hätte ich mich freilich schlecht zu schicken gewußt, und überdem wäre mir dadurch meine gute, ehrliche Pfahlbürgerei vielleicht verleidet worden, zu welcher ich nun mit zwiefachem Behagen zurückkehrte, und wobei ich mich ohne Zweifel auch besser befand. Ich hatte meine frühere Hantierung, soviel meine verminderten Vermögensumstände es zuließen, klein und bescheiden wieder angefangen und fand dabei als ein einzelner Mann von wenig Wünschen und Anforderungen auch mein notdürftiges Auskommen. Ich würde sogar sagen können, daß ich glücklich und zufrieden lebte, wenn ich irgend bei meinen Hausgenossen, durch die ich meine Geschäfte betreiben mußte, nur etwas von der Treue und Anhänglichkeit gefunden hätte, auf die ich rechnete, und die ich bedurfte. Wenn aber das Gesinde, gegen frühere Zeiten gehalten, schon vor dem Kriege ziemlich aus der Art geschlagen schien, so hatte es nunmehr der Krieg selbst und das Beispiel der lockern französischen Sitten vollends verdorben, und wenn ich auch zugeben wollte, daß ich mit meinen vorgerückten Jahren in meinen Forderungen an die junge Welt[339] etwas strenger und mitunter auch wohl wunderlicher geworden, als jene gutheißen wollte, so ist's darum nicht minder wahr, daß die, so mich zunächst umgaben, nur ihrem eignen, unerlaubten Nutzen nachgingen und mich in meinem Haushalte auf jede mögliche Weise übervorteilten.

Da fiel mir's denn schwer und immer schwerer aufs Herz, daß ich so ganz abgesondert und verlassen in der Welt dastand. Ich zählte bereits fünfundsiebzig Jahre, und in meinen Gedanken hatte ich meine Lebensrechnung sehr viel früher abgeschlossen. Was sollte mit mir werden, wenn Gott mich noch nicht wollte, wenn nun die unvermeidlichen Schwachheiten des Alters näher herzutraten, wenn Kränklichkeit und körperliche Leiden bei mir überhand nahmen, wenn meine edleren Sinne mich verließen, wenn ich unvernehmlich und kindisch würde? – Mir grausete, wenn ich auf diese Weise in die Zukunft blickte! Meine Freunde, denen ich aus diesen Betrachtungen kein Geheimnis machte, rieten mir lachend, aber bald auch im guten und wohlgemeinten Ernste, zuversichtlich noch einmal in den Glückstopf des Ehestandes zu greifen. Ich hingegen schüttelte mächtig den Kopf; – ein Bräutigam mit drei Vierteln eines Säkulums auf dem Nacken! Überdem: wer, wie ich, bereits zwei so böse Nieten aus jenem Topfe gezogen, hätte der sich's wohl zugetraut, das drittemal mit dem großen Lose davonzugehen?

Dennoch war der Gedanke ein Feuerfunke in meiner Seele, der unablässig darin fortglimmte und all mein Sinnen und Streben beschäftigte. Es ließ sich nicht leugnen, daß der Ruhe und dem Wohlsein meines Lebensabendes nicht füglicher geraten werden konnte, als durch eine Gefährtin, die mir aus Güte und Wohlwollen die Pflege, welche ich aus bezahlter Hand nur widerwillig erhalten haben würde, mit unendlich treuerer Sorgfalt erwiese. Allein wie konnte und durfte ich Greis irgendwo erwarten, daß ein Frauenherz, zu solchen Gesinnungen fähig, den eigenen Anspruch ans Leben dergestalt verleugnen sollte, um es mit mir zu wagen? – Ich fing wiederum an, den Kopf noch mächtiger zu schütteln.

Da traten nun endlich meine Freunde im Ernste zu, und ihrem Rate wie ihren Vorschlägen danke ich's, daß nicht nur meine tausend Bedenklichkeiten besiegt, sondern auch die Einleitungen zur Verwirklichung meines Entschlusses aufs glücklichste getroffen wurden. Ihre Bemühungen führten mir eine würdige und erwünschte Gattin zu, die nicht nur den Pflichten einer Hausfrau im vollen Umfange zu genügen verstand, sondern die auch durch eine gute Erziehung, Milde der Gesinnung und reine Güte des Herzens mir in Wahrheit ein großes Los, wie ich es nimmer gehofft hätte, geworden ist. Tochter eines würdigen Landpredigers in der Uckermark, war sie zwar früh zur Waise geworden; aber unter der Fürsorge liebreicher Verwandten hatten sich Herz und Geist bei ihr trefflich gebildet, und es fehlte ihr an keinem Bedingnis für die Bestimmung zu einem stillen, bürgerlichen Leben und Wirken. Was ich damals schon mit völligster Überzeugung aussprach, das hat sich mir jetzt nach beinahe zehn Jahren noch wahrhafter erwiesen:[340] gerade so und nicht anders mußte mir der gnädige Gott eine Gefährtin zuweisen, wenn sie der Trost und die Stütze meines Alters sein sollte!

So ward ich denn im Jahre 1814 der glücklichste Ehegatte und bin es noch; allein was den Leser dieser Blätter vielleicht noch weit mehr überraschen wird – ich ward gleich im nächsten Jahre auch Vater. Ein liebes Töchterchen ward mir geboren und lebt, wächst und gedeiht zu unsrer herzinnigen Freude. Gleicht es einst der Mutter, wie ich mir das verspreche, an Sinn und Gemüt, so bleibt mir kaum noch etwas zu wünschen übrig. Was vom Vater auf sie vererben kann und auch vererben soll, ist freilich nicht viel; doch habe und hege sie nur meine Scheu vor Unrecht und meine es gut und redlich mit allen Menschen, so wird auch dieses geringe Erbteil ihr reichlich wuchern! – Ich nahm mir das Herz, Se. Majestät um die Übernahme der Patenstelle bei meinem Kinde zu ersuchen. Des Königs Gnade bewilligte mir nicht nur diese Bitte, sondern erlaubte dem Täufling auch, in einer teuern Erinnerung den Namen Luise zu führen.

Noch führte ich mein Gewerbe einige Jahre mit günstigem Erfolge fort; als aber in den Jahren 1817 und 1818 die Gewerbscheine zum freien Betrieb aller Hantierungen im Staat immer allgemeiner verbreitet wurden, sah ich meinen Nahrungsverkehr fast gänzlich eingehen; denn belastet mit allen städtischen Abgaben war es länger nicht möglich, mit dem vom platten Lande hereingeführten Branntwein Preis zu halten. Mir blieb auf diese Weise nichts übrig, als diese Fabrikation ganz aufzugeben, wie wenig ich auch in meinem hohen Alter eine Aussicht gewann, mich in eine andre Beschäftigung zu werfen und dadurch meinen täglichen Unterhalt zu sichern. So begann denn meine häusliche Lage in Wahrheit bedenklich zu werden.

Gleich nach geendigter Belagerung hatte der edle Gneisenau, der um die mancherlei Einbußen wußte, denen ich während derselben ausgesetzt gewesen, sich gegen mich erboten, mir zur Schadloshaltung eine königliche Pension zu erwirken. Mein Ehrgefühl lehnte sich dagegen auf, und mit tränenden Augen bat ich ihn, von diesem Gedanken abzustehen; denn damals waren meine Umstände noch immer leidlich, und ich hatte niemand zu versorgen. Gegenwärtig aber, da meiner Lebenslast noch zehn Jahre mehr zugewachsen waren, standen meine Sachen um vieles anders; die einst so laute Stimme in meinem Herzen mußte verstummen, und ich erkannte es mit dankbarer Rührung, als die Huld meines guten und gnädigen Königs hier ins Mittel trat und mir ein jährliches Gnadengehalt von zweihundert Talern aussetzte, wovon auch nach meinem Tode die Hälfte auf meine Witwe übergehen wird. Nicht minder ward meiner kleinen Tochter zu ihrer Erziehung eine Stelle in dem Luisenstifte zugesichert oder nach meinem und der Mutter bestem Befinden eine Novizenstelle in dem hiesigen Jungfernstifte vorbehalten. Gottlob! Nun werden meine Lieben nicht ganz verlassen sein, und ich werde mein Haupt ruhig niederlegen![341]

Solchergestalt hätte ich allem menschlichen Absehen nach nunmehr mit Welt und Leben so ziemlich abgeschlossen, und ich dürfte hier wohl die Feder niederlegen, wenn ich nicht noch ein paar Schwachheiten zu beichten hätte, die mich noch in so späten Jahren versucht haben, mich dennoch mit Welt und Leben wieder zu bemengen.

Was für ein sonderbares Ding es um das Projektmachen sei, das habe ich im lebendigen Beispiele an mir selbst erfahren. Der freundliche Leser erinnert sich ohne Zweifel noch, was für ein seines Plänchen zu einer preußischen Kolonie am Kormantin ich schon seit den siebenziger Jahren auf dem Herzen trug, und wie ich nach unsers großen Friedrichs Tode einen neuen, herzhaften, aber vergeblichen Anlauf nahm, denselben zur Wirklichkeit zu bringen. Seitdem hatte ich nun noch von englischen Seeleuten hier im Hafen wiederholt vernommen, daß ihre Landsleute längst zugegriffen und jene wüsten Landstriche mit Glück angebaut hätten. Wer sollte nun nicht gemeint haben, daß endlich jeder Gedanke solcher Art aus meinem Hirne gewichen sei. Ich glaubte es selbst, und schalt mich oft einen Toren, daß ich so etwas hatte träumen können.

Allein das bunte Traumbild war nicht entwichen, sondern hatte sich nur in den dunkelsten Hintergrund meiner Gehirnkammern bis auf gelegenere Zeit zurückgeschoben. Wunderbare Dinge waren vom Jahre 1812 an vor den Augen der erstaunten Zeitgenossen wie vor den meinigen vorübergegangen; die Welt war plötzlich eine andre geworden; Frankreichs Übermacht lag zu Boden, und unser geliebtes Vaterland hatte sich von seinem tiefen Falle glorreich wieder aufgerichtet. Mein altes Herz schlug mir jugendlich freudig bei jeder neuen Großtat, welche die preußischen Waffen verrichtet; ich sah den Staat auf dem Wege, eine immer glänzendere und ehrenvollere Stelle unter den europäischen Mächten einzunehmen. Da erwachte plötzlich auch mein alter, langgenährter Lieblingswunsch in der Seele; ich wollte Preußen auch jenseits der Weltmeere groß, blühend und geachtet sehen; es sollte seine Kolonien gleich andern besitzen!

Bald ließ es mir bei Tag und Nacht keinen Frieden mehr. Während die verbündeten Heere im Jahre 1814 den Kampf der Entscheidung auf französischem Boden vollends ausfochten (ich selbst hatte damals noch keine Ehestandsgedanken, die mir sonst wohl den Kopf zurechtgesetzt haben würden), mußte ich, um es nur vom Herzen loszuwerden, mich hinsetzen und an meinen hochverehrten Gönner, dem seine glänzenden Erfolge im Felde eine ebenso gerechte als vielfache Bedeutsamkeit im Staate erworben hatten, etwa in folgenden Worten schreiben:

»Bereits seit vielen Jahren hat mir in meinem Herzen ein Wunsch für König und Vaterland gebrannt, und ich glaube, die Vorsehung hat gerade jetzt Zeit und Umstände zu dessen möglicher Erfüllung herbeigeführt. Dieser Gedanke drückt und drängt mich auch dermaßen, daß ich mich nicht enthalten kann, ihn hier vor Ew. etc. auszuschütten. Mögen Sie dann auch von mir denken,[342] wie Sie wollen, oder mich auch gar damit auslachen! Gott weiß, ich meine es dennoch von Grund des Herzens gut. Aber zur Sache!

Frankreich ist an unsern preußischen Staat mehr schuldig, als es uns jemals wird ersetzen können. Sollte aber ein solcher Ersatz nicht auf andre Weise zu leisten sein, indem es uns in dem bevorstehenden Frieden (der hoffentlich von Preußen und den verbundenen Mächten diktiert werden wird), und unter Englands Genehmigung eine bereits in Kultur stehende französische Kolonie in Amerika abträte? – z.B. Cayenne mit ihrem Zubehör auf dem festen Lande oder eine andre in guter Kultur stehende Insel unter den Antillen, wie Grenada mit den dazu gehörigen Grenadillen oder Dominica. So würden wir die Kolonialwaren, die uns nun einmal ein Bedürfnis geworden sind und wofür so große Summen aus unserm Lande gehen, für unsre selbst erzeugten einheimischen Produkte aus jenen Kolonien unter eigner Flagge und Wimpel eintauschen können. Schweden und Dänemark sind ungleich ärmer an inländischen Erzeugnissen und finden dennoch ihren Vorteil dabei, ihre westindischen Besitzungen in St. Thomas und St. Barthelemy zu unterhalten.

Daß dieser Handel nicht durch Aktien leicht zustande kommen sollte, leidet wohl keinen Zweifel, da unsre Kapitalisten gern ihre Fonds darin anlegen würden. Nicht nur könnten die Kapitalien assekuriert werden, sondern auch die Assekuranzprämien im Lande selbst verbleiben. – Auch fehlt es uns jetzt nicht an gründlich unterrichteten Seeleuten. Ich selbst an meinem geringen Teile habe dazu, wie bekannt, seit dreißig Jahren mitgewirkt, indem es mein Lieblingsgeschäft gewesen ist, eine Steuermannsschule zu unterhalten, worin mehrere tüchtige Seemänner gebildet worden, welche auch jene entfernteren Meere und Gewässer zu befahren wohl imstande sein würden.

Ich habe mich hiermit unterwunden, nur ein kleines, schwaches Bild aus meiner Gedankenwerkstatt zu entwerfen; Zeit und Umstände mögen lehren, ob es von den Weiseren und Machthabern nicht lebendiger auszumalen sein möchte. Meinesteils schreibe und urteile ich nur als alter Seemann, der ich in meinen jüngeren Jahren und wiederum von 1770 ab längere Zeit in holländischen und englischen Diensten jene amerikanischen Küsten und Gewässer in allen Richtungen befahren habe, Jetzt bin ich 75 Jahre alt; sollte es aber noch gelingen, daß meine Vorschläge irgend zu ihrem Zwecke führten, so würde ich mir die Gnade erbitten, das erste preußische Schiff selbst dorthin führen zu dürfen.«

Zweifle niemand, daß ich mir in diesem letztern Erbieten nicht treulich Wort gehalten hätte! Ich fühlte damals meine Kräfte im ganzen noch ungeschmälert, und was hätte nicht vollends der Feuereifer vermocht, womit die Erfüllung meines Lieblingsgedankens mich beseelt haben würde! Allein diese Erfüllung stand nun einmal nicht im Buche des Schicksals geschrieben, und ich gab mich endlich gern in den Gründen zufrieden, welche mir in der wohlwollendsten[343] Gesinnung, als gegen meinen Vorschlag streitend, aufgestellt wurden, z.B. daß es das System unsers Staates sei, keine Kolonien in auswärtigen Weltteilen zu haben, daß, wie vorteilhaft es sonst auch sein möge, durch Absatz der Produkte des Mutterlandes die Kolonialwaren einzutauschen, uns hingegen ein solcher Besitz nur abhängig von den Seemächten machen würde usw. Das ließ sich hören, und dem war denn auch weiter nichts zu entgegnen, wenngleich mein schönes Projekt darüber in den Brunnen fiel.

Und doch ist es das einzige nicht, was mir in meinen alten Greisentagen den Herzensfrieden stört und mitunter die schlaflosen Nächte wohl noch unruhiger macht; obwohl man mich ebensogut um des einen wie um des andern willen tadeln möchte, daß ich mir Dinge zu Herzen nehme, die mich nicht kümmern sollten. Und doch dürfte ich wohl fragen: warum nicht kümmern? In jenem war mir's lediglich um die Ehre und den Vorteil meines lieben Vaterlandes zu tun, die mir bis zum letzten Hauche meines Lebens teuer sein werden. In dem andern, das ich noch nennen will (obzwar ich es am Ende auch für eine Schwachheit meines von jeder Mißhandlung, welche Menschen gegen ihresgleichen üben, tief verwundbaren Herzens halte), sorge und bekümmere ich mich als Mensch und für die Ehre und den Vorteil der Menschheit. Wann will und wird bei uns der ernstliche Wille erwachen, den afrikanischen Raubstaaten ihr schändliches Gewerbe zu legen, damit dem friedsamen Schiffer, der die südeuropäischen Meere unter Angst und Schrecken befährt, keine Sklavenfesseln mehr drohen?

Wenn ich das noch heute oder morgen verkündigen höre, dann will ich mit Freuden mein lebenssattes Haupt zur Ruhe niederlegen![344]

Quelle:
Nettelbeck, Joachim: Eine Lebensbeschreibung, von ihm selbst aufgezeichnet. Meersburg, Leipzig 1930, S. 317-345.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Eine Lebensbeschreibung, von ihm selbst aufgezeichnet
Joachim Nettelbeck, Burger Zu Colberg (3); Eine Lebensbeschreibung, Von Ihm Selbst Aufgezeichnet
Bürger zu Kolberg: Eine Lebensbeschreibung, von ihm selbst aufgezeichnet

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