1. Aufzeichnungen: mein Leben, insbesondere mein öffentliches Amt als Theologe betreffend

25. Febr. 1899.


Heute ist Mama's Todestag. Er ist zum Anfang dieser Aufzeichnungen nicht ausgewählt. Gestern gerade, wo ich für diesen Anfang schon bestimmt den heutigen Tag in Aussicht nahm, ist mir die Bedeutung, die dieser Tag für mich hat, nicht ein einziges Mal durch den Sinn gekommen, und noch heute früh hatte ich schon mehr als einmal an meine Hauptabsicht für heute gedacht, bis mir der Kalender meinen Gedächtnistag plötzlich einfallen ließ. Nun, wie dem auch sein mag, ein gleichgültiger Tag ist es jedenfalls nicht, auf den mich mit diesem Anfang gewissermaßen der Zufall gerathen ließ. Überdies habe ich bei diesem Zusammentreffen noch einen 2ten Punkt zu bedenken.

Was ich soeben einen Anfang nenne, ist dies im strengen Sinne nicht. Der Anfang tagebuchartiger und autobiographischer Aufzeichnungen mußte freilich in meinem Leben ein Datum sein. Denn die längste Zeit meines Lebens haben Aufzeichnungen der bezeichneten Art mit vorzüglich fern gelegen, und ich bin ihnen auch ebenso lange streng fern geblieben. Allein heute ist der Tag nicht, wo ich diese mir nur zu natürliche Enthaltung zum ersten Male unterbreche. Mit dem Gedanken an solche Unterbrechung habe ich einmal schon vom Tage an, da ich mein hiesiges theologisches Lehramt niederlegte (Frühj. 1897) nur zu spielen, und zwar selten und nur sehr zerstreut zu spielen, kaum aufgehört. Ich stand schon damals vor der Alternative, ob ich die eroberte Muße dazu brauchen wolle, zum Abschluß meiner gelehrten Arbeiten, zur Aufarbeitung des Papierberges, den ich für diesen Zweck vor mir selbst aufzuführen schon den größten Theil meines Lebens verbraucht hatte, zu gelangen, oder es[31] vorzöge, mich den persönlichen Fragen zuzuwenden, denen nun die vorliegenden Blätter gewidmet sein sollen. Die Entscheidung war schwer. Auf dem Spiele stand dabei einerseits jener Papierberg, der Rohertrag vieler Arbeit und doch auch immerhin ein Schacht, aus dem sich manches auch für Andre nicht Unbrauchbare, wie ich meine, wohl holen läßt. Ob aber auch nur das Geringste davon jemals ein anderes Licht zu sehen bekommen wird als das meines Ofens, steht dahin, sobald ich meine Hand davon abziehe. Für die andere Seite der bezeichneten Alternative aber fiel doch jedenfalls schwer ins Gewicht die Reihe der Motive, die ich heute nicht weiter entwickle, weil sie sich, denke ich, aus den Ausführungen der folgenden Seiten noch in aller Deutlichkeit ergeben sollen. Ich entschied mich damals dafür, mich an jenen Papierberg zu machen, um zunächst zuzusehen, wie weit ich noch mit seiner Aufarbeitung käme, stellte mir mit einem Verzeichniß einiger kirchenhistorischer Probleme, die ich daraus noch zu holen und zu behandeln gedächte, ein allgemeines Arbeitsprogramm zusammen und ging zunächst an eine Umarbeitung meines schon gedruckten Programms von 1892 über die Anfänge der Kirchengeschichtsschreibung. Mit den Gedanken daran, daneben stets auch die persönlicheren Confessionen, mit denen ich heute beginne, im Auge zu behalten und ohne Bedenken darüber, daß diese jedenfalls auch noch ihre Zeit finden sollten. Für einen Mißgriff bei meiner Entscheidung war es auf jeden Fall bedenklich spät. Weniger noch meiner damaligen 60 Jahre wegen, als um des Bewußtseins willen, das ich, auch ohne allgemeine Erwägung dieses Lebensalters, in Hinsicht auf die Reduction der Kräfte hatte, über die ich Verfügung traf. Dennoch darf ich mich dem Gedanken nicht verschließen, daß ich mich damals vielleicht vergriffen habe. Ich sagte mir, daß ich für eine abschließende Fortsetzung meiner kirchenhistorischen Studien ungleich besser vorbereitet sei als für mir ganz ungewohnte Aufzeichnungen aus meinem Leben, und das war nun unzweifelhaft[32] richtig. Damit ist noch nicht gesagt, daß die auf Grund dieser richtigen Erwägung getroffene Entscheidung auch richtig gewesen ist. Denn hat damals wirklich nur diese Erwägung entschieden? Ist nicht auch eine gewisse Schwäche meinerseits mindestens mit ins Gewicht gefallen; eine Schwäche doppelter Art. Einmal für meine Collectaneen, eine schließlich nur in Überschätzung ihres Werthes und des daraus herauszuschlagenden Erfolges gegründete Scheu davor, sie zu derelinquiren und ihrem Schicksal, d.h. wie schon gesagt, ihrem Ruin zu überlassen. Ferner ein für mich zumal bekämpfenswerther Hang zur Bewegung in den Geleisen meiner Gewohnheit, dem gemäß ich wieder einmal mit verwerflicher Nachgiebigkeit scheu vor einer Arbeit zurück wich, der ich vor allem vorzuwerfen hatte, meinem Naturell zuwider zu sein. Diesem Naturell hatte ich mich aber vielleicht schon ohnehin bis dahin nur allzu bequem hingegeben, durch die consequente Durchführung der Enthaltung von allen persönlichen Aufzeichnungen ernsterer Art. Indessen wie ich auch selbst vom problematischen Character der Motive denken mag, die meine Entscheidung vom Frühjahr 1897 herbeigeführt haben, gewiß ist, daß inzwischen auch die damit gemachten Erfahrungen mannigfach Anlaß zu Zweifeln geboten haben an der Richtigkeit jener Entscheidung. Ich mache damit nun schon die 2te Krisis durch. Die erste kam über mich schon um die Jahreswende 1897/8, also noch vor Ablauf eines Jahres seit der getroffenen Entscheidung, und sie veranlaßte mich damals schon einmal darauf zurückzukommen.


17. Apr. 1899.


So lange ist diese Aufzeichnung unterbrochen worden, theils durch abziehende Lectüre theils und insbesondere durch die am 19. März aus besonderem Anlaß begonnene und am 13. Apr. zum Abschluß gekommene Aufzeichnung über die Harnacksche Recension meines Herbstprogramms von 1898,[33] mit der ich bis auf Weiteres, für mich wenigstens mit dieser Recension wenn nicht überhaupt fertig geworden zu sein annehme. Vgl. unter meinen Eusebiusheften das mit der Aufschrift »Replik auf die Harnack'sche Recension meines Programms von 1898« versehene. Ich nehme nun meine am 25. Februar begonnene Aufzeichnung wieder auf, in der Hoffnung nun auch mit ihr im Wesentlichen zum Abschluß zu kommen.

Die oben besprochene erste Krisis, welche meine zunächst aufgenommenen Studien über Eusebius um die Jahreswende 1897/8 unterbrach und deren mir gebliebene Documente ich schon aufgeführt habe, erfuhr nun selbst wieder eine vorläufige Stillstellung durch die Wiederaufnahme meiner Eusebiusstudien im Frühjahr mit der Fortsetzung der Kenntnisnahme von Harnack's einleitenden Untersuchungen in dessen Geschichte der altchristlichen Litteratur Bd. I S. 3 ff., aus welcher dann im Sommer das gedruckte Universitätsprogramm vom Herbst 1898 hervorging. An dies schloß sich gleich nach Abschluß des Druckes Ende October 1898 die Fortsetzung meiner Eusebius Studien unmittelbar an, bei denen ich zunächst die 2te Halmelsche Abhandlung zur Kirchengeschichte (Die palästinensischen Märtyrer des Eusebius von Caesarea, Essen 1898) zu studieren hatte. Doch mußte ich, sobald ich damit fertig war, diese Abhandlung, deren Verwerthung und Würdigung einem späteren Capitel meiner »Eusebiusstudien« vorzubehalten war, selbst bis dahin zurückstellen, und ich nahm noch im Nov. 98 die schon am Schluß meines Herbstprogramms von 1898 S. 43 ins Auge gefaßte nächste Fortsetzung meiner Arbeit über die Bischofslisten des Eusebius vor. Allein schon Ende Januar 1898 schob sich, im Interesse eines zweckmäßigeren Anfangs für die von mir nun ins Auge gefaßte Veröffentlichung meiner Eusebiusstudien ein Stück davon vor, und ich beschloß, bevor ich die 3 den Bischofslisten des Eusebius zu widmenden Capitel fortführte, meinen schon längst geplanten Commentar[34] zur Vorrede des Eusebius an die Hand zu nehmen. Zugleich rundete sich auch der ganze Plan für die Anordnung der ganzen Reihe meiner Eusebius Studien zu der Form ab, die nun in der Aufzeichnung vom Febr. 1899 auf dem »Eusebiusstudien-Programm dazu« u.s.w. überschriebenem Blatte vorliegt, das ich den einleitenden Blättern des vorliegenden Heftes eingereiht habe. So wuchsen sich aber meine Eusebiusstudien unter der Arbeit zu Dimensionen aus, die schon für sich mich nur wieder mit Bedenken darüber erfüllten, ob sie nicht, indem mir ihr Abschluß unabsehbar wurde, überhaupt das Zustandekommen der von mir noch vorbehaltenen und nur vertagten Aufzeichnungen selbstbiographischer Art gefährdeten. Zur Steigerung dieser Bedenken stellte sich aber im Laufe der ersten Monate des Jahres noch ein besonderes Moment ein, welches schon in der mit meinen Arbeiten schon ein Jahr früher erlebten und oben schon erwähnten Krise entscheidend ins Gewicht gefallen war, und nun wiederum den ruhigen Gang meiner Arbeiten gebieterischer als sonstige Erwägungen unterbrach, ich meine die Rücksicht auf meine Gesundheit und die an ihren Schwankungen hängende Spürbarkeit meines Alters.

Zwar hätte ich gerade im verflossenen Winter insbesondere auch im Verhältnis zum nächstvorangehenden nur Veranlassung gehabt, mich eines guten Standes meines allgemeinen Wohlbefindens zu erfreuen, hätte sich nur nicht ein mir neuer Feind desselben gemeldet. Aus mir unersichtlichen und auch vom Arzte nicht aufgeklärten Gründen habe ich fast mit dem Tage unserer Heimkehr von der Ferienreise im Herbst (29. Sept. 1898) an hartnäckiger Schlaflosigkeit zu leiden begonnen. Bis Ende Februar dem Arzt, Massini, gelungen war, wenigstens ein harmloses Palliativmittel zu finden, dessen mildernde Wirkungen, obwohl ich nun seit Wochen den Gebrauch wieder eingestellt habe, noch gegenwärtig bestehen, hatte sich das Übel ziemlich stetig gesteigert, anfangs zumal rapid. Selten handelte es sich um eine total[35] schlaflose Nacht, meistens um eine durch mühsames Einschlafen oder vorzeitiges Erwachen um viele Stunden verkürzte Nachtruhe, und noch jetzt steht es mit meinem Nachtschlaf so, daß ich mich nachgerade mit dem Gedanken vertraut zu machen habe, es sei damit in dem für mich alten Sinne überhaupt wohl vorbei. Bei Papa ist schlechter Schlaf in einem viel früheren Alter chronisch geworden. Wie dem auch sei, schon in den letzten Monaten des letzten Jahres machten sich mir die Folgen des mir in solcher chronischen Form noch unbekannten Übels durch ein zunehmendes Gefühl des Von Kräfte Kommens sehr empfindlich. Drückend wurde es im Laufe des Januar, wo sich auch ein oder zwei Mal am Vormittag infolge einer jener ganz schlaflosen Nächte ein Gefühl gänzlicher Erschöpfung einstellte, bei dem ich an eine von mir noch nicht erlebte Ohnmacht dachte, und das wenigstens in Erbrechen ausging. Gleichzeitig machte sich auch der Zustand von Herabgekommenheit, zu dem ich herabgebracht war, an dem bedenklich mühsam und träge gewordenen Fortschreiten meiner Arbeiten am Schreibtisch bemerkbar, die im Januar und Februar nur weniges von der Stelle rücken ließen. Dazu kamen nun noch im Februar ein paar besondere Anlässe, die meine Gedanken wieder heftig in meine persönliche Vergangenheit zurückdrängten, Joël's Anfrage das Verhältnis Nietzsches zu Stirner betreffend (am 3. Febr. erhalten) und vor Allem Frau Dr. Foerster's Veröffentlichung des Briefwechsels ihres Bruders mit Jak. Burckhardt (Frankf. Ztg. Morgenbl. vom 10. Febr.), am 15. Febr. der Brief Donaldson's mit der von mir abgelehnten Anfrage von St. Andrews, dann auch noch am 20. eine peinliche Auseinandersetzung mit meiner Ida. Was alles zusammen die trübe und aufgeregte Stimmung zu Stande brachte, in der nun auch der Entschluß gefaßt wurde, meine Eusebiusstudien, auf die Gefahr hin, überhaupt eine Rückkehr zu meinen noch geplanten kirchenhistorischen Arbeiten aufs Spiel zu setzen, wieder zurückzustellen und mich nun[36] den sonst noch mir im Sinne liegenden Aufzeichnungen selbstbiographischer Art ernstlich und zunächst ausschließlich zuzuwenden. Inzwischen hat sich auch noch die Episode Harnack dazwischen gedrängt, mit der noch fertig zu werden sich mir empfahl. Vorige Woche auch noch eine andere recht zeitraubender Art, die vollends in meinem Leben episodisch ist bis zum Carnevalesken: ich meine mein Porträt, das vom 9.–13. April gemalt wurde. Nun ist auch das fertig, und ich habe die Hände in meinen besten Stunden wieder frei, um an die vorliegenden Aufzeichnungen zu gehen. Mache ich mir zunächst die damit verfolgte Absicht vollkommen klar.

19. Apr. 1899.


Wenn ich bis jetzt von selbstbiographischen Aufzeichnungen gesprochen habe, so ist dies lediglich der Kürze halber geschehen. Wenigstens die Vorstellung einer eigentlichen Selbstbiographie habe ich mit dem Ausdruck nicht verbunden. An ein Unternehmen der Art denke ich aus verschiedenen Gründen nicht.

Erstens habe ich mich schon durch mein ganzes bisheriges Verhalten in die Unmöglichkeit versetzt, daran zu denken. Es fehlt mir, um es kurz zu sagen, das zuverlässige Material dazu. An tagebuchartige Aufzeichnungen über meine Erlebnisse habe ich, sehe ich von flüchtigen Notizen, welche durch Reisen, insbesondere meine Ferienreisen veranlaßt wurden oder von meiner, während meiner Kur 1893/4 aufgezeichneten Krankengeschichte ab, bis vor noch nicht zwei Jahren nie ernstlich gedacht. So was ich über mein Verhältnis zu dieser ganzen Frage der Selbstbetrachtung schon am 26. Dec. 97 aufgezeichnet (»Zu meiner Lebensbeschreibung« S. 122 ff.). So wäre ich denn, schickte ich mich heute zu einer Selbstbiographie an, auf meine Erinnerungen und auf die Familienbriefe angewiesen, die mir noch zugänglich sind. Was nun meine Erinnerungen betrifft, so würde der Schwund[37] meines Gedächtnisse, mit dem es neuerdings zumal schon bedenklich weit gekommen ist, meine Phantasie nur so schwach zügeln, daß der Glaube an meine Selbstbiographie und das Zutrauen zu ihr, die mit Zweifeln bei mir stets zu thun gehabt hätten, gegenwärtig mir jedenfalls von vornherein fehlen würden. Der Versuch aber, die Lücken meiner Erinnerungen etwa aus eben gemeldetem Briefwechsel zu stopfen ist mir nicht nur durch den Gedanken daran fern gelegt, daß ich damit insbesondere den Boden betreten würde, dessen Gefahren ich eben andeutete. Außerdem würde es Ansprüche an meine Zeit erheben, die in gar keinem Verhältnis zum Rest davon, den ich meines Alters wegen allein noch zu besitzen mir bewußt bin, stünden, aber auch zum sehr beschränkten Interesse, das ich an vorliegender Aufzeichnung habe in Mißverhältnis. Bevor ich weiter davon rede, muß indessen die Frage des Zwecks, den ich mit dieser Aufzeichnung verfolge, aufs Reine gebracht werden.

Was ich hier niederschreibe ist zunächst für mich allein bestimmt, aber vorbereitet wird damit allerdings ein Bekenntnis, das einmal an die Öffentlichkeit soll. Wie sollte ich nun dazu kommen, mein Leben in seiner ganzen objectiven Fülle der Öffentlichkeit zu beschreiben? Da würde es sich doch vor allem fragen: Was hätte ein solches Unternehmen bei der Öffentlichkeit für ein Interesse zu erwarten? Und da nun die Geringfügigkeit dieses Interesses in meinem Falle, wo es sich um ein in so ausgezeichnetem Sinne thatenloses Leben handelt wie das meine, auf der Hand liegt, so müßte ich es ungefähr ganz auf mich nehmen, als Beschreiber meines Lebens diesem Leben durch mein Zuthun das Interesse erst zu verschaffen, das ihm sonst entgangen wäre. Etwas der Art könnte ich aber doch nur dann auf mich nehmen, wenn ich mich dafür persönlich für vorzüglich vorbereitet hielte. Hiervon habe ich bereits das Gegenteil als meine Meinung bekannt. Für das Leben, das ich mir selbst zu erzählen nicht verantworten möchte, kann ich nicht die Theilnahme Anderer[38] anrufen, und dies gar in dem extravaganten Maaße, in dem solche Theilnahme von allem, was sich an die Öffentlichkeit wendet, angerufen wird. Dazu jedenfalls habe ich mit mir selbst nicht viel Umstände zu machen, um mich zu überzeugen, daß der Gedanke einer Selbstbiographie, die jetzt meinem Leben ein Interesse verleihen könnte, dessen es bis jetzt nur entbehrt hätte, mir ganz fern zu liegen hat. Denn ich habe ungefähr mein Leben damit zugebracht, mich um Neigung, Beruf und Talent zu einem solchen Unternehmen, gesetzt ich hätte sie auch jemals besessen, von Grund aus zu bringen. Der Gedanke jetzt noch das Publicum mit meiner Person und meinem Leben zu unterhalten hat für mich selbst nur noch Sinn durch den bestimmten und beschränkten Gesichtspunkt, unter dem ich ihn ausführe. Was ich auf den folgenden Seiten von meinem Leben erzähle, beansprucht an und für sich niemandes besonderes Interesse. Es soll nur eine Frage beantworten helfen, über die vor der Öffentlichkeit Rechenschaft abzulegen ich mich allerdings gedrängt fühle, aber eben dies nur aus dem Grunde, weil diese Frage gerade das Stück meines Lebens betrifft, das der Öffentlichkeit ohnehin schon angehört, mit dem ich schon an diese Öffentlichkeit getreten bin, und an welches demnach auch deren Theilnahme für mich sich anknüpfen kann, auf die ich sonst keinen Anspruch habe.

Mein Leben nun, so weit es der Öffentlichkeit angehört hat, ist ein Gelehrtenleben, und zwar bin ich für diese Öffentlichkeit ein Professor der Theologie gewesen. Lediglich dieses Stück meines Lebens will ich auf diesen Blättern als meinen Hauptgegenstand betrachten und behandeln. Für den Zweck, den ich dabei verfolge, will ich hier lediglich überhaupt mein Leben in Betracht ziehen; was ich davon erzähle, hat hier nur neben Anderen als ein Mittel zu dienen, die Frage zu beantworten, wie ich zu meinem Gelehrtenleben gekommen bin, zu dem Stück meines Lebens, das allein für die Öffentlichkeit in Betracht kommt.
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22. Apr.


Was ist es nun, was mir in meiner soeben bezeichneten öffentlichen Wirksamkeit keine Ruhe läßt, und zwar mir nicht nur nicht gestattet mit dem, was ich darin bis jetzt geleistet, mich für zufrieden zu erklären, sondern mich geradezu aus meiner bisher eingehaltenen Bahn wirft und mich, selbst ganz meiner Neigung zuwider, dazu treibt, was ich bis jetzt geleistet durch Selbstbekenntnisse, ja selbstbiographische Ausführungen, d.h. auf eine mir ganz neue und ungewohnte Weise zu ergänzen?

Am allerwenigsten bekümmert mich die Unscheinbarkeit und die Spärlichkeit dessen, was ich bis jetzt in meiner Laufbahn als Lehrer und Gelehrter geleistet. Was insbesondere die Unscheinbarkeit meiner Leistungen als Professor der Theologie auf dem Katheder betrifft, so muß ich, auch noch vor allem was über diese Unscheinbarkeit eben den vorliegenden Aufzeichnungen zu zeigen vorbehalten ist, bekennen, daß sich für mich selbst niemals große Hoffnungen an dieses Stück meiner Lehrerwirksamkeit geknüpft haben, und daß es insofern mich auch nicht so sehr viel kosten würde, mich in dieser Hinsicht zur Zeit still zu resignieren. Auch ohne die ganz besonderen Hemmnisse, welche meiner Wirksamkeit auf dem Katheder im Wege standen, würden mir, ich glaube, stets die Gaben gefehlt haben, ein bedeutender Professor zu sein. Als ich anfing, stand ich überdies überhaupt selbst zu sehr unter dem Banne des Bewußtseins, selbst ein Lernender zu sein, und kein Drang, Andere zu lehren, trieb mich stark und unmittelbar genug, um mich schon auf dem Katheder zu entfesseln. Um so mehr habe ich allerdings schon früh, wenn auch nicht gleich im Anfang meiner Lehrerwirksamkeit, zu hoffen begonnen, ich würde mir sonst Luft schaffen, und ich könnte mich mit Nutzen als theologischer Schriftsteller vernehmlich machen. Daraus ist nun auch nicht viel geworden, aber eben diese Spärlichkeit meiner theologischen Werke ist an und für sich auch nicht das, was[40] zu verantworten ich sonderlich verzweifelte und nur indem ich mich in außerordentliche Kosten stürzte, thun zu können annähme. Nicht, daß ich in jedem Sinne zu bestreiten im Sinne hätte, dessen, was ich als theologischer Schriftsteller geleistet, sei doch gar zu wenig. Das gebe ich vielmehr so willig zu, daß keine Thatsache der Beschäftigung mit mir selbst, der ich mich zuzuwenden eben im Begriff bin, stärker entgegenarbeitet. Es fehlen mir zur Anschwellung meiner schriftstellerischen Hinterlassenschaft als Lehrer der Kirchengeschichte insbesondere nicht die Aufgaben – wie ich es schon gezeigt – und wovon mir meine Collectaneen die Zeugen sind – und ich meine gewiß keinen besonderen Grund zu haben dieser Anschwellung nur aus dem Wege zu gehen, habe auch als ich die Muße meines Alters antrat zunächst keines andern Wunsches Erfüllung mir angelegener sein lassen, als diese Muße zu gebrauchen um der Dürftigkeit meines Nachlasses in dem schon bezeichneten Bereich etwas nachzuhelfen. Indessen auch diesem Wunsche sind bei mir Schranken gezogen. Schon dadurch, daß es mir an der quantitativen Stattlichkeit meines gelehrten Nachlasses an und für sich gar nicht liegt. Ich will vielmehr von der Welt wissenschaftlicher Schriftsteller wie die meine, d.h. wie die, in welche ich zur Zeit gestellt bin, meinerseits weit lieber mit einigen Büchern zu wenig als zu viel scheiden. Dazu kommt, daß auch die wenigen Schriften, die ich hinterlasse, so gering auch die Aussicht ist, die sie für mich auf einen Namen in der Wissenschaft bestehen lassen, doch durch ihre Deutlichkeit einen mir persönlichen Dienst zu leisten, wie ich meine, vollkommen hinreichen. Wenigstens aufmerksame Leser, die ihnen etwa noch beschieden sind – und um welche anderen habe ich Anlaß mir überhaupt Gedanken zu machen? – werden mindestens zum Zweifel darüber gelangen müssen, ob ihr Verfasser überhaupt ein Theologe gewesen ist. Nichts Anderes als das möchte ich aber mit den vorliegenden Aufzeichnungen schließlich aufs Reine bringen. Nur daß ich zugleich[41] den Wunsch hätte mir aus dem ganzen und allgemeinsten Zusammenhange meiner Entwicklung, aus den wichtigsten Thatsachen meines Lebens die behauptete Thatsache verständlich zu machen und damit auch Anderen einen annehmbaren Beitrag zu ihrer Verständlichkeit zu geben. Nicht zu meiner persönlichen Vertheidigung vor ihnen, welche Aufgabe den allergeringsten Anreiz für mich hätte, zur Ergänzung des Deficits meiner bisherigen Thaten, ja deren Vorstellung schon mich von jedem Vornehmen der Art abstößt, wohl aber weil ich des Glaubens bin, daß die individuellen Erfahrungen, die ich darzustellen im Begriff bin, zur Zeit etwas Typisches haben und insofern dazu nicht ganz unbrauchbar sein mögen zur Aufklärung der Gegenwart insbesondere des Begriffes ›moderne Theologie‹ zu dienen. Als Gelehrter aber bringe ich mit diesen meinen Aufzeichnungen in meinen alten Tagen nur ein Opfer; denn als solcher fragte ich auch jetzt nach nichts Besserem als mich selbst nur immer gründlicher zu vergessen, was mir vieles leicht macht, statt mindestens den Schein zu erwecken, ich thäte es immer weniger und würde zu dem Wenigen was mir zu bleiben bis jetzt gelungen zu guter Letzt auch noch ein Geck.


29. Mai 99.


Über einen Monat haben diese Blätter schon wieder gestockt. Theils haben mich wieder allerhand Lectüren zur ›modernen Theologie‹ unterbrochen – Pfarrer E. Foerster's Lucubration über die Möglichkeit dieses Dings, der kleine Localsturm Wernle-Bolliger im Ritschlschen Wasserglase, Diehl's Aufsatz über christlichen Socialismus, über welches Alles ich mir auch Noticen in meine Collectaneen eingetragen. Vgl. unter ›Ritschlschule Theologie Characteristik‹, ›Wernle (Paul) und Ritschl‹, ›Theologie (moderne)‹, ›Diehl christlicher Socialismus‹ – in den letzten Tagen hat an der Unterbrechung auch eine leidige gastrische Indisposition Schuld getragen. Natürlich sind mir über alle dem in dieser Zeit die[42] geplanten Confessionen nicht ganz aus dem Sinne gekommen, nachgehangen habe ich ihnen vielmehr in Gedanken daneben nur allzu sehr, kaum daß dieser und jener Einfall dabei den Weg auf einzelne vertraute Blätter fand, ich schreibe davon nur eins hierher über, den geringen Rest dem Papierkorb überlassend:


3. Mai 1899.


Ich habe mich langsam und spät entwickelt. Es ist das wenigstens der Eindruck, den ich immer wieder von meiner Entwicklung habe, seit ich überhaupt einen Gedanken für diese übrig gehabt habe, was sich auch erst spät ereignet hat. Der Eindruck geht so weit, daß ich mir häufig selbst vorkomme, als sei ich ein Kind geblieben und habe es zum »Ernst des Mannes« nie gebracht. Gegenwärtig, wo ich auf mein Leben als auf ein in der Hauptsache abgeschlossenes Ding zurückblicke und auf das Wenige was es zu Stande gebracht in Hinsicht auf das, was mir selbst als Möglichkeit darin zu stecken scheint, nimmt der eben ausgesprochene Gedanke auch bisweilen die Form an, daß ich überhaupt mit Allem was ich bin und werden konnte, aus dem Limbus infantum nie herauskommen werde. Da ich dabei wirklich nichts von der Anmaaßung empfinde, deren Schein ein solcher Gedanke für jeden Anderen haben mag, so sage ich ihn mir auch gar nicht zum Troste vor. Ich will damit ganz gewiß nicht mein eigener Richter sein, dazu komme ich dabei wirklich zu wenig außer mir und aus einer gründlichen Gelassenheit. Eben um dieser Gelassenheit willen ist dabei auch keine Resignation im Spiele.

Demnächst fahre ich in meiner heutigen Aufzeichnung fort und zwar mit der besonders gestachelten Absicht, sie bis zu einem ernsten Anfang vorwärts zu fördern. Denn manche Überlegung gerade der neuesten Zeit hat mich verstimmt und besorgter als je darüber gemacht, wie stark ich der Gefahr ausgesetzt bin, auch den Gegenstand, den ich auf diesen[43] Blättern zu behandeln im Sinne habe, in mir zu zerdenken. Denn wie kann ich erwarten, daß die mir ohnehin und von allem Anfang an nur allzu sehr anhaftende Disposition dazu in meinen alten Tagen abnehme? Ich fühle vielmehr nur zu lebhaft und aus zu mannigfachem Anlaß, daß die Hoffnung hier noch etwas zu Stande zu bringen, bei mir allzu viele Stöße nicht mehr ertragen wird.


30. u. 31. Mai 99.


An diesen 2 Tagen studierte ich noch bevor ich an die Aufzeichnung der Daten meines Lebens ging, die mir hier von Interesse zu sein scheinen, die Aufzeichnungen, welche ich der Tante Marie über die Geschichte unserer Familie verdanke und welche, nächst dem Stammbaum, den mir mein Vater mit der Familienbibel hinterlassen hat, in so gut wie vollständiger Ermangelung eigener älterer selbstbiographischer Notizen, in der Hauptsache die einzige schriftliche Quelle sind, deren ich mich bei den unten folgenden Blättern bedienen werde. Das beschränkte Interesse, in dem ich hier überhaupt allein auf mein Leben zurückzublicken gedenke, und der Wunsch auch die Zeit, welche ich für diesen Rückblick bestimme, entsprechend zu beschränken, veranlassen mich auf ein eingehendes Studium alter Briefschaften zu verzichten und damit auch auf ihren regelmäßigen Gebrauch bei den unten folgenden Aufzeichnungen. Die Ausnahmen gedenke ich unmittelbar bemerklich zu machen.


1. Juni 1899.


Meine Vorfahren sollen im Anfang des vorigen Jahrhunderts aus Elberfeld in Frankfurt a/M. eingewandert sein1, wo schon der Großvater meines Großvaters, Johann Hermann Overbeck als Bürger und Handelsmann ansässig war. Er vererbte auf seinen Sohn Franz Hermann Heinrich (geb.[44] 3. Jan. 1751) ein auf der Neuen Kräm gelegenes, sehr gut gehendes, besonders von den Frankfurter Handelsherren frequentiertes Kaffeehaus, dessen Besitz indessen, so blühend unter ihm auch die Verhältnisse der Familie blieben, der Schwiegertochter Maria Magdalena Fritsch, selbst Tochter eines reichen Gastwirths in Darmstadt, nicht mehr zusagen wollte. Sie soll wenigstens meinen Urgroßvater, der sich mit ihr am 3. Jan. 1775 vermählte, veranlaßt haben, zu einer Zeit da er schon zu Jahren gekommen war, sein Kaffeehaus aufzugeben und eine Lederfabrik in Offenbach zu gründen. Mit dieser ging es aber nicht gut, und ihr Mißgeschick2 führte überhaupt das Ende der Frankfurter Periode der Familie herbei. Der Urgroßvater selbst zwar starb noch dort (21. Aug. 1815) und fünf Jahre nach ihm auch noch seine Frau, aber von den sieben Kindern, die er mit ihr hatte, mit Ausnahme von dreien, die das Kindesalter nicht überlebten, und der ältesten Tochter, Anna Maria, die 1793 Johann Ludwig Lommé, den Associé des Handelshauses Schmidt & Cie, geheiratet hatte, keins mehr. Sie starb in Frankfurt am 1. Mai 1819. Das erstgeborene dieser Kinder, Johann Jacob (geb. 23. Sept. 1775), war mein Großvater. Er führte am 7. Mai 1800 Susanna Maria Scheck, die Tochter eines durch seinen Fleiß reich gewordenen Schuhmachers3 heim und hatte aus dieser Ehe 5 Kinder, von denen ihm aber nur 3 noch in Frankfurt geboren wurden. Auch er hatte seine Laufbahn als Kaufmann begonnen und Anstellung im Hause Schmidt gefunden, dessen Associé, wie eben gesagt, sein Schwager war. Auf Reisen im Auftrag dieses Hauses in[45] Frankreich, England und Holland und im Überdruß an der in der Heimat eingenommenen subalternen Stellung erwachte in ihm der Wunsch sich in der Fremde selbständig zu machen. Vornehmlich das Vermögen seiner Frau gestattete ihm die Ausführung solcher Absicht, auch als er von ihr schon drei Söhne hatte – unter ihnen an 2ter Stelle meinen Vater Franz Heinrich Herrmann, am 14. Mai 1804 in Frankfurt geboren, – und mit dieser Familie siedelte er im Jahre 1807 nach London über, wo ihm noch ein nur wenige Monate am Leben gebliebener Sohn (August) und am 12. Mai 1811 eine Tochter, Anna Maria, geboren wurden. In England sollte mein Großvater die Glanzjahre seines Lebens erleben. Die um der Kriegsläufe willen nicht unbedenklichen Fährlichkeiten der Reise wurden glücklich überwunden, ebenso eine schon in den ersten Jahren der neuen Niederlassung im Geschäft infolge der Continentalsperre erlebte gefährliche Katastrophe. Bald hatte der Großvater, dank der ihm als eifrigem Freimaurer zutheil gewordenen Gunst des Herzogs von Sussex, Großmeister des Ordens, leichter als es sonst hätte geschehen mögen, die englische Unterthanschaft erworben4, und auch das Geschäft, das er nach Auflösung einer anfänglich eingegangenen Association auf den eigenen Namen in der City fortführte, wußte Jahre lang nur von Prosperität. Dennoch mußten im Jahre 1817 die Zahlungen eingestellt werden und nur der Liberalität der Gläubiger, welche das bei dem Anlaß bewiesene Verhalten meiner Großmutter erbaut hatte, verdankte die Familie die Rettung eines dürftigen Trümmerstücks ihres Vermögens, mit dem sie nun nach Frankfurt zurückkehrte5.[46]

In der alten Heimath aber konnte es der Großvater, als Geschäftsmakler von Neuem anfangend, nun vollends nicht mehr aushalten. »Sannchen«, hörte ihn eines Tages sein siebenjähriges Töchterchen zur Mutter sagen, »in 14 Tagen müssen wir nach Rußland, hier können wir nicht bleiben!« und die Mutter hatte, in Thränen ausbrechend, geantwortet: »In das Bärenland willst du uns führen!« Sterben sollte die gute Großmutter zwar im Bärenlande nicht6, aber auch während der 33 vom Glück nur wenig erhellten, dagegen von mancherlei Ungemach verdüsterten Lebensjahren, die ihr damals dort noch bevorstanden, kaum je den zehrenden Wunsch verlieren, es wieder zu verlassen. Muthmaaslich war es nur die Thatsache, daß ein jüngerer Bruder wenige Jahre zuvor schon nach Petersburg ausgewandert war (der Onkel Philipp der Familientradition) und dort Erfolg gehabt hatte, welche die Gedanken meines Großvaters damals dorthin lenkte. Ich weiß es wenigstens nicht anders, doch zugleich auch, daß er, wie es scheint in der Besorgniß vor abmahnendem Bescheid, von der angegebenen Gelegenheit sich zum Voraus zu erkundigen keinen Gebrauch machte und nur mit verspäteter Anmeldung im September 18187 mit seiner Frau und den zwei jüngsten Kindern in Petersburg eintraf. Die zwei ältesten Söhne blieben fürs nächste noch in Frankfurt zurück, beide als Handelslehrlinge, mein Vater bei Gebhardt & Hauck, er jedenfalls bei der Ergreifung dieser Laufbahn unter den Nothumständen, in die seine Familie gerathen war, um seine Meinung nicht gefragt. Denn diese hätte ihn zum Studium gezogen und ich wüßte eine peinliche Rechtlichkeit und Ordnungsliebe in seinen täglichen Gewohnheiten ausgenommen, keine Eigenschaft meines Vaters, welche ihn für den Beruf eines Kaufmanns gezeichnet hätte.[47]

Klagen habe ich ihn über diesen der Gestaltung seines Lebens angethanen Zwang nur sehr wenig hören, dem ich doch vielleicht vornehmlich die Schrankenlosigkeit der Freiheit zu danken habe, die mir mein Vater bei der Berufswahl gegönnt hat. Bei dieser hat mich jedenfalls auch die Übersiedelung meines Großvaters nach Rußland so ungebunden wie nur möglich gelassen.

Zwar war, als nach beendigter Lehrzeit auch die beiden noch in Frankfurt zurückgelassenen Söhne den Eltern nach Petersburg nachgezogen waren8, die ganze Familie dahin versetzt. Doch ist sie, nachdem mein Onkel Louis, der jüngste Bruder, im Jahre 1864 in Petersburg kinderlos gestorben ist9 zur Zeit wiederum aus dem Lande ganz verschwunden. Von den übrigen mit den Großeltern dahin gezogenen Geschwistern hat keines sein Schicksal dort mehr beschlossen. Ungastlich in jedem Betracht zwar konnte man bekanntlich kein Land weniger nennen als das damalige Rußland, oder gar das nikolaitische, das zur Zeit der Einwanderung meines Großvaters im Anzuge war. Keines wenigstens setzte dem eingewanderten Fremden mit Ansprüchen weniger zu. Es privilegirte diesen Fremden und für ihn war darin Fremdbleiben ein ebenso mannigfach begründeter als durch die Umstände begünstigter Zustand, dem Engländer – und als solcher war mein Großvater mit den Seinen eingewandert – zumal aber lag es fern sich anzuheimeln. Von diesen allgemein bestimmenden Verhältnissen abgesehen aber ließ meinen armen Großvater auch persönliches Mißgeschick nie in der neuen Heimath »warm werden«. Anfangs schienen sich, soweit nur die Londoner Tage vergessen waren, die Dinge nicht übel anzulassen. Das Bankhaus Stieglitz, in dem der Großvater als Commis alsbald angekommen war, hatte damals[48] wenigstens eine große Zukunft. Nur war der Großvater noch vor ihrem Aufgehen (schon 1820) in ein anderes übergetreten (Livio), und in diesem erlebte er dessen Zusammenbruch (1827), wobei er auch noch den gänzlichen Verlust seiner kleinen dem Hause anvertrauten Ersparnisse sich gefallen lassen mußte. Von da an wußte er kaum noch von etwas anderem als von stetig anwachsenden Lebenssorgen bis er am 3. Sept. 1833 an einer Lungenentzündung starb. Die Großmutter hatte sich sofort bei der Ankunft in Petersburg durch Beziehen einer feuchten Wohnung auf Wassiliostrow ein heilloses Siechthum zugezogen, mit dem behaftet sie nur dank ihrer von Haus aus ungewöhnlich kräftigen Constitution in langwierigem Kampfe den Tücken des Klimas zu widerstehen vermochte. An ihren strengen und wenig biegsamen Character stellte aber die Acclimatisation an die neue Heimath vollends nur schwer zu überwindende Zumuthungen. Ihre erst 17jährige Tochter hatte sie die Laufbahn einer Gouvernante antreten sehen müssen, als welche unsere Tante Marie in verschiedenen russischen Häusern merkwürdige doch nicht ausnahmslos harte Schicksale erlebt hat. Die Söhne mußten unter den eingetretenen Umständen natürlich sich nicht nur ganz selbst forthelfen, sondern auch nächst der möglichsten Unterstützung der Schwester seit dem Tode des Vaters die Sorge für die Mutter ganz auf sich nehmen. Für meinen Vater verwickelte sich die Aufgabe schwer durch die Umstände, unter denen er die Begründung eines eigenen Hausstandes unternahm.

Unter den ziemlich rasch wechselnden Firmen, bei denen mein Vater seit seiner Ankunft in Petersburg sich als junger Handelsmann durchzuarbeiten hatte, befand sich auch die des Herrn Bertrand Camille Cerclet, eines Franzosen, der jedoch selbst seinen aus Mâcon und Rouanne in der Bourgogne stammenden Eltern 1790 erst in Petersburg geboren war, ebenso wie seine Gattin Elisabeth Lafontaine, welche ihrer französischen Familie in Moskau geboren wurde (1794).[49] Die ältere der zwei aus dieser Ehe hervorgegangenen Töchter Johanna Camilla, geb. in Petersburg 19. Nov./1. Dec. 1808, wurde meine Mutter. Nur flüchtig nämlich waren die Beziehungen, welche zwischen meinem Vater und der Firma Cerclet als solcher aus seinem Eintritt als Commis hervorgingen, da schon kurze Zeit nach diesem Eintritt mein Großvater sich veranlaßt sah sein Geschäft in Petersburg aufzulösen und ein neues in Hamburg zu beginnen. Bei der Übersiedelung dahin aber hatte er seine kleine Familie in Petersburg zunächst in ziemlich bedrängten Umständen zurückgelassen. Der Obhut meines Vaters, der in ihr seine Braut gefunden hatte, fiel sie dabei in solchem Maaße zu, daß, als Frau Cerclet im Juni 1836 gestorben war, ihre Töchter, von denen die jüngere zur Zeit ein zehnjähriges Kind war, ihr Unterkommen bei seiner Mutter fanden. Er selbst hatte damals vor kurzem eine Anstellung im sogen. Englischen Magazin in Petersburg schon gefunden, welche nicht nur dem unleidlichen Wechsel, der er, wie schon angedeutet, sich in dieser Hinsicht anfänglich hatte gefallen lassen müssen, ein Ende machen sollte, sondern ihn auch sofort in den Besitz eines Gehalts gesetzt hatte, der ihm, selbst in den schwierigen für ihn bestehenden Verhältnissen, den Abschluß seiner Ehe zu wagen gestattete. Am 19. Nov./1. Dec. 1836 fand die Hochzeit meiner Eltern statt.

Die Bescheidenheit der oekonomischen Verhältnisse des so begründeten Haushalts hatten seiner Begründung keineswegs allein im Wege gestanden. Cerclet's waren katholisch und meine väterliche Großmutter eine strenge Lutheranerin, die schon in die anglikanische Taufe ihrer Tochter sich nur widerwillig gefunden hatte. In diesem Sinne war sie denn auch der von ihrem Sohne einzugehenden Ehe abgeneigt, und nur unter der Bedingung der lutherischen Erziehung ihrer Enkel und Enkelinnen, und nicht ohne sich in besonderer Weise gegen jeden confessionellen Ein fluß darauf von Seiten ihrer künftigen Schwiegertochter im voraus[50] sichergestellt zu haben, gab sie ihre Einwilligung. Welches nun auch der Antheil dieser großmütterlichen Fürsorge an dem Glück ihrer Enkel sein mag – wir sind fünf gewesen, die die Jugendjahre überlebten, ein Brüderchen wurde uns schon nach 7 Monaten wieder genommen, – daß diese Enkel von den wie sich aus vorstehenden Angaben ergiebt, so mannigfach begründeten Schwierigkeiten der Anfänge unserer Eltern als Eheleute, so gar wenig mehr empfunden, oder auch nur wahrgenommen haben, das danken wir, neben manchem anderen freundlichen Stern, der über unserem und zumal meinem, des ältesten, Kinder- und Jugendglück geleuchtet, zunächst und zu allermeist der herzlichen Eintracht dieser Eltern. Obwohl mein Vater, ungeachtet seiner ungewöhnlichen freilich außerhalb seines häuslichen Kreises nur schwer sich aufschließenden Gutherzigkeit, doch seinem Temperament gemäß in seiner Umgebung, wie ich annehmen muß, kaum je im Ruf absonderlicher Verträglichkeit gestanden hat, so war ich doch schon 17 Jahre alt bevor ich ihn einmal in einer Anrede meiner Mutter auch nur die Stimme mit getrübter Färbung erheben hörte – die Stunde ist mir sammt dem an sich unerheblichen Anlaß des ›Excesses‹ natürlich noch heute in lebendigster Erinnerung – und darnach ist es zwischen ihnen auch weiter gegangen während einer durch den Tod meiner Mutter erst nach 40jährigem Bestande getrennten Ehe. Diese nie erheblich getrübte oder auch nur mit solcher Trübung bedrohte Eintracht erscheint mir bei diesem Rückblick auf die Geschichte meiner Familie als die eigentliche Sonne über der Periode, die sich darin für mich mit meiner Geburt eröffnet.

Diese Geburt fand am 4./16. Nov. 1837 statt. Von ihrer absonderlichen Schwierigkeit trug ich selbst ein rothes Mal an der Stirn davon, das einige erst etwa 15 Jahre später unternommene Ätzungsversuche mit unbeträchtlichem Erfolge etwas weniger auffallend machten. Anfänglich handelte es sich dabei um eine offene Wunde, die mein zu stark[51] gerathener Kopf als ich anfing zu gehen und um dessen willen unsicher auf den Beinen war, lange Zeit fatalen Unfällen ausgesetzt sein ließ. Vornehmlich an diesen Umständen hing es wenn es bei mir zum Gehen später kam als zum Sprechen, ein wenn auch dicklich und munter aussehendes, so doch schwächliches Sorgenkind war ich aber überhaupt Jahre lang und auch allerhand Siechthum steht im Dämmerlicht meines ältesten Erinnerns. Ernstlich erhellt sich dieses Dämmerlicht für mich kaum vor meinem neunten Lebensjahre, in welchem sich eine große Reise wie ein Vorhang vor alle oberhalb dieses Termins liegende Erlebnisse gelegt hat. Meine älteste Erinnerung scheint mir das traumartig vor mir stehende Bild eines gewöhnlichen Zimmers, dessen Licht gedämpft ist und in dem sich eine Menge Menschen in dunklen Kleidern still bewegen und leise sprechen, ich selbst mit rathloser Scheu mich unter ihnen umsehend, mitten darunter. Das kann sich kaum auf etwas anderes beziehen als auf den Tag, da der Sarg jenes schon nach 7 Monaten wieder dahingegangenen kleinen Bruders Gustav im März 1842 hinausgetragen wurde, als ich selbst noch nicht 41/2 Jahre alt war. Nur als eines zeitlichen Marksteins meiner Kindheitserinnerungen sei aber hier der Sache gedacht, und durchaus nicht zur Bestimmung der Farbe dieser Erinnerungen, ebenso wenig wie auch das von Siechthumserinnerungen soeben Gesagte so gemeint ist. Ich weiß insbesondere auch für die bezeichneten russischen Anfangsjahre meiner Knabenzeit von nichts anderem als vom hellen Glänze, in dem mir diese Zeit überhaupt im Andenken steht. Eine Schwester hatte ich schon neben mir als jenes Brüderchen starb, Louise (21. Oct./2. Nov. 1839 geboren), mein Bruder Ernst kam 1843 (8./20. Oct.) dazu. Der ganze Zuschnitt des Lebens im elterlichen Hause ist wie darauf berechnet gewesen uns Kinder darin als in den Mittelpunkt eines Paradieses gestellt uns selbst vorkommen und uns erst zu Jahren kommen zu lassen, bevor uns von der, wie obenstehende Aufzeichnungen schon[52] haben zeigen können, in manchem Betracht düsteren Vorgeschichte der Familie auch nur die leiseste Ahnung aufzugehen vermochte. Der Familienkreis, der uns nächst den Eltern in Petersburg umgab, beschränkte sich auf unsere väterliche Großmutter und einen damals noch ledigen Oheim, ihren jüngsten Sohn, der Rest war weit verstreut und von Petersburg so fern weilend, daß er für unsere Kindererfahrung so gut wie nicht vorhanden war. Die Großmutter, die wir nie gesund gesehen haben, trug an ihrer erschütterten Gesundheit und zum Theil wohl auch an einer gewissen Herbigkeit ihres Wesens uns nur unverständliche Spuren ihrer Schicksale an sich selbst. Auf jeden Fall war sie uns Enkeln viel zu herzlich zugethan, als daß der Eindruck respectvoller Scheu, den sie uns einflößte, in der Regel die Grenze des Unheimlichen überschritten hätte. Das brachte sie doch nur in der Verkleidung als mahnender heiliger Christ zu Stande, in welcher sie sich mit Erfolg ein paar Jahre hindurch am Weihnachtsabend vor uns zu verbergen wußte, bis einmal der schon erwähnte Oheim durch seine Andeutungen uns die schon blinzelnden Augen über das Geheimnis ganz aufgehen ließ. Dieser lose Oheim war überhaupt unser Liebling10 und wir kamen uns als die Seinen vor, gänzlich ungestört durch die zwischen ihm und unserem Vater auch aus ernsteren Anläßen bestehenden Zerwürfnisse, deren Bestehen damals uns noch viele Jahre und zwar vollkommen verborgen blieb. Auch die geselligen Beziehungen meiner Eltern waren zu jener Zeit, sich auf wenige französische und besonders englische Familien beschränkend, so einfach, daß sie uns Kinder vollends in der Vorstellung nicht störten, im Mittelpunkt der Welt zu stehen, in der wir uns befanden, und von Vater und Mutter anderes zu wissen, als daß sie um unseretwillen in der Welt wären. Die Mutter war so gut wie beständig um uns, der Vater wohl den ganzen Tag im Geschäft, doch des Abends, wo erst um 5 oder 6 Uhr zu Mittag[53] gegessen wurde, und Sonntags bis auf sehr seltene Ausnahmen zu Hause. Vollkommen unverworren aber blieben wir mit jeglichen Nachwehen der an Bedrängtheit, wie ich schon angedeutet habe, wenigstens grenzenden Anfänge des elterlichen Haushaltes. Denn ungefähr so stetig wie wir wuchsen besserten sich auch die Verhältnisse meines Vaters. Den ganzen Sommer war es uns denn auch, wie damals in Petersburg unter nur einigermaßen hablichen Leuten, namentlich unter Ausländern, fast ausnahmsloser Brauch war, so weit meine Erinnerung zurückreicht stets möglich auf dem Lande zu leben. Das geschah zwar nicht inmitten der luxuriösen Landsitze der berühmten sogenannten »Inseln« der Umgebung Petersburgs, aber doch an den Ufern der benachbarten »Tschornaja Rjäschka« (Schwarzbach), und war auch hier reizvoll genug um mir unvergeßlich zu bleiben auch aus der Zeit, da ich es mit schon erweitertem Horizont meiner Vorstellungen über Naturschönheit genoß.

Lesen soll ich schon sehr früh mit einem zusammenstellbaren Alphabet ziemlich allein gelernt haben11, bedenklich fließen aber in meinen Kindheitserinnerungen die Grenzen zwischen Lernen und Spielen überhaupt ineinander. Meine Mutter selbst hat von der Leichtigkeit, in der sich im Bereich des Lernens im Ganzen Alles für mich »abspielte«, oft die Besorgnis davon getragen, es möchte mir darüber die Lust vergehen hartes Holz zu bohren12. Gewiß ist, daß sie von phaenomenalen Lernerfolgen bei mir viel wohl niemals Erfahrung gemacht, aber auch wenig von ernstem Widerwillen gegen das Lernen meinerseits zu hören bekommen hat und ich selbst nicht weiß, ob die Stattlichkeit, d.h. die gründliche[54] Fruchtbarkeit und Nachhaltigkeit der von mir beim Lernen erlangten Resultate noch etwas Anderes als nur Vortheile davon gehabt hätte, wenn ich bei der Arbeit in meinen persönlichen Glückempfindungen ernsterer Anfechtung unterlegen hätte. Jedenfalls hat sich aber ein Hauptcapitel des Lernens durch die Umstände, unter denen ich aufgewachsen bin, wenn auch in sehr natürlicher doch immerhin in außerordentlicher Weise verwickelt, ich meine das der Sprache. Denn zu einer Muttersprache habe ich es jedenfalls ungewöhnlich spät gebracht. Mit Russisch habe ich meiner Amme und des übrigen Hausgesindes wegen muthmaaßlich angefangen. Zu Hause wurde sonst stets Französisch gesprochen und so wurde dieses fürs Nächste anscheinend meine Muttersprache. Deutsch mußte mit der Großmutter gesprochen werden13, die zwar nicht bei uns wohnte und uns auch wegen ihrer Gebrechlichkeit selbst nur selten besuchen konnte, die ich aber doch oft sah und insbesondere von der Zeit an, da ich allein auf die Straße gelassen wurde, oft und regelmäßig aufsuchte. Von meinem 7. Jahre an vervollkommnete mich im Deutschen auch ein Privatlehrer, der, so fern er auch der damit übernommenen Aufgabe in vielfacher Hinsicht persönlich gerückt erscheinen mochte, doch wiederum auch mancher besonderen Befähigung dazu keineswegs ermangelte14. Dann kam ich, 9 Jahre alt, noch auf ein Jahr in die[55] Schule der reformierten Kirche in Petersburg15, in deren Haus wir auch wohnten, wo ich im Verkehr mit Jungen fast durchgängig deutscher Herkunft mich befand und auch die Unterrichtssprache deutsch war. Doch zum besonderen Unterricht im Deutschen kam schon in frühen Jahren, entsprechend dem im gebildeten Petersburg der damaligen Zeit üblichen Bildungsprogramm, und dem Umgang meiner Eltern, noch das Englische hinzu16, in dem ich auch praktisch mich zu üben mehrfache Gelegenheit hatte. Doch brachte in diese meine polyglotte Entwickelung das Jahr 1846 wenigstens vorläufig Stillstand.

Der Gesundheitszustand meiner Mutter ließ, obwohl sie selbst doch schon in Petersburg geboren war, immer weniger Hoffnung auf Wiederherstellung ohne den Versuch einer Kur im Ausland. Auch für mein Gedeihen im Petersburger Clima schienen nur die trübsten Aussichten zu bestehen. Nehme ich die Anlage zur Bräune mit welcher Louise und Ernst behaftet waren, und die nächtlichen Alerten, die ihre Todesgefahr bei uns fast jeden Winter mindestens einmal veranlaßte, hinzu, so begreift sich, daß der Hausarzt in meinen im Allgemeinen so heiteren Knabenerinnerungen eine entschieden unheimliche Gestalt ist17. Sein Gutachten, das uns in die Ferne trieb und von unserem Vater sammt Großmutter und Oheim trennte, konnte in meinen Augen[56] diesen Eindruck zunächst auch am allerwenigsten mildern, wo ich ohne einen Begriff der unschätzbaren Wohlthat blieb, die er uns, den Meinen und mir, damit in Wirklichkeit erwies18. Im Mai des schon genannten Jahres verließ meine Mutter mit mir und meinen zwei Geschwistern, von einer recht intelligenten esthnischen Kinderwärterin begleitet, zu Schiff Petersburg, um zunächst Travemünde zu erreichen. Leider hat sich von allen Eindrücken dieser übrigens in etwa 4mal 24 Stunden ohne jedes besondere Abenteuer vollbrachten Seereise, so neu und gewaltig sie sein mochten, kaum einer so lebhaft mir eingeprägt, als der der Seekrankheit. In Travemünde nahm uns unser mütterlicher Großvater in Empfang, den wir Kinder jetzt erst kennen lernten, und der selbst seine Tochter nach vieljähriger Trennung zum ersten Male als Ehefrau wiedersah. Mit ihm ging es dann weiter nach Hamburg, wo er, wie ich schon sagte, als Kaufmann niedergelassen war und wir uns nun etwa 2 Wochen aufhielten. Von dort begleitete uns der Großvater, über Hannover und Kassel nach Frankfurt und Ems. Von dieser Reise ist mir, von ein paar Hamburger Eindrücken abgesehen, bis zu ihrer genannten Endstation kaum noch eine andere Erinnerung bis zu wirklichen Umrissen deutlich zurückgeblieben, als die an eine lärmende nächtliche Scene in Göttingen, die ein Trupp Studenten, der sich um unsere Postkutsche versammelt hatte, veranlaßte. Ihrer hatte ich zwölf Jahre später wieder zu gedenken besondere Veranlassung, da ich selbst als Göttinger Student mit einigen Commilitonen auf der Rückkehr von einer Spritze in Münden mit einer Gesellschaft um die Mitternachtsstunde über die Schläfer eines Eisenbahncoupés herfiel. Sonst hat auf jener älteren Reise selbst der Übergang auf die Eisenbahn, der in[57] Cassel geschah, in meinem Gedächtnis keine faßbare Spur hinterlassen. Erst in Ems verändert sich die Färbung meiner Erinnerungen, und es leuchtet mir noch als das Paradies, dessen Erreichung der weiten Reise von Petersburg für mich erst einen Sinn giebt. Diesen nachhaltigen Eindruck danke ich natürlich vor allem dem Umstand, daß wir in Ems 6 vom Himmel ungewöhnlich begünstigte Sommerwochen blieben. Doch eben diese begünstigten Wochen ermöglichten uns Kindern auch jene zahlreichen unvergeßlichen Ausflüge oder auch kleineren Spaziergänge mit unserer Mutter oder unserer Wärterin, bei denen mir zu bleibendem Besitz noch ungeahnte Herrlichkeiten dieser Welt aufgingen. Und zu erwähnen will ich, zum Dank gegen das liebliche Bad, die gute Erinnerung immerhin nicht vergessen an den täglichen Genuß, den mir der auch mir mit Beigabe von Milch verordnete Gebrauch eines seiner Wasser verschafft hat. Von Ems ging es nun aber nicht wieder heim, sondern weiter nach Paris, zu welcher Reise, die über Köln und Brüssel ging, uns wieder der Großvater abholte. Ich habe davon einige Bilder vom Rhein und aus den eben genannten Städten in der Erinnerung behalten, von dem ersten Anblick von Paris so wenig, daß ich nicht einmal mehr weiß, ob wir schon damals in Paris oder zunächst in dem benachbarten St. Germain en Laye stehen blieben, welcher letzterer Ort freilich allein, für mich wenigstens, die eigentliche Schlußstation unserer Reise werden sollte.

Die Fortsetzung dieser Reise über Ems hinaus war nämlich durch die Absicht herbeigeführt, unsere Abwesenheit von Rußland noch etwas zu verlängern und zugleich den Verwandten meiner Mutter in Frankreich einen Besuch abzustatten. Insbesondere galt er der Tante Sophie, Mama's jüngerer Schwester, die schon vor Jahren Rußland verlassen hatte um zu ihren französischen Verwandten zu ziehen, und zur Zeit unserer hier besprochenen Reise ihrem Oheim in Paris den nicht ganz einfachen Haushalt besorgte. Dieser[58] mein Großoheim, Antoine Cerclet, der etwas jüngere Bruder des Hamburger Großvaters (oncle Antoine), war unverheirathet und hatte als secrétaire perpétuel de la chambre des députés seine Amtswohnung im palais Bourbon. Im Augenblick unserer Ankunft in Paris (Juli 1846) wohnten aber Cerclets auf dem Lande in Fourqueux, einer Art von Vorstadt des schon genannten Städtchens St. Germain. Hier erst machte unsere Reise auf jeden Fall Halt, und Paris kann von uns damals, wenn überhaupt, nur ganz flüchtig berührt worden sein. In St. Germain miethete sich auch meine Mutter nun für den Rest des Sommers ein (Rue des Ursulines) und gleichzeitig wurde ich als Interner in das Ancien collège de St. Germain gesteckt (es lag auf derselben Straße), dessen Zögling ich nun fast zwei Jahre lang war, anfangs zumal unter den auf meinem damaligen Standpunkt für mich annehmbarsten Bedingungen. Denn zunächst waren mir häufige Ausgänge zum Besuch bei meiner Mutter und ihren Verwandten gestattet, womit mir, zu den Reizen des wunderhübsch gelegenen St. Germain hinzu auch die des großen blumen- und obstreichen Gartens in Fourqueux – er gehörte dem langjährigen Drucker der Revue des deux mondes – Herrn Beau, und des kleineren der Mdme Dumoulin, der Wirthin meiner Mutter, eröffnet waren. Für den Winter zog meine Mutter mit Louise und Ernst nach Paris in eine kleine Wohnung auf der rue de Lille, dem Hotel der preußischen Gesandtschaft gegenüber, bis sie im Frühjahr 1847 mit den Geschwistern nach Petersburg heimkehrte, mich in der Obhut der Schule und der pariser Verwandten, vor Allem der Tante Sophie, zurücklassend. Paris lernte ich damals nur auf den Schülerurlauben kennen, die ich im Winter 1846/47 zum Besuch bei meiner Mutter, später bei der Tante und dem Großoheim erhielt. Meine Schule steht unter diesen Umständen begreiflicher Weise bis zum Frühjahr 1848, wo ich sie wieder verließ, im Mittelpunkt meiner Erinnerungen, so lieb mir damals auch Tante Sophie geworden[59] ist. Verlassen habe ich sie, um zur angegebenen Zeit bei der weiter unten anzugebenden Veranlassung zu meinen Eltern heimzukehren. Gewiß habe ich, der ich als entsetzlich schüchterner Knabe im Allgemeinen nirgends lieber als zu Hause war, gegen diese Heimkehr nichts gehabt, und doch weiß ich, daß mir der Abschied von meinem collège heiße Thränen gekostet hat. Auch habe ich andere als schöne Erinnerungen von den fast 2 Jahren, die ich in demselben zugebracht habe, kaum davongetragen, die schönsten von den Spielen mit meinen Kameraden. Hatte ich nur einmal die schon erwähnte Schüchternheit überwunden, so wurde ich immer dabei der lebhaftesten und mutigsten Einer. Ich muß auch annehmen, daß wir Spielgenossen alle viel der paedagogischen Weisheit unserer Aufseher zu verdanken gehabt haben, gewiß aber ist die außerordentliche Gunst der Gelegenheit deren wir uns sonst bei unseren Unternehmungen zu erfreuen hatten. Zwei, zwar durch hohe Mauern von der übrigen Welt abgesperrte, aber in sich gewaltig ausgedehnte Höfe standen zu unserer Verfügung, von denen der eine ganz mit hohen Bäumen bedeckt war, der andere wie ein kleiner Exercierplatz aussah, indem er von einer Reihe kurzgehaltener Bäume umgeben war und einen großen freien Mittelraum hatte, dessen Stattlichkeit immer noch sehr ansehnlich blieb ungeachtet der Miniaturgärtchen, die längs der Umfassungsmauer allen Liebhabern der Gärtnerei unter uns Schülern zur Pflege überlassen waren. Dieser Schüler waren es insgesammt gegen 90, wovon nur ein geringer Bruchteil aus Stadtschülern bestand, der weit überwiegende Rest gleich mir Interne waren, so gut wie sämmtlich Franzosen, denn die wenigen Deutschen darunter waren ausnahmslos Elsässer, und daß Engländer darunter nicht fehlten, weiß ich mich eben nur noch zu erinnern, sodaß ihre Zahl jedenfalls nur eine ganz minime gewesen sein kann. Mitten zwischen den schon erwähnten beiden Höfen stand das Schulgebäude, ein altes Kloster von stattlicher Architectur,[60] das uns in seiner damaligen Zurichtung helle und geräumige Classen bot und für uns Interne einen hochgewölbten, saalartigen mit sehr großen Fenstern versehenen Schlafraum. Außerdem befand sich ein großer Speisesaal (réfectoire) und eine Art Aula darin, in welcher Festacte, insbesondere Preisverteilungen, stattfanden, und die Wohnung des Directors Herrn Ledieu. Seiner jungen, fast beständig bettlägerigen Frau wurden wir Schüler kaum jemals ansichtig, und sie schwebt mir nur noch schattenhaft als eine ungewöhnlich anmuthige, sanfte und bleiche Leidensgestalt vor. Ihr nettes Söhnchen war auch nur eben der Kinderstube entwachsen. Wie viel von der Lehrerschaft im Schulgebäude etwa noch weiter untergebracht war, ist mir nicht mehr erinnerlich. Auch von den sogenannten Pions, die mit uns schliefen, ist es nur noch einer. Vom Dienstpersonal des Instituts weiß ich nur noch von Mademoiselle Victorine etwas, die uns unsere Wäsche besorgte. Unsere Kost muß gut und zweckmäßig gewesen sein, auch sie wenigstens giebt noch ein paar Lichtpunkte zu meinen damaligen Erinnerungen ab, worunter ich das tägliche Brot im eigentlichen Sinne und die sonntäglichen Gigots de mouton oder de veau mit weißen Bohnen oder dgl. als Zugemüse hervorhebe. Außer der nicht seltenen Kürbissuppe möchte es der daneben auftretenden Schatten überhaupt noch weniger geben, wenn ich in der Fleischkost weniger heikel wäre und unter den Theilen des Thierleibs, denen gemeinhin Genießbarkeit zuerkannt wird, nicht so manche weniger hoch schätzte. Das Schulareal verließen wir, von seltenen Urlaubsfällen für Einzelne abgesehen, nie außer zum sonn- oder festtäglichen Kirchgange und zu Schulspaziergängen. Der Kirchgang ging für das Häuflein Akatholiken unter uns in den anglikanischen sogen. »Tempel«, da für weitere confessionelle Differenzierung die Gelegenheiten am Ort fehlten, wobei ich, wie sich aus früheren Angaben ergiebt, noch nicht der unechteste »Anglicane« im Häuflein war. Das regelmäßige Ziel unserer[61] Schulspaziergänge war Sonntags und am Donnerstag der herrliche Wald von St. Germain, in dem sich unsere Reihen jedesmal von einem gewissen Termin ab zu vollkommen freier Zerstreuung auflösen durften, um auf einen geregelten Appell wieder zusammenzutreten. Ein paar Mal erweiterten sich diese Spaziergänge zu Schulpartien, die bis Pontoise und Versailles gingen. Zu allen diesen Ausgängen wurden wir in eine Uniform gesteckt, die jedoch zum Glück nicht immer voll anzulegen war. Der Cylinder wenigstens, aus dem sie bei uns bestand, und der uns die mit militärischen Käppis sich der Welt zeigenden Zöglinge einer in St. Germain noch bestehenden und sich nach dem Namen ihres Directors Durand bezeichnenden Zwillingsanstalt beneiden ließ, war dem Kirchgang und sonst besonderen festlichen Gelegenheiten vorbehalten. Weniger bekümmerte uns dagegen der blaue Frack mit gelben Messingknöpfen, auf denen ein Lorbeerkranz mit der schon erwähnten officiellen Denomination unserer Schule als Umschrift aufgeprägt war, auch im Hinblick auf die Durands, die ebenso gut wie wir sich ihren geschlossenen Waffenrock für die auch von ihnen ohne Zweifel vorgezogenen häuslichen Blousen gefallen lassen mußten. Ernster als die Unleidlichkeit jenes Cylinders war aber ein anderes Stück anhaltender Spannung mit der Schuldisciplin, in der ich verharrte. Als Langschläfer war ich wie es scheint nicht nur als Petersburger in St. Germain eingezogen, auch individuelle Anlage wird mit im Spiele gewesen sein. Wenigstens blieb mir die Nöthigung im Winter um 6 und im Sommer um 5 aufzustehen eine unüberwindliche, am Tage meines Abzugs von St. Germain nicht im Geringsten weniger als wie an dem meines Einzugs daselbst empfundene empfindliche Plage, die mir denn auch für meine Lebensgewohnheiten leider gänzlich unfruchtbar geblieben ist, und nur das Alter über meine Schlafsucht am Morgen Herr zu werden vermochte. Geschadet hat mir eben besagte Plage auch nicht. Denn in St. Germain bin ich im[62] eigentlichsten Sinne des Wortes erst gediehen. Ja das glänzend rosige Licht, in dem mir alle meine dortigen Erinnerungen stehen, weiß ich schließlich nicht besser abzuleiten als aus der Consolidirung, welche dort meine Gesundheit erfahren hat. Auf die Heimreise gab mir Herr Ledieu einen Brief an meine Mutter mit, in welchem er aussprach, sie habe ihm ein scheues Lämmlein übergeben, er schicke ihr ein lebensstrotzendes Füllen zurück. In der That habe ich damals die allzufrühe Gebrechlichkeit meiner ersten Knabenjahre gegen die niemals robust gewordene doch bei aller Zartheit merkwürdig stetige Gesundheit eingetauscht, deren ich mich etwa vom 10. bis etwas über das 50. Lebensjahr hinaus erfreut habe. Hätte ich nicht immer wieder die flüchtigen Indispositionen zu überwinden gehabt, denen mich eine leicht zu reizende Neigung zu Fieber und vor Allem die geringe Widerstandskraft meines Verdauungsapparates aussetzte, so würde ich in den bezeichneten Jahren es kaum je nur zum Gefühl der Krankheit gebracht haben. Acute Krankheiten haben mich in dieser Zeit vollkommen verschont und gefährliche Epidemien mannigfacher Art, die mir im Leben zu Zeiten sehr nahe gerückt sind (Cholera, Typhus, Influenza) haben mich bis jetzt überhaupt unangefochten gelassen. Damit hätte ich denn einen sicherlich gewichtigen, von meiner Schulzeit in Frankreich davongetragenen Fortschritt festgestellt, was habe ich aber – um endlich auf die Hauptsache zu kommen – damals gelernt? Leichter beantwortet sich die Frage, die ich darum auch vorweg nehmen will, was habe ich damals verlernt? Zunächst so gut wie vollkommen das Bischen Russisch, das ich nach St. Germain mitgebracht hatte. Dieser Verlust ergab sich von selbst, aber auch ein anderer erwies sich, obwohl ihm vorgebaut werden sollte und konnte, als ziemlich unabwendbar. Gelegenheit zu facultativem Unterricht sowohl im Deutschen als auch im Englischen war in meinem Collège geboten. Ein paar Mal in der Woche stellten sich besondere Lehrer aus Paris dazu ein,[63] Herr Bock für das Deutsche, Mr. Clarke für das Englische. Ob die Betheiligung an ihrem Angebot, so unzweifelhaft sie bei dem Engländer die ansehnlichere war, auch nur in seinem Falle die Bildung einer Mehrheit von Classen gestattete, ist mir entfallen. Beim Deutschen bestand die Möglichkeit dazu auf jeden Fall nicht, und unter den 6 oder 7 Theilnehmern an seiner einzigen Lehrstunde steckte ich 10jähriger Klippschüler z.B. mit einem dicken Elsässer zusammen, der, überhaupt wohl der älteste meiner damaligen Mitschüler, jedenfalls etwa noch einmal so alt wie ich war. Meine ohnehin vorhandene Rückständigkeit in beiden Classen brauche ich aber nach allem was sich aus meinen schon vorausgeschickten Angaben über den elementaren Stand meiner englischen und auch meiner deutschen Sprachkenntnisse ergiebt, nicht weiter zu entwickeln. Was die Person der Lehrer betrifft, so sticht aus meinen Erinnerungen an sie vor Allem der Contrast des Eindrucks der Correktheit und der Prosperität, den der Engländer durch Erscheinung und Benehmen hinterließ, im Verhältnis zu dem der Verkommenheit beim armen Deutschen hervor. Sein Bild ist mir denn auch stets ungleich lebhafter gegenwärtig geblieben als das seines englischen Collegen; nicht nur seine gutmüthige, gerötete Physiognomie, sein stark ergrauter Lockenkopf und seine untersetzte und etwas gedunsene Gestalt, sondern, nicht ohne sein Zuthun, auch etwas von seinem Schicksal. Denn als mir, wenn auch erst ein oder zwei Jahre nachdem ich Herrn Bock's Unterricht wieder entrückt war, doch immer noch als halbwüchsigem Knaben die Kunde zukam, daß er durch Selbstmord geendet, war ich gewissermaßen darauf vorbereitet. Und zwar nicht etwa nur durch den schon erwähnten Vorgänger, den er mit solchem Ende unter meinen Lehrern seltsamer Weise schon gefunden hatte. Oft genug hatte der unglückliche Mann seine kleine Classe in St. Germain von den Widerwärtigkeiten seines Lebens unterhalten, die ihn als deutschen Sprachlehrer nach Paris verschlagen[64] und ihn die Misère dieses Looses in aussichtslosem Kampf mit gemeinster Lebensnoth fortwährend erfahren ließen. Und noch auf verborgeneren Wegen ließ er sein Mißgeschick in den Gang seines Unterrichts eingreifen. Er gab uns Werthers Leiden zur Classenlectüre, und hat wenigstens bei mir mit dieser Wahl einen wenn auch nicht abgesehenen, doch höchst nachhaltigen Erfolg erreicht. Zwar waren die letzten Seiten des Goetheschen Werks die einzigen, zu denen ich fürs nächste überhaupt Beziehung fand und mit denen ich mich allein damals ernstlich und auch zur Unzeit beschäftigt zu haben mich noch erinnere, blieb mir auch natürlich völlig unverständlich was etwa meinen Lehrer daran interessiren mochte. Nur daß es, was sein sonstiges und allgemeines Interesse für das Buch betraf, leider nicht bei der nicht minder vollständigen Unfaßlichkeit, die es für mich hatte, bewenden blieb, sondern in mir selbst von der Lectüre eine so grauenvolle Vorstellung von Langweiligkeit sich festsetzte, daß es bis in das 3. Jahrzehnt meines Lebens hineinwährte, bevor ich mich entschloß den Werther wieder in die Hand zu nehmen und nun freilich damit die glänzendste Niederlage eines gefaßten Vorurtheils erlebte, von der ich an mir selbst überhaupt Erfahrung gemacht habe. Kurz, man nehme zu allen diesen Andeutungen über die Unzulänglichkeit des in fremden Sprachen in St. Germain zu erhaltenden Unterrichts den nahezu vollständigen Ausfall der Gelegenheiten hinzu, die ich bis dahin gehabt hatte, mich im Verkehr mit Altersgenossen im Deutschen und im Englischen zu üben, und ich brauche nichts weiter davon zu sagen, daß ich auch meiner deutschen und zumal englischen Anfänge nach etwa 2 Jahren ungefähr vollständig verlustig gegangen war. Im Deutschen insbesondere hatte mein Vater noch nachhelfen wollen, indem er mich auf die damals in Leipzig aufblühende Illustrierte Zeitung abonnirte, mit wie unscheinbarem Erfolge läßt sich auch denken. Was lernte ich nun aber in St. Germain zu dem dahin Mitgebrachten hinzu? Ohne[65] Zweifel etwas, denn ich habe selbst nicht die Erinnerung an besonderen, mir durch das Lernen dort bereiteten Kummer, galt auch für einen guten Schüler und trug als solcher meinen Theil nicht nur an den landesüblichen Bons points19 davon, sondern auch an den Büchern und Lorbeerkränzen der, ich weiß nicht mehr ob jährlichen oder halbjährlichen Distribution des prix. Französisch und Lateinisch werden auch das Gebiet meiner Fortschritte gewesen sein, denn dies waren die Gegenstände, die den Lehrplan des Unterrichts ungefähr ausfüllten, und Elemente auch des Lateinischen brachte ich schon mit. Doch wie es immer auch mit diesen gelehrten »Errungenschaften« meiner Schulzeit in St. Germain stehen mag, nicht an ihnen hängen meine lichtesten Erinnerungen daran20, und jedenfalls hat mich um jede noch[66] mögliche Abschätzung der Verdienste der Anstalt, deren Zögling ich dort war, um mich in der Förderung meiner Kenntnisse die Veranlassung meines Abschieds von ihr gebracht. Denn das ist lediglich eine weit über mich hinausgreifende historische Catastrophe gewesen, die Februarrevolution. In Petersburg waren die Folgen des Ereignisses, und zwar nicht nur um seiner Ferne willen, doch zu unabsehbar, als daß meine Eltern meinetwegen hätten ruhig bleiben können und so riefen sie mich denn zurück und ich verließ St. Germain Ende April 1848. Der Hamburger Großvater holte mich ab und brachte mich zunächst nach Paris, das nach Zerstörung der Eisenbahnbrücke von Asnières schon nicht mehr auf normalem Wege zu erreichen war. Hier nahm ich von den Verwandten Abschied. Der Oncle Antoine hatte, nachdem er noch in den Februartagen Gelegenheit gehabt, die Herzogin von Orleans bei ihrem Erscheinen in der Deputiertenkammer mit ihrem Sohne, dem Grafen von Paris und ihrer Bedrohung durch die in den Saal gedrungenen revoltirenden Massen hinauszugeleiten und in Sicherheit zu bringen, inzwischen seine Staatsanstellung verloren, und ich sah ihn, da er den Zusammenbruch seiner Carrière überhaupt nur wenig überlebte21, nicht wieder, die Tante Sophie erst Jahre später in Dresden. Meine[67] bis dahin nur bei den oben bezeichneten Gelegenheiten gewonnenen und demgemäß nur spärlichen Eindrücke von Paris vervollständigte was ich jetzt von den Verwüstungen der kurz vorhergegangenen Barricadentage zu sehen bekam: in einzelnen Straßen das noch aufgerissene Pflaster, auf den Boulevards viele gefällte Bäume, die Trümmer der in Brand gesteckten Blockhäuser der Municipalgarde, an vielen Häusern noch die Spuren der Straßengefechte, an den Tuilerien die Zertrümmerungen in den besonders von der rue de Rivoli aus sichtbaren Küchenräumen im Erdgeschoß22. Mit diesem Abschiedsbilde von Paris hatte ich mich besonders auseinander zu setzen als ich die Stadt nach 48 Jahren zum ersten Mal wieder sah (Frühjahr 1896). Denn was ich sonst bis zu diesem Abschied bei den schon oben bezeichneten Gelegenheiten in Paris von der Stadt kennen gelernt hatte, hat mir nur spärliche und meist weniger festsitzende Erinnerungen zurücklassen können23. Auffallend spurlos ist aber auch wenigstens der Anfang der Ende April 1848 angetretenen Heimreise in meinem Gedächtniß geblieben. Dieser Anfang ging in Begleitung meines Großvaters bis Travemünde vor sich. Selbst an einen kurzen dabei gemachten Aufenthalt in Hamburg habe ich fast keine und nur ganz dämmerige Erinnerungen, obwohl ich damals schon in meinem 11. Jahre stand. In Travemünde aber brachte mich der Großvater auf das Schiff, das mich bis Petersburg weiter zu befördern hatte. Es wird eines der ersten des Sommercueses[68] dieser Linie im Jahre 1848 gewesen und muthmaaßlich Anfang Mai abgegangen sein. Bei der Abfahrt empfahl mich der Großvater außer dem Capitän noch einem sich zufällig unter den Passagieren befindenden und mit meinem Vater bekannten Petersburger Handelsmanne, Herrn John Meyer, dessen ich in einer späteren Periode dieser Erzählung wieder zu gedenken haben werde, zur besonderen Beaufsichtigung auf dem Schiffe. Auch von dieser glatt verlaufenen Fahrt wüßte ich kaum noch etwas zu berichten, außer daß ich wieder seekrank war, hätte nicht die letzte Stunde noch eine besondere Verwicklung mit sich gebracht, an die ich allerdings eine lebhafte Erinnerung zurück behalten habe. Schon in Kronstadt war das Hauptschiff unserer Linie zur Einfahrt in die Newa gegen einen kleineren Dampfer zu vertauschen gewesen, doch hatte mir dieser Übergang weiter keine Sorge gemacht, von der ich noch etwas zu sagen wüßte. Anders die mir zur Zeit noch ebenso unfaßlichen als empfindlichen Hindernisse, die sich bei der Landung in Petersburg der nach zweijähriger Trennung ersehnten Wiedervereinigung mit meinem Vater in den Weg stellten. Diese Landung fand am damaligen »Englischen Quai« statt, jeder Verkehr zwischen den landenden Reisenden und dem Ufer war aber polizeilich bis zu Erledigung der solennen Zoll- und Paßformalitäten abgesperrt. Es half mir also nichts, daß mein Vater unter dem zahlreichen zum Empfang des ankommenden Schiffs am Quai versammelten Publikum stand und es uns auch bald gelungen war in einen Verkehr aus der Ferne zu treten. Zunächst hatte ich mich mit diesem zu begnügen und mich so gut es ging erst durch die Mysterien jener Formalitäten durchzuarbeiten bis ich den Strand betreten und mich in die Arme meines Vaters stürzen konnte. Bald darauf war ich zu Hause und sah Mutter und Geschwister wieder.

Die Verhältnisse, in die ich nun nach zweijähriger Abwesenheit zurückkehrte hatten inzwischen keine wesentlichen Veränderungen[69] erfahren. Nur daß ich unseren in der Fremde ohnehin so beschränkten örtlichen Familienkreis ungefähr auf das Elternhaus zusammengeschmolzen wieder fand. Die Großmutter war neuerdings ihrer Tochter nach Kaluga weit ins Innere von Rußland nachgezogen, wo die Tante Marie damals Erzieherin im Hause des Gouverneurs der Stadt, eines Herrn Smirnoff, war, sodaß der Onkel Louis der einzige Verwandte war, den wir noch in Petersburg hatten. Erst im nächsten Winter wuchs unserem engsten häuslichen Kreise durch die Geburt meiner Schwester Mathilde (25. Dec./7. Jan. 1948/9) ein neues Glied zu. Wenige Wochen nach meiner Heimkehr zogen wir für die kurze Sommerzeit wieder nach der Tschornaja Rjäschka auf's Land, doch jetzt in größere Nähe des sogen. Forstcorps (Ljäsnoi Corpus) und damit in eine besonders um größerer Trockenheit des Bodens willen viel gesündere Gegend als früher. Ein Wechsel, der sich damals als besonders zeitgemäß erwies, da wir hier die arge Choleraepidemie erlebten, die in jenem Sommer Petersburg heimsuchte und in ihren schlimmsten Wochen täglich an 1000 Menschen in der Stadt dahinraffte. Unserm Hause machte sich die Seuche unmittelbar kaum weiter bemerklich als durch die strenge Diät, der es mit der Allgemeinheit sich zu unterwerfen hatte. Doch starb ein armer Kutscher, der mit seiner kleinen Familie in einem Stallgebäude des Hofes, in dem auch unser Landhaus stand, wohnte, und ich sehe noch seinen hellen, nur eben auf das bescheidenste zusammengezimmerten Sarg, auf das formloseste auf einen Karren (Teljega) geladen, zum Hofe hinausfahren, von der heulend dahinter taumelnden jungen Witwe begleitet. Aber auch die zahlreichen geistlichen Umgänge, welche unter Führung von Popen in ihren Amtsgewändern und von Fackeln begleitet zur Beschwörung der Seuche die Straßen durchzogen, haben auch mir die Erinnerung daran eingeprägt. Sonst knüpfen sich die lebhaftesten Eindrücke, die mir von diesem ersten wieder in Rußland verlebten Sommer zurückgeblieben[70] sind, soweit sie nicht aus dem Elternhause für mich hervorgingen, abermals an die Freuden, die das Landleben bot und die jetzt namentlich der Verkehr auf dem reizenden Landsitz des damaligen Chefs des Englischen Magazins (Rob. Colquhoun) im Forstcorps (Villa Lanskoj) steigerte24. Dagegen bereitet mir die Wiederanknüpfung des Fadens meiner Schulerinnerungen an dieser Stelle einige Schwierigkeiten, insofern ich nicht mehr sicher weiß, ob die Beziehungen zur neuen Schule, der meine fernere Ausbildung anvertraut wurde, sich schon sofort nach meiner Rückkehr nach Rußland bildeten, oder – was mir als das weniger Wahrscheinliche vorschwebt – erst im Herbst nach der Rückkehr in die Stadt. Wie dem auch gewesen sein mag, diese neue Schule war die der lutherischen Annenkirche, die dritte Schule, welcher neben der ebenfalls lutherischen Petrikirchenschule und der schon früher erwähnten reformierten, damals die Söhne der in Petersburg niedergelassenen protestantischen Deutschen übergeben zu werden pflegten. Director der Annenschule war zur Zeit ein Sachse, Herrmann Wiedemann, als Nachfolger seines Schwiegervaters Erichsen, und auch die übrige Lehrerschaft setzte sich mit Ausnahme der mit dem französischen und russischen Sprachunterricht und dem Unterricht in russischer Geschichte betrauten Persönlichkeiten, aus lauter Deutschen zusammen, Ostseeprovinzlern großentheils aber auch, um in heutiger Sprechweise zu reden, Reichsdeutschen. Und in einer ähnlichen Proportion war auch unter uns Schülern neben dem deutschen das russische Element vertreten. Gleich den meisten dieser Schüler war auch ich Interner und gehörte als solcher zu den 4 oder 5 in der Familie des Directors untergebrachten Pensionären, der seine Wohnung in der auf der Liteinaja gelegenen[71] Schule hatte. Nur allsonnabendlich brachte mich eine »Droschke« nach etwa halbstündiger Fahrt zum Sonntag nach Hause. Von meinen damaligen Schulerinnerungen will ich nur der Mittwoch Abende gedenken, an denen Herr Dittmann, bei dem wir deutsche Stunden hatten, uns zu einer Erzählung um sich zu versammeln pflegte und mich jedenfalls zu den gespanntesten Zuhörern und dankbarsten Bewunderern seiner Kunst zählen durfte. Überhaupt muß ich was ich durch Unterricht und den Verkehr mit Kameraden an Fertigkeit im Gebrauch des Deutschen wieder erlangte und zum früheren Besitz darin dazu erwarb als die für mich werthvollste Förderung durch die Annenschule betrachten25. Wie es bis dahin mit dieser Fertigkeit stand, habe ich schon oben anzudeuten Anlaß gehabt. Sie zu erwerben war so lange die wichtigste mir gebotene regelmäßige Gelegenheit der Verkehr mit der Großmutter gewesen, der außer ihrem Deutschen, und zwar in ursprünglichster Frankfurter Mundart, nur Englisch geläufig war26. Nur mit dürftigen Trümmern des Wenigen, was ich vornehmlich auf diesem Wege erlernt hatte, war ich, wie schon gesagt, neuerdings aus Frankreich zurückgekehrt. Die Großmutter fand ich aber bei dieser Rückkehr in Petersburg nicht mehr vor – sie war kurz vorher weit ins Innere von Rußland in die Nähe ihrer Tochter Maria nach Kaluga gezogen und ich sollte sie überhaupt nur während des kurzen Aufenthalts, den sie bei ihrer Übersiedelung nach Wiesbaden im Jahre 1851 bei uns in Dresden machte, wieder sehen –, umso rechtzeitiger für die Erhaltung meines Deutschen trat denn die Annenschule jetzt ein. Dagegen hat sie mit dem in ihr natürlich obligatorischen Unterricht im Russischen was[72] ich von meiner Kenntniß dieser Sprache neuerdings (in Frankreich) wieder verloren hatte mir nur überflüssiger Weise zu ersetzen unternommen. Denn auch die Annenschule ist für mich nur ein kaum zweijähriges Provisorium gewesen, da ich im Frühsommer 1850 Petersburg wieder verließ, damit aber das Land meiner Geburt diesmal endgültig. Minderjährig aber wie ich war und, auch hiervon abgesehen, die mindestens in der Fremdencolonie Petersburgs damals allgemeine Ahnungslosigkeit in Hinsicht auf das Morgenroth der russischen Literatur nur theilend, habe ich später nicht mehr daran gedacht das Russische, das ich beim Abschied von Rußland noch mitnahm, gegen die Gewalt der Umstände vor so gut wie gänzlicher Vergessenheit zu bewahren.

Hier geschlossen gegen Mitte Juli.


20. Oct. 99.


Erst nach etwas mehr als dreimonatlicher Unterbrechung kehre ich zu meiner Erzählung zurück. Den nächsten Anlaß zum Abbruch bot der Sommeraufenthalt in den Alpen mit Frau und Nichte Jenni vom 14. Juli bis zum 11. August. Dann fand ich die mir vom Nietzsche-Archiv in Weimar zugestellten Nachberichte zum 8. Bande der neuesten eben erschienenen Gesamtausgabe der Werke Nietzsche's vor. Ihre Durchsicht veranlaßte einen Briefwechsel mit jenem Archiv (Dr. A. Seidl), der nun meinem Nietzsche-Archiv einverleibt ist. Noch weit länger nahm mich aber die Befassung mit den schon oben erwähnten Lebenserinnerungen der Tante Maria, von denen mir einige mir bisher unbekannte Stücke durch Ernst bei unserer Zusammenkunft in Frankfurt a./M. am 14. Aug. übergeben wurden, ein anderes Stück am 25. September darauf, von noch einem anderen wenigstens die Kunde durch eine briefliche Mittheilung Camillas vor 3 Tagen (17. d.M.) zukam. Insbesondere diese nur durch zufällige Umstände herbeigeführte und sonst ebenso unliebsame[73] als überflüssige Allmählichkeit mit der ich in Besitz des ganzen Bestandes besagter Erinnerungen oder doch zu vollständiger Übersicht über diesen Bestand gekommen bin, haben die Beschäftigung damit für mich so complicirt gemacht und mir selbst heute nur vorläufig damit fertig zu werden gestattet. Zu guter Letzt kam noch zur Unterbrechung der vorliegenden selbstbiographischen Aufzeichnung unsere (Idas und meine) viertägige Abwesenheit von Basel in Mannheim und Heidelberg zur Feier der Hochzeit der Tochter meines lieben Rohde (13.–16. Oct.) hinzu. Nun fahre ich wieder fort.

Im Mai 1850 verließ ich mit meiner Mutter und meinen jetzt drei Geschwistern, wiederum von einer Kindermagd, dieses Mal einer Finnin (Susanna) begleitet, Rußland aufs Neue und nun für immer. Mein Vater hat Petersburg während seines mehr als 30jährigen Aufenthalts daselbst wohl nie mit einer anderen Absicht bewohnt als Rußland alsbald nach Erwerbung eines seinem mäßigen Sinn genügend erscheinenden Vermögens zu verlassen. Verschiedenes drängte ihn 1850 dazu den eigenen Abschied wenigstens durch Trennung von seiner Familie vorzubereiten. Vor Allem die Gesundheit Mama's, welche auch ihre erste Reise ins Ausland vor außerordentlicher Hinfälligkeit dauernd zu schützen nicht vermocht hatte. Aber auch meine zweijährige Abwesenheit von Petersburg hatte keine meinen Eltern genügende Kräftigung meiner Constitution zu Stande gebracht, und noch mehr schien der Stand meiner Erziehung längere Verzögerung der Ausführung des allgemeinen Entschlusses uns Kinder überhaupt nicht in Rußland heranwachsen zu lassen zu widerrathen27. Denn was mich insbesondere anbetraf, so hatten es alle an meiner Art gemachten Beobachtungen und mit meinen Schulfortschritten gemachten Erfahrungen nun für meine Eltern zu beschlossener Sache gemacht,[74] daß ich studieren sollte, und damit ergab sich für sie auch Deutschland von selbst als das Ziel unserer Auswanderung28. Dazu kam, daß auch unser französischer Großvater in Hamburg zur selben Zeit sich's besonders angelegen sein ließ meinen Eltern zur Übersiedelung nach Deutschland zuzusprechen29. So kam es, daß während meine Mutter noch im März 1850 vom ganzen Plan als einem im Familienrath noch deliberirten schreiben konnte sie doch schon im darauffolgenden Mai mit der schon angegebenen Reisebegleitung zu seiner Ausführung wiederum wie schon vor 4 Jahren auf einem nach Travemünde bestimmten Dampfer davon fuhr. Und wie damals ging es nach der Landung zunächst auf wenige Wochen zum Großvater nach Hamburg, dann aber und zwar nach ungeahnt endgültigem Abschied – denn ihn raffte noch im nächsten August (19.) die Cholera dahin – nach Dresden, wo nun das neue, noch heute nicht ganz abgebrochene Zelt unserer Familie auf deutschem Boden aufgeschlagen wurde. Die Wahl des Orts war zufällig genug zu Stande gekommen, nach dem uns keinerlei natürliche Beziehungen außer denen, die uns an Deutschland ketteten, zogen. Mein Petersburger Schuldirector war, wie gesagt, Sachse, wußte mit manchem anderen das Schönste von den Reizen der Hauptstadt seiner Heimath, ihrem milden Klima, ihren guten Schulen zu erzählen, und sagte Empfehlungen an dort hausende Sippen zu. Auch unser Hausarzt kannte den Ort und empfahl ihn aufs Lebhafteste. Auch er unterhielt noch seltsamerweise Beziehungen zu Schwiegereltern, obwohl die Ehe, die sie geknüpft hatte, durch Scheidung schon gelöst[75] war, wie denn auch sein Schwager darüber hinaus ihm als Assistent treu geblieben und als solcher auch uns wohl bekannt war. Durch diese Vermittelung wurden die Häuser des Archidiaconus an der Kreuzkirche C. Böttger und des emerit. bad. Kammerherrn und einst – wenn auch schon damals kaum noch – vielgelesenen Novellisten C. von Wachsmann die ersten, zu denen wir am neuen Wohnort in Beziehung traten. Der eigentliche Einzug in diesen Wohnort freilich fand nicht unter den günstigsten Aspecten statt. Wir kehrten nämlich im Rothen Hirschen an der Ecke der damaligen äußeren Pirnaischen Straße und der Neuen Gasse ein. Die Wahl der Herberge war durch die Empfehlung unseres Hausarztes in Petersburg veranlaßt, diese Empfehlung ging aber auf etwas weit zurückliegende Erinnerungen zurück. Auch dauerte es gar nicht mehr lange und Dresden war so weit Großstadt geworden um sich seines Rothen Hirschen zu schämen und Braune's Hotel daraus werden zu lassen, damals indessen fanden wir keinerlei Anlaß gegen das etwas provinzielle Schild unseres Quartiers Bedenken zu hegen. In der Hauptsache hatten wir es auch nur mit einem großen Theil der Renz'schen Circustruppe die gerade die Stadt mit einem Besuch erfreute zu theilen. Wie bald aber verwandelte sich in der Erinnerung an unsere Dresdener Anfänge der »Rothe Hirsch« der Stadt aus dem Apotropaeon, dessen Mienen er zunächst annahm, in ein besonders liebes Wahrzeichen dieser Anfänge! Denn nicht nur daß seine »Schäden« meiner Mutter zum besonderen Anreiz wurden ihre schwere Aufgabe besonders herzhaft an die Hand zu nehmen – noch waren keine 8 Tage verflossen und ich saß schon auf einer Bank der Oberquarta der Kreuzschule, eine Woche darauf begannen wir schon in unsere eigene Wohnung (Lüttichaustr. 7) einzuziehen30 – nur zu bald lernten wir ahnen, wessen ich als ich noch im vorigen[76] Jahr Dresden sah so lebhaft inne wurde, daß die liebliche Stadt uns unter der Ansiedelung in ihr nimmermehr ein so reicher Quell der erquicklichsten Freuden hätte werden können, wenn sie nicht noch im J. 1850 ihren Rothen Hirsch gehabt hätte. Damals wußte sie, unbeschadet aller Vorzüge, die ihr als Residenz zuflossen, der anmuthigen Natur, in die sie gestellt ist, Eingang in ihre Bannmeile noch in einem Maaße zu gewähren, daß sie unter ihresgleichen vielleicht unvergleichlich heißen, uns Petersburgern zumal zum Paradies werden konnte, während sie inzwischen nicht ohne stattlichen Erfolg sich unter den Großstädten Europas weiter emporgeschwungen haben mag, doch ohne unter diesen noch einen so absonderlichen Vorrang behaupten zu können. Wie es aber auch mit dem Weltruhme Dresdens stehen mag, im Kalender meines Elternhauses steht der Tag unseres Einzugs daselbst als hoher Festtag eingezeichnet. Denn er gab ihm endlich eine Heimath, sein ferneres Gedeihen zunächst mit dem ungetrübtesten Jahrzehnt etwa einleitend, das ihm überhaupt beschieden gewesen ist. Ich insbesondere fand in diesem Ort den mir unvergeßlich leuchtenden Abschluß meiner fröhlichen Knabenzeit. Nur daß mich die Zeit bei dieser Niederschrift nachgerade zu dringend vorwärts treibt und ich auch sonst zu sehr besorgen muß mich gerade hier länger aufhaltend, zwar ein allerliebstes Unterhaltungsmittel aber auch ein unzweifelhaftes Allotrion unter meine Hände zu bekommen, als daß ich nicht darauf bedacht sein sollte meinen Bericht zu kürzen.

Zunächst ein Wort davon, wie es im Allgemeinen zu Hause weiterging. Schon das Jahr darauf hatte auch der noch in Rußland gebliebene Rest der Familie den Abbruch seiner dort aufgeschlagenen Zelte weiter gefördert und es war der Großmutter mit Hülfe ihrer Kinder endlich gelungen sich den alten Wunsch nach Deutschland zurückzukehren zu erfüllen. Schon vor einigen Jahren hatte sich ihr ältester Sohn mit seiner Familie aus Moskau nach Wiesbaden zurückgezogen.[77] Dort ließ nun auch sie sich für den kurzen Rest ihrer Tage nieder, nachdem sie auf der Vorbeireise im Frühsommer 1851 auch bei uns in Dresden auf ein paar Wochen in leider schon sehr hinfälligem Zustande abgestiegen war31. Aber noch im selben Sommer besuchte uns dort auch Papa auf einen Monat, zum ersten Male nach mehr als 30jähriger Entfernung den Boden Deutschlands wieder betretend und von mir schon bei der Landung in Stettin dazu begrüßt, und diese Besuche wiederholte er jährlich im Sommer bis er im Frühjahr 1854 endlich seine geschäftliche Stellung in Petersburg aufgeben und sich endgültig mit seiner Familie wieder vereinigen konnte. Bei Gelegenheit eines dieser Sommerbesuche (1852) hatte er mich auf eine Reise nach Wiesbaden zur Begrüßung unserer dortigen Verwandten mitgenommen, wo ich denn auch meine Großmutter etwa ein halbes Jahr vor ihrem Tode (16. Febr. 1853) noch einmal gesehen hatte. Unterwegs hatten wir noch Nürnberg mitgenommen32, und mit dieser Reise schloß sich für mich für viele Jahre die Reihe meiner in nur allzu frühem Alter genossenen Weltfahrten. Im darauffolgenden Sommer hatte dann meinen Vater in Dresden vornehmlich die Vorbereitung zum Bau des eigenen Hauses beschäftigt, dessen Grundstück Ecke der Lüttichau- und der späteren Sidonienstraße damals noch ins offene Feld sah. Während seiner letzten Abwesenheit in Rußland war der Bau des Hauses33 so weit gefördert worden, daß wir das Jahr darauf im Sommer mit ihm in seine Parterrewohnung einziehen konnten. Zum Glück stieß das Haus aber damals noch mit seiner Hinterwand und der Seitenwand[78] seiner auf die Sidonienstraße blickenden Façade an ein Gärtchen, das im Parterre von der bis zum 2. Stockwerk an eben besagter Seitenwand durchgeführten Veranda unmittelbar zu erreichen war. Sonst hätten uns Kindern wenigstens alle Vorzüge der neuen Wohnung vor der von uns verlassenen an Stattlichkeit kaum Trost für den Abschied vom Garten Lüttichaustr. 7 mit der bloßen Erinnerung an seine Freuden gestattet. So aber schien uns der Einzug ins neue Haus keine Wünsche mehr übrig zu lassen. Noch war kein Jahr verflossen und es wurde uns darin auch noch ein neues Schwesterchen geboren (4. Aug. 1855), das einzige was ich von meinen Geschwistern neben meinem Bruder zur Zeit noch besitze.

Inzwischen war ich selbst auf meinem Gymnasium zum Primaner herangewachsen und kein Jahr mehr vom Termin entfernt, an dem ich Studirenshalber das Vaterhaus verlassen sollte. Mit der Kreuzschule aber war meine Schulodyssee zum Glück in der That geschlossen, ohne daß es auf ihr selbst noch zu sonderlichen Abenteuern gekommen wäre, so bedrohlich auch die Aspecte, unter denen ich dort anfing, gewesen sein mögen. Denn schon was ich von meiner bisherigen »Vorbildung« erzählt habe kann keinen Zweifel über die Rückständigkeit lassen, mit der ich in meine schon oben erwähnte Oberquarta trat. In Einem Punkt war diese Rückständigkeit sogar ganz ungewöhnlich: ich war bald 13 Jahre alt und hatte noch keine Muttersprache, oder die, die ich hatte, war doch nicht die Sprache meiner Schule. Denn deutsch sprach ich noch unvollkommen und wie ein Fremder, Französisch sollte aber die im Elternhause herrschende Sprache, das es wie schon gesagt war, noch lange bleiben. Hat doch erst die eben gemeldete Geburt meiner jüngsten Schwester den Garaus dieser Herrschaft wenigstens eingeleitet. Daß sie Deutsch mit der Muttermilch lernte hat dem häuslichen Gebrauch des Französischen bei uns unter dem allmählichen Verfall, dem es schon sonst durch die Umstände[79] unterlag, schließlich den Rest gegeben und den Zustand herbeigeführt, bei dem in unserem häuslichen Verkehr das Französisch auf meinen Briefwechsel mit meiner Mutter und den älteren unter meinen Geschwistern beschränkt war. Das aber war ein Zustand, der sich erst in meinen Universitätsjahren vollkommen herstellte, und dann freilich in jenem bis zum Tode meiner Mutter wöchentlich unterhaltenen Briefwechsel wenigstens in ihren und meinen Briefen erhielt. Dieß indessen nur künstlich und absichtlich, um uns durch Übung im Besitz einer werthvollen Fertigkeit zu erhalten, auch nachdem in unserem Hause das Deutsche die längste Zeit schon obgesiegt hatte. Auf der Kreuzschule aber hatte ich es inzwischen und zunächst in einem Maaße erst zu lernen, das mich in mehr als einer Hinsicht tief unter den Ansprüchen ihres Lehrplans stellte, und in diesem Stück bin ich denn auch auf ihr weit mehr als durch meine Lehrer jedenfalls durch meine Kameraden gefördert worden. Auf diesen Hauptpunkt beschränkte sich jedoch meine anfängliche Rückständigkeit nicht. Im Griechischen zumal, mit dem ich schon früher überhaupt angefangen zu haben kaum mich noch entsinne, und in dem ich beim Eintritt in meine Quarta ihren Classenlehrer Albani die Verbalformen ihr beizubringen schon begriffen fand, mochte ich arg zurück sein, weiter als selbst Herr Albanis paedagogischer Eifer zu überwinden im Stande sein mochte, dessen gleichen ich doch in Hinsicht auf diesen Eifer unter meinen Lehrern nicht mehr begegnet bin. Auch war ich in besagte Oberquarta nicht aufgenommen worden, ohne daß gehörige Nachhülfe durch Privatstunden ausbedungen worden wäre. Dazu hatte der Rector Klee auch sofort unter seinen Primanern Carl Geißler meiner Mutter empfohlen. Seiner darf ich hier auf keinen Fall vergessen, denn ihm glaube ich mindestens in der Noth, in der er mir zunächst zu helfen hatte, viel Dank schuldig zu sein.

Geißler, der Sohn eines ehrsamen Dresdner Bäckers, hat mir[80] im Anfang unserer Beziehungen ohne Zweifel auch als Gelehrter imponiert und jedenfalls auch an Gelehrsamkeit genug besessen um mir die zunächst von ihm erwarteten Dienste ausreichend zu leisten. Was er mir aber gewesen ist hat vielmehr in der Treuherzigkeit und Biederkeit seines Characters seinen Grund gehabt. Denn sie vor Allem ließen ihn sich meiner überhaupt mit einer Freundlichkeit annehmen, die ihn doch noch heute als einen der wirksamsten Helfer, die ich auf meinen Jugendwegen gefunden, mir erscheinen lassen. An seine Stunden schlossen sich von vornherein häufige weite gemeinschaftliche Spaziergänge an, an denen ich dank seiner Art ich weiß nicht ob mehr Freude oder Nutzen hatte. G. war ein Schwärmer und Träumer, der dabei zunächst aller meiner Empfänglichkeit für die Naturreize seiner Heimath in der eingänglichsten Weise entgegenkam. Im Gespräch mit ihm befestigte ich mich ferner mehr als sonst woher im erstrebten Gebrauch des Deutschen, aber zugleich hat er mir auch die Pforten der deutschen, insbesondere der classischen Litteratur geöffnet, der er schwärmerisch anhing. Ja in diesem Bereich gingen seine Talente selbst weit über die Schranken meiner Belehrbarkeit hinaus. Denn Geißler war selbst Dichter, so offen ich aber als träumerischer Knabe für alle Poesie gewesen bin, so bin ich doch stets und in allen Perioden meines Lebens nur ein Träumer in Prosa gewesen und zwar meist ungeschriebener. Übrigens wurde mir Geißlers eigene poetische Production kaum schon damals kund, fürs Nächste übertrug er auf mich nur seine Begeisterung für die großen deutschen Dichter und stürzte mich zunächst in die Lectüre Schillers, und an ihm hat es gehangen, daß meine Bücherliebhaberei an den deutschen Classikern Feuer fing und ich mit den 300 wöchentlichen Lieferungen deutscher Classiker, die aus dem Cotta-Goeschenschen Verlage, irre ich nicht, 1852 zu erscheinen anfingen – es war dieß eines der ältesten Unternehmen dieser Art – aus meinem Taschengeld den Grund zu meiner Bibliothek legte.[81] Aber ich habe noch jetzt die Erinnerung, daß mir in unseren damaligen Discursen überhaupt erst vieles von der Welt aufging, was mir bis dahin verborgen war. So hatte denn G., als nach weniger als einem Jahr (bei seinem Abgang zur Universität als Jurist Ostern 1851) mein Unterricht bei ihm aufhörte, weit mehr an mir geleistet als mit der Anerkennung ausgedrückt wäre, daß er mich in dieser Zeit auf den Durchschnitt meiner Mitschüler gehoben und mir ähnliche Nachhülfe fortan entbehrlich gemacht hatte34. Ja unter seinem Regiment erlebte ich überhaupt den größten Lernerfolg, der mir überhaupt auf der Kreuzschule beschieden sein sollte und den ich darin sehe, daß es mir noch in meiner Oberquarta gelang, mich allen Hemmnissen zum Trotz vom Schwanzende an das ich zunächst gesetzt worden war, schon im Wintersemester ziemlich hoch in die erste Hälfte der über 50 Schüler zählenden Classe emporzuschwingen. Wesentlich höher stieg ich überhaupt nicht mehr, und behauptete mich von Obertertia an bis zu meinem Abgang in einer Classe von 40–50 Schülern ziemlich stetig als den 7ten. Womit mehr nicht gesagt sein soll als daß ich mich eben schlecht und recht hielt. Schwach war ich entschieden in der Mathematik, allein im Französischen aus Gründen, die ich hier nicht weiter zu entwickeln habe, von vornherein der Schule entwachsen, ein glänzender Schüler sonst in keinem Fache. Indessen die Lust ein Student zu werden, zu dem ich nun einmal, wie ich nicht anders wußte, heranzuwachsen hatte, blieb mir bis zuletzt unvermindert und was konnte mir die[82] Schule besseres erhalten? Unter meinen Lehrern kann ich in dankbarer Verehrung Julius Sillig (den Herausgeber des Plinius) und unseren Rector Julius Klee besonders namhaft zu ma chen nicht umhin, und da sich im Ranzen mit dem ich aus Vaterhaus und Schule auszug, noch mancherlei fand, was anderswoher als aus der Schule stammte, so soll auch des Dresdner Theaters der 50er Jahre nicht ungedacht bleiben, welches insbesondere Geisslers schon erwähnte Verdienste um mich in nachhaltigster Weise ergänzt hat.

Ostern 56 bezog ich nun mit dem Zeugniß der Reife die Universität Leipzig und zwar um Theologie zu studieren, und zur Begründung dieser besonderen Berufswahl habe ich in allem Bisherigen allerdings kaum das Geringste schon berichtet. Doch da es damit bei mir eine ganz besondere Bewandtniß hat und ich diesen Punkt darum einer ausführlicheren, ihm eigends gewidmeten Ausführung vorbehalte, so fange ich davon hier gar nicht besonders an und begnüge mich im zunächst Folgenden mit einer knappen Zusammenstellung meiner äußeren Erlebnisse auf dem Lebensweg überhaupt. Daß ich aber meine Studentenfahrten mit Leipzig begann, geschah aus keinem anderen Grunde als weil es die Landesuniversität war. Denn wenn ich auch, wie sich erst später zeigen wird, noch keine Ahnung davon hatte, wie wenig als Landesfremder ich mich durch diese Thatsache binden zu lassen Grund hatte, so bestand doch auch wiederum nur um so weniger in meinem Falle Grund, den Anfang meiner Ausfahrt in die Welt besonders zu verwickeln. Obwohl in aller Form für »reif« für den Moment erklärt, hatte ich ihr doch in Wahrheit noch in gar zu primitiver Hinsicht erst entgegen zu reifen, als daß sich empfohlen hätte bei der Wahl des Orts meiner ersten Niederlassung den Blick auf absonderliche Fernen zu richten. Ohnehin war die nächste und empfindlichste Schwierigkeit, die ich in den neuen Verhältnissen, in die ich mich nun zu finden hatte, überwinden mußte ein starkes Heimweh nach Hause. Dort hatte mich[83] nichts hinausgetrieben, und eigenes Temperament, Zuthun meiner Angehörigen und sonstige Umstände hatten sich wie verbunden um diese »Häuslichkeit« in mir groß zu ziehen. Eigenes Temperament – wovon ich hier nichts weiter zum beweisenden Beispiel anführen will, als daß Schüchternheit die eigentliche und ich kann sagen einzige Plage meiner Kindheit gewesen ist – Zuthun meiner Eltern und Geschwister – wozu es zum Beweise nichts weiter als meines dankbaren Zeugnisses bedarf; – sonstige Umstände – worunter ich aus der Menge dessen, was ich hier auseinanderlegen könnte nur die Thatsache der Fremdheit der uns umgebenden Welt für uns Overbecksche Kinder überhaupt hervorhebe als Folge unserer ganzen bisherigen und soweit hier zum Verständniß nöthig von mir schon dargelegten Familiengeschichte. Diese Fremdheit brachte es nothwendig mit sich, daß wir uns unter dem väterlichen Dache noch mehr zu Hause fühlten als es Kindern gemeinhin beschieden sein wird, noch mehr auf einer in heterogenem Elemente schwimmenden glücklichen Insel. In diesem Sinn erlaube ich mir denn vom Heimweh, das mir im Anfang meiner Studentenzeit zu schaffen gemacht hat, als von etwas Absonderlichem oder doch von einem nicht jedem Commilitonen gleich mir in den Weg gelegten Stein zu reden. Ist es mir doch auch noch lange über meine Leipziger Anfänge hinaus nachgegangen und wiederholte sich noch viele Jahre so oft ich nach einem Ferienbesuch das Elternhaus wieder verließ in drückendster Weise, bis ich damit so weit war, wie man nun einmal damit kommen muß und selbst das Gefühl, das mich jedes Mal noch plagte, nicht mehr »ernst nahm«. Nun war ich ja freilich so wenig wie es in der Regel ein deutscher Student bei seinem Übergang zur Universität sein wird zum Vaterhause »hinausgetrieben«. Ja keinem konnte durch den fortdauernden gemüthlichen Antheil der Seinen an seinem ferneren Ergehen das Gefühl ferner gehalten werden, »ausgesetzt« zu sein als mir und was hätten meine Eltern mir[84] jemals vorenthalten was die Gunst der Umstände ihnen dazu zu thun gestattete, um mir auch auf meiner Universität das Gefühl zu erhalten noch unter dem fernen Dache ihres Hauses zu leben, und dieses zwar wie sich weiter unten zeigen wird, noch weit über meine eigentliche Studentenzeit hinaus. Im buchstäblichen Sinne war mein guter Vater für mein »Unterkommen« besorgt, vom ersten Augenblick an da ich für ihn »draußen« war, da er mich schon in meinen Mulusferien nach Leipzig brachte, um mit mir für die schöne erste Studentenwohnung zu sorgen, die ich dort im obersten Stockwerk des großen Hauck'schen Hauses an der Ecke Poststraße und des Augustusplatzes bezog. Und mit den 300 Thln., die er mir jährlich während meiner Studentenzeit aussetzte, war ich damals so auskömmlich gegen Mangel gedeckt, daß es gewiß nicht an mangelnder Fürsorge meiner Angehörigen gehangen hat, wenn ich Mühe hatte mich an der neuen Heimstätte im Gedanken an die verlassene wieder einzuleben. Dennoch haben es wiederum besondere und für keine Liebe der reinen überwindliche Verhältnisse mit sich bringen müssen, daß ich mich als Student in die Welt hinaustretend unbehaglicher als mancher meines Gleichen auf eigene Füße gestellt sah. In Leipzig hatte mein Vater keine persönlichen Verbindungen. Das hing zunächst an seiner Landesfremdheit überhaupt, zumal ein besonderer Umstand ihn in dieser Fremdheit länger als unumgänglich festzuhalten diente. Wie wohl bei seiner Niederlassung in Sachsen im J. 1854 erst 50 Jahre alt hatte mein Vater alsbald mit Niederlegung aller Geschäfte den Anfang gemacht, zu früh ohne Zweifel, wie sich ihm selbst nachträglich aus mehr als einem Anlaß empfindlich machte und mit manchen Folgen, denen auch die später gesuchte Nachhülfe nur noch sehr unvollkommen abhelfen konnte35. Als Rentier in[85] einem fremden Lande anzufangen wird mindestens wenn es mit einem immerhin so bescheidenen Vermögen, wie es das meines Vaters damals war, geschieht, nur einer der unpraktischsten Wege sein, um im Lande Wurzel zu fassen und sich insbesondere fruchtbare Verbindungen in der neuen Heimath zu verschaffen. Darum war denn auch für mich keine Rede davon, daß ich auch mit werthvollen persönlichen Empfehlungen meines Vaters ausgestattet nach Leipzig abgezogen wäre. Solcher habe ich dort wie auch während meiner ganzen Studienzeit überall wo ich sie verbracht habe vielmehr vollkommen entbehrt. Von ungleich eingreifenderer Bedeutung auf die ganze Gestaltung meiner Studienjahre als diese von mir sogen. Landfremdheit meiner Familie an ihren Stätten ist aber noch die Fremdheit dieser Familie in der ganzen Sphäre, der mein nun angetretener Beruf angehörte gewesen. Ich kann wohl sagen, daß ich zu dieser Sphäre von dieser Seite her nicht die geringsten natürlichen Beziehungen hatte, und als Gelehrter auch in meiner Familie einsam geblieben bin. Von dieser Vereinsamung aber kann ich in diesem Zusammenhang nicht reden ohne von vornherein den Schein der Klage den meine Worte haben, zu zerstreuen. Es ist wahr, nicht einmal als Berather ist mein Vater insbesondere mir in meinem Studium zur Seite zu stehen in der Lage gewesen, geschweige denn, daß er mich in persönliche Beziehungen, die mich darin hätten fördern[86] können, gebracht hätte, aber so, wie er sich in dieser Lage verhalten hat, hat er es verstanden, mir den köstlichsten Schatz unverkümmert zu erhalten, aus dem ich in meinem Berufe gelebt habe, meine Freiheit. Was er thun konnte, um die sie bedrohenden Hemmnisse aus dem Wege zu räumen, hat er gethan, im Übrigen mir nur die Selbständigkeit gewahrt, ohne die ich in der Welt der Wissenschaft zu bestehen nicht gewußt hätte.

Mit diesen Andeutungen ist ein wesentliches Stück der allgemeinen Bedingungen, unter welchen sich mein erstes Studentenjahr gestaltete, aufs Reine gebracht, wenn ich nur an den schon gemachten Vorbehalt erinnere, den ich schon in Hinsicht auf Alles den eigentlichen durch die eigene Berufswahl bestimmten Gegenstand meines Studiums gemacht habe.


7. Nov. 1899.


So langsam rückt diese Aufzeichnung vorwärts, zum sichersten Anzeichen der geringen Freude, die ich daran habe. Große habe ich mir ja selbst von vorne herein davon nicht versprochen, was ich damals voraussah und voraussagte, war doch immerhin nicht als Freibrief für die Sache gemeint, sich zur eigentlichen Plage für mich auszuwachsen, als welche mich nun inzwischen gemachte Erfahrung damit kennen lehrt. Zur Zeit wenigstens mache ich diese Erfahrung sozusagen bei Tage und bei Nacht. Bei Tage, indem bisweilen ein Blatt Papier, das mir der Lauf des täglichen Lebens in die Hand bringt, genügt um mich vom vorliegenden Hefte abzurufen und mich empfinden zu lassen, daß [mich] im Grunde Beschäftigung mit den Dingen, unter denen ich lebe und die ich erlebt habe und über die nachzudenken mir lange Jahre festgehaltener Beruf zum täglichen Brod gemacht hat, im Grunde viel mehr interessiert als die Beschäftigung mit mir selbst, die ich auf diesen Blättern treibe – ich will als Beispiele solcher Aufzeichnungen, die mich in[87] diesen Tagen hier unterbrochen haben, nur die Aufzeichnungen in meinen Collectaneen aufführen unter »Mittelalter (Allgemeines)« S. 1 ff., »Nationalismus, Gegenwart, Characteristisches« S. 1 ff., »Bismarck (Allgemeines)« S. 1, »Bismarck Christentum« S. 1 ff. – »Christenthums Ende gegenwärtig«. Und doch ist mir die erwünschte Rückkehr zu allgemeinen Fragen der Art und insbesondere zum Abschluß einiger theils schon begonnener theils und zwar zum größeren Theil nur geplanter gelehrter Arbeiten, zur Zeit noch fast unabsehbar, wenn ich bedenke, daß mich außer vorliegender Selbstbiographie noch die Auseinandersetzung mit der Theologie trennt, um deren willen allein die Biographie unternommen ist. Dazu kommt, daß ich neulich zum ersten Male meiner Frau das gegenwärtige Manuscript bis S. 87 vorgelesen habe, von dem selbst sie bis jetzt nur als einem im Entstehen begriffenen wußte. Die Lectüre füllte zwei unserer Leseabende aus und fand das erste Mal bei S. 51 ihren Abschluß. Am ersten Abend hörte meine Frau mit Gespanntheit zu und bemerkte weiter nichts, als daß sie nun begreife, daß das Ganze so langsam vorrücke, da in der That viel daraus zu erfahren sei. Nach der Lectüre der letzten Hälfte schwieg sie in der Hauptsache nur und bekannte sich ein paar Abende darauf nur zu einem unheimlichen Gefühl, das sie bei der Vorstellung habe, daß das veröffentlicht werden solle. Meine Gegner würden wohl nicht wenig Genugthuung daraus schöpfen. Nun will ich nicht behaupten, daß gerade aus diesem Gesichtspunkte die Bedenken erwuchsen, nur insofern entsprach indessen auch der von mir aus unserer Lectüre geschöpfte Eindruck, daß ich in der Hauptsache mit S. 31–51 zufrieden war und namentlich kein Bedenken gegen eine selbst ganz unverkürzte und im Wesentlichen wörtliche Veröffentlichung hatte, dagegen bei S. 51–87 selbst nicht recht daran denken mochte, was auch den größeren Schwierigkeiten entsprach, deren Druck ich bei der Aufzeichnung schon empfand. Kurz ich befinde mich[88] augenblicklich mit diesem Manuscript in einer Noth, welche die Plage, die ich damit habe, mich nachgerade weit über das Maaß dessen hinausgehend empfinden läßt, was ich davon zu dulden mich gehalten fühle und mich auch sonst dazu drängt damit zu einem Ende zu kommen. So beschränke ich mich denn von hier ab auf eine wesentlich flüchtigere Skizze meiner Erlebnisse bis zur Gegenwart, um dann mich thunlichst bald meiner Auseinandersetzung mit der Theologie und meinem einstigen öffentlichen Amt zuzuwenden.


14. Nov. 99.


Mein erstes Jahr in Leipzig war kein sehr erquickliches und förderliches und wurde wohl wesentlich dank der Neugier, die mich bei dieser ersten etwas selbständigen Umschau in der Welt, die mich umgab, spannte, glücklich überwunden. Mein Verkehr beschränkte sich fast auf einige mit mir auf die Universität gekommenen Schulkameraden und ließ mich keinem von ihnen näher treten als es schon bis jetzt geschehen war, etwa Em. C. Rüger (dem gegenwärtigen Sächs. Generalstaatsanwalt) und Dohmke (vor Jahren als Lehrer der Nicolaischule in Leipzig gestorben) ausgenommen. Bei dem vollends etwas hottentottenhaften Gefühle, mit dem ich mich unter meinen neuen theologischen Cameraden bewegte, konnten neue Freunde mir von dort nicht wohl zuwachsen. Neben dem studentischen Verkehr beschränkte sich mein damaliger Familienverkehr in der Hauptsache auf Mutter und Schwester des schon genannten Philologen Dohmke. Von Förderung in meinem Studienfache konnte mir den Umständen nach nichts, das sich mir als besonders ersprießlich erwiesen hätte, aus allen diesen Kreisen zufließen. Außer mir war von der Kreuzschule ein einziger Theologe abgegangen, der nach Jena gegangen war, und zu dem ich übrigens besondere Beziehungen bis dahin nicht gehabt hatte. So fehlten denn in meinem Umgang die Fachgenossen fast ganz, umso mehr wäre auf den persönlichen[89] Einfluß eines Lehrers angekommen um mir die Elemente der Theologie zugänglich zu machen. Nun hatte ich zwar von Dresden durch einen Bekannten meiner Eltern zwei Empfehlungen an Universitätslehrer mitgenommen. Die eine wies mich an Prof. Erdmann, der irre ich nicht gerade Rector war, und die andere an meinen Namensvetter den Prof. der Archaeologie. Erdmann war Chemiker und zog sich auch für mich am praktischsten aus der Sache, indem er mich seinerseits an zwei seiner theologischen Collegen wies, so daß meine Beziehungen zu ihm mit der einmaligen Abgabe meiner Empfehlungskarte ihr Ende nahmen, womit aber diese Beziehungen fast noch fruchtbarer waren als die zum Overbeckschen Hause, obwohl diese zu Stande kamen und etwas längeren Bestand hatten. Von jenen theologischen Lehrern, mit denen ich dank Erdmann in Verkehr trat, war der eine der Prof. der prakt. Theologie W. Brückner. Begreiflicher Weise konnte gerade er zur Zeit noch besonders wenig mit mir anfangen, was ihn indessen nicht abhielt mich nicht nur freundlich zu empfangen sondern, worauf ich noch zurückkomme, sich noch über Leipzig hinaus für mich fürsorglich zu erweisen. Noch mehr habe ich Anlaß den mir von Prof. Tuch, dem zweiten jener Absenker der Empfehlungen an Erdmann, erwiesenen guten Willen dankbar anzuerkennen. Tuch war nun zwar ein entsetzlich behäbiger und zugleich steifer und um dieser Eigenschaft willen unpopulärer Herr, dessen Unpopularität ihm auch den argen Schiffbruch seines Rectorats im Jahre 1858 zuzog und ihn wohl vornehmlich verhindert hat, mit der Opposition, in der er zum orthodoxen Lutherthum seiner Facultät, der allgemeinen Annahme sollte, etwas anzufangen. Auch war es, nehme ich meine eigene damals noch exorbitante Unbeholfenheit hinzu, kein Wunder, daß im ersten Jahr unseres Verkehrs sich nicht viel mehr ergab als der schickliche Austausch respectvoller Aufwartungen meinerseits und entsprechend spatiirter Einladungen seitens meines[90] Lehrers. Doch mag schon damals der Grund zum Eindruck persönlichen Wohlwollens gelegt worden sein, den ich aus der Wiederaufnahme unserer Beziehungen bei meinem zweiten Aufenthalt in Leipzig davon trug. Fürs Nächste konnte auch mein Verhältnis zu Tuch nichts weniger bewirken als was damals eines der allerdringendsten Erfordernisse gewesen wäre um meine theologischen Anfänge in Leipzig für mich ersprießlicher zu gestalten, ich meine die Schranken der totalen Fremdheit, die für mich das meine Facultät beherrschende Luthertum hatte, zu erweichen. Den Kathedervorträgen ihrer übrigen Meister gelang es vollends nicht, zumal ich frei wie ich mich als Student bewegte, diesen Vorträgen nur sehr getheiltes Gehör schenkte. Denn ich nahm als verlorener Sohn der Theologie mein Gedeck an der Tafel der Universitas litterarum umso ernster, hörte viel und naschte mehrfach Philologisches und Philosophisches neben der Kost, auf die mich meine Matrikel zunächst anwies. So kam es, daß die wichtigste Anregung, welche ich zur Förderung meiner theologischen Bildung in meinem ersten Studienjahr in Leipzig erfuhr, nicht daher, wenn auch nicht weit davon (der Verfasser war a.o. Prof. der Theologie in Halle) stammte. Sie wurde mir durch K. Schwartz »Zur Geschichte der neuesten Theologie« zutheil. Mein Vater hatte das eben erschienene Werkchen, durch Zeitungsnotizen veranlaßt, in meinem Interesse in die Hand genommen und mir im Winter 1856/57 sofort zugestellt. Es ist seinerseits der einzige »Eingriff« in meine theologische Entwicklung geblieben, wiewohl diesem in der That Erfolg nicht gefehlt hat. Wer aber diesen Erfolg verstehen will hat vor Allem zu vergessen was etwa die Schriftgelehrsamkeit der Gegenwart von ihrer inzwischen erklommenen Höhe an Schwartz' Buch aussetzen zu können sich einbilden mag. Überdies aber würde ich meinerseits zur Erklärung des von mir davon empfangenen Eindrucks jeden dafür sich Interessierenden bitten, sich einigermaaßen in meine damalige Haut zu versetzen.[91] Was ich Schwartz, dessen Werk jedenfalls weit über das was ich damals übersehen konnte hinausging, vor Allem verdanke ist die kritische Stimmung gegen alle lebende Theologie, in die ich durch das Buch gerieth. Nun erkläre ich mir selbst diesen Erfolg viel weniger aus der Begegnung seiner Kritik mit der schlechten Erfahrung die ich persönlich mit meinen Leipziger theologischen Lehrern eben zu machen meinte als aus der Begegnung des Buches mit dem Problematischen meines eigenen Verhältnisses zur Theologie im damaligen Augenblick. Denn welcher Anreiz zur Kritik an einem Object, den man außer sich fände, vermag an Mächtigkeit sich zu messen mit dem, den man den Räthseln, die man sich selbst in Hinsicht auf dieses Object aufgiebt, entnimmt? So war ich denn freilich im Augenblick, da ich Schwartz las, für die Belehrung so offen wie nur möglich, daß es mit der neuesten Theologie nicht zum Besten stehen möge. Doch waren es keineswegs nur negative Eindrücke, welche ich aus dem Schwartzschen Büchlein schöpfte. Wohl las ich mit besonders gespanntem Ohr was ich von Strauß und der Tübinger Schule erfuhr und vergaß es auch nicht wieder, doch hörte ich mit kaum geringerem Interesse beim Bericht über noch einen Theologen von sehr verschiedener Art zu, der überhaupt unter den von mir erlebten auch der einzige geblieben ist, für den ich als Theologen eine gewisse Hochschätzung empfunden habe und noch empfinde. Ich meine Rich. Rothe. Auch stand, was Schwartz von ihm meldete, wenn auch für mich noch durch keinerlei eigene Kenntniß der Schriften Rothe's ergänzt, doch in Hinsicht auf den Eindruck, den es mir machte, nicht mehr ganz auf sich. Am Baume der Leipziger Theologie gedieh nämlich damals, wenn auch kümmerlich genug, ein recht seltsamer Parasit, den es dem übrigens auch Schwartz wohlbekannten Philosophen Herm. Weiße am Ort anzupflanzen gelungen war. Er hatte sich erst (1852) einige Jahre zuvor nicht verdrießen lassen das Recht dazu sich noch als Ordinarius seines Fachs[92] und schon in gewissem Lebensalter durch Habilitirung als Privatdocent der theol. Facultät zu erwerben und sein geistvollstes, heute vollends von unverdienter Vergessenheit bedrohtes theologisches Werk, die »Kritische und philos. Bearbeitung der evangel. Geschichte« war vor schon bald 20 Jahren erschienen (1838). Nun stellte sich zwar der academischen Wirksamkeit dieses Mannes als schwerstes Hindernis ein Vortrag von einer Schwerfälligkeit entgegen, von der die gegenwärtig in diesem Betracht an unsern deutschen Universitäten so enorm veränderten Ansprüche kaum noch eine Vorstellung gestatten. Dennoch fand auch ich als Anfänger, als solcher persönlich viel zu wenig für Weiße's Einfluß vorbereitet, um dessen eben erwähntes Hinderniß zu überwinden, eine kleine Theologenschar sich diesem Einfluß mit Begeisterung unterstellend vor, die mir, ohne daß ich auch ihr schon näher getreten wäre, doch neben den fähigsten Individuen in der Masse, die im ortsgewaltigen Luthertum ihr Element fand, ziemlich als der geistig angeregteste Bestandtheil meiner theologischen Kameradschaft erschien. In diesem kleinen Kreise aber pflegte man sich, so weit man überhaupt noch außerhalb Leipzigs nach Erweiterung seines theologischen Gesichtskreises umzusehen pflegte – was wenigstens unter sächsischen Landeskindern zur Zeit im Allgemeinen eine große Ausnahme war – für die Fortsetzung seiner Studien nach Heidelberg um Rothe's willen zu wenden. Dorther kam mir nun außer aus Schwartz auch der Gedanke desgleichen zu thun, als ich schon am Schluß meines zweiten Leipziger Semesters weiter zu ziehen beschlossen hatte und mich hinsichtlich des Ziels meiner Wanderschaft entscheiden mußte. Heidelberg blieb nun ein bloßer Gedanke und ich zog statt dessen nach Göttingen. Bevor ich berichte wie es dazu kam, muß ich noch mit einem Wort meinen ersten Abschied von Leipzig erläutern.

Viel dazu zu sagen habe ich mit dem schon Gesagten in der That kaum noch übrig gelassen. Jedenfalls nicht darüber,[93] daß sich mir selbst der Gedanke an diesen Abschied nahe legte. Was aber meine guten Eltern betrifft, so waren sie ja auf nichts anderes bedacht als mich auf meiner selbst gewählten Bahn zu fördern. Auch mochten sie selbst am inneren Wachsthum ihres Sohnes während dieses ersten Leipziger Jahres allmählich Beobachtungen machen, die auch ihnen einen Luftwechsel zu empfehlen schienen. Ihretwegen also mochte ich weiter ziehen – aber wohin? das war nun eine Lebensfrage, bei der mir der Mangel eines sachverständigen Berathers sich empfindlicher gemacht hat als je wieder später wo ich wieder an einem ähnlichen Kreuzwege meiner Lebensbahn stand. Von einem sachverständigen Berather sage ich, wobei ich unter den Sachen, deren Verständnis besonders erforderlich gewesen wäre, vor allem an mich denke, an einen Berather also, der zu allem sonst wünschenswerthen Wissen vor Allem mich gekannt und mir wohlwollend gesinnt gewesen wäre. Und auch daß ich den Mangel eines solchen Berathers damals so absonderlich empfunden hätte kann ich nicht so unerläutert stehen lassen. Vielmehr rede ich hier so von einem schon außerordentlich retrospectiven Standpunkt aus, und die Wahrheit ist, daß ich von meiner damaligen Noth auf dem sehr naiven Standpunkt, zu dem ich erst gelangt war, nur unverhältnismäßig wenig empfunden habe und erst weit später mir aufs Herz fallen ließ, wie viel mein damaliges Berathensein zu wünschen ließ.

Zu eigenen Einfällen und Eindrücken hatte ich aber in meiner damaligen Lage noch viel zu geringes Zutrauen, als daß jene Heidelberger Gedanken viel Aussicht gehabt hätten meine Entschlüsse zu bestimmen oder auch nur den Autoritäten, deren Befragung sich für mich von selbst verstand, ernstlich nur vorgelegt zu werden. Diese Autoritäten aber hielt ich für mir gegeben in den einzigen Lehrern, zu denen ich, wie schon gesagt, persönlichen Zugang hatte. Von ihnen richtete Brückner zuerst meine Blicke nach Göttingen und[94] Tuch meinte mit besonderem Hinweis auf Ewald diese Weisung bestätigen zu können. Bei mir selbst sprach dafür nur die dunkle, meinem rationalistischen Sinne zusagende allgemeine Vorstellung, die ich von Göttingen als einer besonders nüchtern gelehrten und mit Lehrmitteln reich ausgestatteten Universität hatte, und mein Schwartz schien mir auch mindestens keinen entschiedenen Widerspruch zu erheben. Bei meiner Entscheidung blieb aber schließlich noch ein ziemlich zufälliger und nebensächlicher Umstand nicht ohne Gewicht. Meine wissenschaftliche Aufklärung war nicht das einzige das mir am Schluß meiner Leipziger Erstlingszeit noch recht viel zu wünschen übrig zu lassen schien, sehr zurückgeblieben kam ich mir auch in der von mir erworbenen Kenntniß des Studentenlebens im engeren Sinne vor. Nun hatte im Herbst 1856 mein vertrautester Kamerad auf der Kreuzschule, Wolfg. Helbig – zur Zeit in Rom lebend als weiland Secretär des dortigen deutschen archaeologischen Instituts – die Universität Göttingen bezogen und schrieb mir von dort begeisterte Briefe über die Freuden, die er in einem Studentenverein, dem er beigetreten sei, finde, und ich konnte darüber nicht im Zweifel sein, daß auf diesem Gebiete seine Stimmfähigkeit die auf dem der Gottesgelehrsamkeit jedenfalls bedeutend übertreffe. Ich lieh also auch ihm Gehör und zog nun zu Ostern 1857 nach Göttingen, mit einem »Bewußtsein« des »Guten«, das ich dort holen sollte erfüllt, das, wie ich hinzuzufügen brauche, an Dunkelheit hinter dem »Drange«, der mich überhaupt weiter trieb, jedenfalls nicht zurückblieb.

Für meine theologische Entwicklung trug ich als eigentliches Resultat meines ersten Studienjahres in Leipzig davon 1) den Verlust des Rests meines Kinderglaubens; 2) die Durchdrungenheit davon, daß ich mit dem bisher gehegten Ideal von einer Pfarrwirksamkeit nicht auskommen werde. Anfang 1857 legte ich die Gewohnheit des täglichen Abendgebets vor dem Einschlafen, das ich stets bis dahin im Bette[95] knieend verrichtet hatte, ab36, schließlich aus Ekel an einem Act, bei dem ich immer mehr selbst »abwesend« und nicht herzlich betheiligt zu sein empfand. Und was die Pfarrwirksamkeit betraf, so ward mir freilich schon zu dieser Zeit klar, wie viel ich auf jeden Fall zu lernen hatte, um sie unternehmen zu können. Doch dazu meinte ich auf der Universität zu sein, und was ich von ihr erwartete hatte ich von vornherein nicht schon im ersten Jahr mir zu erwerben angenommen.

In Göttingen blieb ich nun zwei Jahre – bis zum Frühjahr 1859 – für die Förderung, die ich dort in meiner Facultät erfahren, ohne allen Zweifel viel zu lange. Billigerweise lasse ich ganz dahingestellt, was aus mir als Theologe geworden wäre, wenn ich unter Rothe's persönlichen Einfluß getreten wäre – selbst den starken Zweifel daran, daß ich mich wesentlich anders entwickelt hätte, als es schließlich der Fall gewesen ist, überlasse ich gern jedem nach Gutdünken zu schätzen; – noch unnützer wäre natürlich jede Speculation darüber, wie ich gediehen wäre, wenn schon zu meiner Zeit auf der Georgia Augusta das große Licht geleuchtet hätte, das gegenwärtig die »moderne Theologie« Deutschlands erhellt, – von Göttingen, wie es nun einmal zu meiner Zeit war, bin ich als Theologe ungefähr so klug wie zuvor wieder abgezogen. Durch meine eigene Schuld ohne allen Zweifel ganz überwiegend, ja mea maxima und selbst varia culpa. Auch ist weit mehr zu meiner Entschuldigung als Anderen zur Anklage, was ich hier zur Erklärung jener Thatsache anzudeuten im Sinne habe, gemeint. Die Meister, von denen ich zu lernen hatte, waren mir entweder gerade zu hoch oder sie waren doch das nicht, was ich brauchte. Ich will mich jedoch bei dem Nachweis hiervon[96] nicht zu lange aufhalten und es nur aus dem mir gebotenen Gelegenheiten mich auf dem Gebiet des Alten Testaments weiter zu bilden illustrieren.

Der damalige Göttinger Meister auf diesem Gebiete war bekanntlich Heinr. Ewald, dessen Unterricht überhaupt kein lernbegieriger Theologe sich dort entgehen ließ. Von ihm indessen trug mir schon die öffentliche Meinung, die mich umgab, genug zu, um mich davon abzuhalten, mir ihn sofort zuzutrauen. Ich hatte zwar als Zögling Fr. Böttchers im Hebräischen auf der Kreuzschule Grund, mich zu den Bevorzugten unter den deutschen zur Universität abgegangenen Gymnasiasten zu rechnen. Doch hatte bei der Bescheidenheit meines Sprachtalents auch die Schule aus mir keinen nennenswerthen und besonders interessirten Hebräer zu machen vermocht, und auch Tuchs durch dessen klare Art und Verständigkeit mich immerhin besonders anziehender und mir lehrreicher Hiob in Leipzig im eben verflossenen Wintersemester schien mir als Vorschule für Ewald noch unzureichend. So begnügte ich mich mit Bertheaus Psalmen, deren Genuß jedenfalls keinerlei Vorurteil in mir im Wege stand. Nur daß ich, indem ich mich für sie entschied, wie sich dann durch Erfahrung herausstellte, mit der tödtlichen Langweiligkeit des Vortrags nicht gerechnet hatte, welche es mit sich brachte, daß diese Vorlesung eine der unfruchtbarsten blieb, die ich abgesessen habe. Erst im Sommer 1858 aber wagte ich es mit Ewald, wiewohl er sich, unheimlich genug, anheischig machte, in der kurzen Zeit dieses Semesters Hiob und die salomonischen Schriften zu »bewältigen«. Was ihm auch davon in den Köpfen »Eingeweihterer« geglückt sein mag, in den meinen drang die eben genannte Litteratur kaum nur vergewaltigt herein. Von einer Einleitung abgesehen, über die ich sofort noch ein Wort sagen werde, setzte der Lehrer ziemlich ohne Weiteres in irgend einem mitten aus dem salomonischen Spruchbuch herausgerissenen Capitel ein, worauf noch einige weitere nicht[97] minder kühn ausgreifende Pinselstriche zu erkennen gaben, was von der Composition des genannten Buchs zu halten sein sollte. Der unter Anderem nachkommende Klotz Hiob war noch mein Glück. Denn ohne ihn und die wie schon gesagt, schon vorausgegangene Vorbereitung durch Tuch wäre es mir schließlich kaum möglich gewesen zu sagen, daß ich aus der Ewaldschen Orakelhöhle überhaupt etwas »nach Hause getragen«. Nun war aber meine wissenschaftliche Unreife jedenfalls nicht die einzige Ursache der Unfruchtbarkeit meiner Ewaldschen Schülerschaft. Ich stand ihm wohl überhaupt zu fern um auch nur seine bloßen Lächerlichkeiten zu überwinden. Zu diesen gehörte aber das eintönige Prophetenpathos des ganzen Ewaldschen Vortrags, das weder der Gegenstand – z.B. eine anzubringende grammatische Regel – noch die der jetzigen Studentengeneration vielleicht kaum noch glaubliche Bescheidenheit des Hörsaals auch nur für einen Augenblick zu dämpfen im Stande war. Mag aber mir diese Art geradezu unausstehlich gewesen sein, allein bin ich jedenfalls nicht empfindlich dafür (oder dagegen) gewesen. So wenig Ewald nach obigen Angaben Zeit zu verlieren hatte, so fand er doch einen Anlaß, mit einer extemporierenden Improvisation anzufangen. Es war soeben zur Controlle wenigstens der Landeskinder unter den Göttinger Theologen für diese ein sogen. theologisches Ephorat eingeführt worden, vor dem sich jene Landeskinder künftighin in jedem Semester zur Examinierung über die gehörten Vorlesungen zu stellen haben sollten. Ewald erblickte in diesem Institut einen unerträglichen Eingriff in die akademische Lernfreiheit, gegen welche er nun sofort bei Eröffnung seiner Vorlesung einen uns gewissermaßen zum Widerstande auffordernden Bannstrahl schleuderte. Wir aber, die wir zu seinen Füßen saßen, statt den Strahl in uns Feuer fangen zu lassen, was uns doch so nahe gelegen hätte, schämten uns fast des um unsertwillen vor uns losgelassenen Wetters. Es tobte sich aus und wir machten auch, daß wir es,[98] so bald und gut es ging, von uns abschüttelten. So konnte Ewaldsches Pathos auch den populärsten Gegenstand zu Grunde richten.


7. Febr. 1900.


Hier brach ich diese Aufzeichnungen in der letzten Woche des J. 1899 ab, im Gefühl mich immer mehr in eine Selbstbiographie zu verlaufen, wie ich sie gar nicht beabsichtigte, und dabei nur immer mehr geradezu ins Schwatzen zu gerathen. Selbst im Stil scheint mir das bis hierher Geschriebene bei nochmaligem Überlesen mindestens von S. 101 ab sich so sehr zu vernachlässigen, daß ich auch für mich mindestens von da ab, jeden Gedanken an eine Veröffentlichung des Geschriebenen, sei es nur posthumer Art, für vollkommen ausgeschlossen halte, und solche Möglichkeit und auch nur allenfalls und einstweilen höchstens bis zum bezeichneten Punkte dieses Manuscripts bestehen lasse. Vollkommen irreführend wird es geradezu gegen Schluß, wo es den Anschein gewinnt, als solle hier eine Darstellung meines theologischen Lehrgangs gegeben werden. Daran denke ich hier nicht schon aus dem Grunde, weil ich den Gegenstand einer anderen Gelegenheit vorbehalten habe, dem Bericht über meine theologische Laufbahn, insbesondere meine Basler Professur der Theologie. Überdies ist aber meine Göttinger Zeit für die Entwicklung meiner Theologie vorzüglich gleichgültig gewesen. Das Positivste, was dabei herausgekommen ist, ist noch die Kräftigung meiner Abneigung gegen alle dogmatische Theologie in den langweiligen und mir trotz eifrigen Absitzens und Nachschreibens vollkommen unfaßlich und unfruchtbar gebliebenen Vorlesungen von Dorner (Glaubenslehre 1. u. 2. Th. u. Joh.evgl.) gewesen. Für meine persönliche Entwickelung ist damals jedenfalls viel wichtiger gewesen als die Tatsache, daß ich in Göttingen als stud. theol. eingeschrieben war, mein Eintritt in die damal. Progreßverbindung der Grünen Hannoveraner[99] im Mai 1857, und wäre es auch nur dadurch, daß er meine spätere Freundschaft mit Treitschke vorbereitete. Doch hätte ich auch sonst, sind mir auch aus den fröhlichen Tagen im genannten Verein keine tiefer in mein Leben eingreifenden Freundschaftsverhältnisse er wachsen, noch mancherlei von diesen Tagen zu erzählen, was ich noch in dankbarer Erinnerung zu tragen Ursache habe. Nur etwas was die Verbesserung meiner Beziehungen zur Theologie beträfe, ließe ich mich überhaupt auf Weiteres ein, käme auf keinen Fall zur Sprache. Was diese Beziehungen betrifft, so hat vielmehr auch mein Verhältnis zur Hannovera nur meine Entfremdung von theologischen Interessen gefördert und fördern können. Dgl. lag der Verbindung vollkommen fern, in der ich überhaupt drei Semester lang als Theologe allein stand und erst im vierten und letzten meiner Göttinger Periode einen Studiengenossen neben mir hatte, dem ich zudem persönlich näher nicht getreten bin. Doch wie dem auch sei, meine zwei Jahre in Göttingen mahnen mich durch die Umständlichkeit, mit der ich ihr Interesse in meinem Leben zu begründen hätte, daran, daß ich mein Leben hier zu erzählen nicht im Sinne habe, und veranlassen mich den auf diesen Blättern noch folgenden selbstbiographischen Notizen überhaupt eine neue und viel knappere Form zu geben. Ich beschränke mich damit von hier ab auf kurze Einträge in das chronologische Schema einer Tabelle, deren wo möglich in einer Sitzung zu erledigende Aufzeichnung ich auf einen gelegeneren Zeitpunkt vertage. Augenblicklich drängen sich mir andere Interessen als die Beschäftigung mit mir selbst dazu viel zu stark auf.

Fußnoten

1 Die Anfänge der Familiengeschichte besonders nach der Tradition, die uns unsere Tante Marie vor Allen aufbewahrt hat.


2 Ein Mißgeschick, das überhaupt die lange Reihe der mercantilen Unfälle meiner nächsten Vorfahren eröffnete und gewissermaßen deren Betreten anderer Bahnen in der Familie praeludierte.


3 Sie war am 7. Juli 1777 geboren. Die Schecks waren mit Textors verwandt. Der alte Joh. David Scheck hatte sein Haus auf der Schäferstraße, das ich als Knabe noch 1846 gesehen habe. Als Wahrzeichen diente ihm eine über dem Hausthor in die Mauer eingelassene Bombe, welche nach dem Bombardement Frankfurts in den Revolutionskriegen im Keller noch geladen gefunden worden war.


4 Die in den Besitz meines Bruders Ernst übergegangene Parlamentsacte ist vom 17. März 1807 datirt. Augenblicklich ist mir nur die beglaubigte Abschrift dieser Acte, die ich im Nachlaß der Tante Marie finde, zugänglich.


5 Noch in den Tagen des Londoner Glücks hatte mein Urgroßvater Overbeck den Seinen dort einen Besuch abstatten können. Von seinen erfreulichen Eindrücken noch ganz erfüllt war er dann in Frankfurt am Tage nach seiner Heimkehr einem Schlaganfall erlegen, wie schon gesagt am 21. Aug. 1815.


6 Sie starb am 16. Febr. 1853 in Wiesbaden.


7 Die Einzelheiten dieser Übersiedelung sind mir nur aus den Aufzeichnungen der Tante Marie bekannt, welche jedoch nicht einmal das Datum derselben sicher feststellen und auch an das Jahr 1819 als solches denken lassen.


8 Zuerst Onkel Jean, dann aber auch und zwar spätestens 1821 mein Vater.


9 Er ist das einzige Glied der Familie, bei dem überhaupt von etwas wie von einer wenigstens anfangenden Russificirung der Familie geredet werden kann. Die Russificirung lag in einem schließlich zur legitimen Ehe gewordenen abenteuerlichen Verhältniß zu Aurora Baronesse von Ulbeck (?).


10 Er hat nicht gut geendet und dazu auch nicht das Zeug gehabt.


11 Auch sprechen konnte ich früher als gehen, wozu es freilich die übermäßige Entwicklung meines Kopfs und meine hierdurch herbeigeführte und für mein offenes Stirnmal gefährliche Neigung zu fallen erst im dritten Jahre kommen ließ.


12 So schreibt sie auch in einem Brief vom 16. März 1850 an die Tante Marie im bezeichneten Zusammenhang, ihr Franzinka sei »pas habitué à se donner du mal.«


13 Russisch hat sie in einem 34jährigen Aufenthalt im Lande kaum radebrechen gelernt.


14 Herr Santa-Cruz – so hieß dieser Lehrer – war seiner Herkunft nach ein polnischer Jude, der als katholischer Convertit in Petersburg eingewandert war und sich hier als Lehrer niedergelassen und als solcher einiges Ansehen erworben hatte. Von der traurigen Vorgeschichte, welche schon diese Laufbahn voraussetzt und von der ich wohl noch manches einmal gehört, weiß ich doch zur Zeit nichts mehr, vom sonstigen Unglück, das den Mann heimsuchte nur so viel, daß er schon als junger Ehemann eine schwärmerisch geliebte Frau verlor und über den Mißgriff, den er bei seiner Conversion in der Wahl der Confession durch seine Entscheidung gegen den Protestantismus verschuldet zu haben meinte, sich so vergrübelte, daß er sich schließlich (in der Zeit, da wir zum ersten Mal von Petersburg abwesend waren) das Leben selbst genommen hat. Er war ein mannigfach gebildeter Mann und verehrte die deutsche Litteratur besonders leidenschaftlich. Ich habe noch die lebhafte Erinnerung an seine Erscheinung, obwohl diese die physiognomischen Eigentümlichkeiten seiner Rasse zwar unverkennbar, doch keineswegs grotesk repräsentierte, – und die Melancholie seines ganzen Gebahrens, weiß aber auch noch, daß ich ihm sehr anhänglich gewesen bin und dunkel auch noch etwas von den Verdiensten, die er sich um mich als Lehrer erworben hat.


15 Der Direktor hieß Gordack. Der Pastor von Muralt ging uns aber nichts an, da wir mit dem Vater zur lutherischen Gemeinde gehörten.


16 Mein Lehrer, Mr. Shaw, war physiognomisch ein sehr stark ausgeprägtes Exemplar des starren Engländertypus, hatte eine sehr lange Gestalt und trug seinen Spazierstock regelmäßig auf der Schulter. Sonst habe ich an ihn kaum noch Erinnerung, es sei denn, daß auch Mama Stunden bei ihm hatte.


17 Es war Dr. Ernst Meyer, gleichfalls Jude, wie Herr Santa-Cruz, doch er deutscher (Breslauer) Herkunft.


18 Damit habe ich natürlich kein ernstes Urteil über das wirkliche Verdienst unseres Arztes bei seinem Gutachten im Sinne. Das Heil »im Ausland« zu suchen war, wie damaligen Petersburgern bekannt sein wird, ein ebenso leicht zu erhaltender als gern vernommener Rath.


19 Aus der Menge, deren Besitzer ich wurde, habe ich noch einige behalten. Es sind kleine etwa 4 cm hohe auf 6 cm breite Zettelchen, denen verschiedene auf Wissenschaft und Kunst bezügliche Embleme aufgedruckt sind. Ihren verschiedenen Werth läßt außer der Farbe des Aufdrucks, auch noch eine vom ausstellenden Lehrer handschriftlich nachgetragene decadisch abgerundete Zahl erkennen. Diese Zahl insbesondere machte diese Zettelchen zu Anweisungen oder Ablaßzetteln, die bei unseren Strafarbeiten verwendbar waren, soweit diese Arbeiten aus Abschreiben einer je nach dem Schulvergehen wechselnden Anzahl von Zeilen irgend eines Textes bestanden. Davon waren nun vermittelst jener den Bons points angemerkten Zahl entsprechende Abzüge möglich.


20 An meine damaligen Lehrer habe ich nur freundliche und dankbare Erinnerungen behalten doch darunter Namen nur für zwei von ihnen, den schon genannten des Directors zunächst, von dem ich noch jetzt außer dem deutlichsten Bilde seiner Erscheinung den lebhaften Eindruck seiner Strenge und eine fast joviale Gütigkeit verbindenden Persönlichkeit habe. An meinen Aufenthalt im collège knüpfte sich ein nur kurzer Briefwechsel meiner Eltern mit Herrn Ledieu und man hatte sich längst gegenseitig ganz aus den Augen verloren als ich mit der überraschenden Aus sicht auf ein Wiedersehen eine schwer empfundene Enttäuschung erlebte. Es mochte 10 Jahr und darüber her sein, seit meinem Abschied von St. Germain, als wir zu Hause eines Tages in Dresden in der Fremdenliste des Städtischen Anzeigers auf den Namen meines einstigen Schuldirectors stießen. Seine dortige Anwesenheit ist uns nachträglich bestätigt worden, doch eilte ich vergebens in seine Herberge (die 3 Palmzweige auf dem Königsplatze), von der er soeben wieder abgereist war. Sonst weiß ich nur noch Herrn Dedain zu nennen mit Erinnerungen ganz ähnlichen Characters wie bei Herrn Ledieu, nur daß mir seine Physiognomie mit ihren Pockennarben noch etwas deutlicher vorschwebt. Von meinen Mitschülern sind mir nur die Namen Arondelle, Roussel und Hoch erinnerlich, der zuletzt genannte, vielleicht nur wegen seines Zusammenschwindens zu einer Interjection in unserem Verkehr und wegen der Schulneckereien, denen sein Inhaber, ein zudem entsprechend pausbackiger und ébahi aussehender Elsässer, ausgesetzt war.


21 Er starb in Paris am 23. Aug. 1849.

Aus alten Papieren, die ich soeben (Juli 1899) von Tante Sophie erhalte, entnehme ich, daß der Großoheim Antoine Cerclet noch in Petersburg geboren (1796), doch schon in jungen Jahren mit seiner Mutter nach Frankreich zurückgekehrt war, wo er am 16. Juli 1817 in Paris als bachelier en droit promovierte. Später betheiligte er sich an den Anfängen des St. Simonismus, doch neigte er zur Zeit, da ich als Knabe sein und der Tante Sophie Gast war, sei es in der Amtswohnung im Palais Bourbon oder auf dem schon oben erwähnten Sommersitze in Fourqueux, dem Ultramontanismus zu. Jenen St. Simonistischen Anfängen danke ich es, daß wenigstens der Name des Père Enfantin mir damals zu Ohren gekommen ist, den ultramontanen Beziehungen meines Großonkels dagegen, daß der schöne Abbé Laine, später als Almosenier oder Beichtvater der Kaiserin Eugenie bekannt, mir noch vorschwebt.


22 Über die hohen Mauern unseres Schulfriedens in St. Germain hatte der Lärm dieser Tage natürlich nur in einzelnen Nachhallen dringen können. Doch sahen wir Schüler mit Spannung sich die Ausgänge unseres Directors in seiner Nationalgardistenuniform häufen. Auch unser Stundenplan gerieth in einiges Wanken und gestattete so unserem Revolutionsspielen nur um so besseren Raum, bei welchen wir Schüler mit rothen Fähnchen und unter dem Gesang der Marseillaise unsere Höfe umzogen.


23 Doch sind mir von den Persönlichkeiten, die beim oncle Antoine verkehrten und deren ich zwischen Thür und Angel etwa ansichtig wurde, auch außer dem Abbé Laine noch ein paar Namen im Gedächtniß haften geblieben, zum Theil mit einer Figur dazu (Cherbuliez, de Joly, Guérin, Clapeyron, Frölicher).


24 Vom abenteuerlichen Colquhounschen Hause, der schönen Hausfrau, einer geschiedenen Bravura und ihren Kindern aus erster Ehe (der Tochter Lavinia und den Söhnen Alexander, Eugen und Léon) hätte ich noch manches zu erzählen, wenn ich es hier überhaupt auf eine Sammlung meiner Lebenserinnerungen absähe.


25 Einen Dienst von gleicher Bedeutsamkeit wie das Collège von St. Germain ist sie mir zu erweisen jedenfalls nicht in der Lage gewesen.


26 Dieses hatte sie in einem mit ihrem 29. Lebensjahre beginnenden fast 10jährigen Aufenthalt in England gelernt. Merkwürdigerweise vergaß sie es kurz vor ihrem Tode ganz während sie die geringe von ihr nie gepflegte Kenntnis des Französischen, die sie schon aus früherer Jugend besaß, behielt.


27 Vgl. über die hier einschlagenden Überlegungen meiner Eltern im Anfang ds. J. 1850 Mama's Brief an Tante Marie vom 16. März (a. St.) 1850.


28 »Mais comme il (notre Franzinka) apprend facilement, notre projet est tant que nous le pourrons de lui faire faire de bonnes et sérieuses études et si nous allons en Allemagne il sera à la source, pour pouvoir dans deux ou trois ans d'après l'avis de ses professeurs embrasser plus spécialement, pour la carrière à laquelle il se destinera, l'étude qui sera nécessaire; voilà qu'elle a toujours été notre but pour Franzinka« schreibt Mama unter anderem im angeführten Briefe Seite 3.


29 S. Mama's schon angef. Bf. Seite 2.


30 Wie meine Mutter sich damals in Dresden einrichtete, davon giebt ein Brief von ihr an die Tante Marie vom 11. Aug. 1850 noch das lebendigste Zeugniß.


31 Kaluga hatte die Großmutter schon im Herbst 1850 wieder verlassen und sich inzwischen bei Papa in Petersburg aufgehalten. Ihre Begleiterin auf der Reise von dort nach Wiesbaden war die Tante Aurora. Vgl. Die Aufzeichnungen der Tante Marie von 1880 I,30 und den für mich bestimmten Auszug daraus.


32 Frankfurt war von dort über Würzburg damals noch in der Postkutsche zu erreichen.


33 Lüttichaustr. 16 damals gelegen.


34 Übrigens setzten sich unsere Beziehungen theils durch Briefwechsel theils durch Verkehr noch Jahre lang fort und brachen überhaupt zu meinem größten Leidwesen erst infolge einer durch die Heftigkeit meines Vaters in den 60er Jahren herbeigeführten Altercation mit G. ab, seit welcher G. unserm Hause fern blieb. In der Folgezeit verlor ich ihn überhaupt aus dem Auge und habe mich erst neuerdings darum bemüht mit Hülfe meines Schwagers Barchwitz wieder auf seine Spur zu kommen, was wenn er überhaupt noch am Leben ist, nicht schwer sein kann, da ich kaum vermuthe, daß die Laufbahn meines alten Lehrers und Freundes aus den hergebrachten Geleisen der sächsischen Juristen-Laufbahn gerathen ist. Doch warte ich noch auf ein Resultat (29. Oct. 99).


35 Als Papa dann später seine Stellung bei John Meyer in Dresden auf Grund alter Petersburger Bekanntschaft antrat, was erst ein paar Jahre nach meinem Abgang auf die Universität geschah, so hatte diese Stellung vor Allem auch viel zu privaten Character, um ihm insbesondere zur Gewinnung ausgebreiteter Verbindungen im Lande förderlich sein zu können. Herr Meyer war wohl ein Mann, dessen Geld vollkommen ausreichte um ihm selbst überall eine feste Basis zu verschaffen, auch da wo er sonst in der Luft stand. Er konnte aber für keinen Anderen irgendwo zu etwas Anderem als Luft machen, was für ihn selbst nicht mehr war. Er sicherte wohl Papa dessen als Buchhalter seines großen Vermögens redlich gewonnenen Erwerb, und mehr aus dem ganzen Verhältnis zu ziehen war jedenfalls auch Papa der Mann überhaupt nicht. Er hat selbst das Meyersche Haus nur äußerst selten zu anderen Stunden als seinen Arbeitsstunden betreten. Zu diesen führte ihn aber sein kaum durch irgend einen Urlaub unterbrochener Gang noch einige 20 Jahre. (Bis zu Herrn Meyer's Tode am 6. Jan. 1887.)


36 Von niemandem dazu veranlaßt außer von mir selbst in stiller Zwiesprache mit mir selbst, daher auch ohne irgend jemand nachträglich ins Vertrauen darüber zu ziehen, wie denn die von mir noch jetzt fast auf den Tag zu datirende Thatsache zum ersten Male hier aufgezeichnet wird.


Quelle:
Overbeck, Franz: Selbstbekenntnisse. Frankfurt a.M. 1966, S. 100.
Lizenz:

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