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[289] Noch einiges zum Thema »Besteckwechsel«. Für die Gäste gilt es, wie schon früher betont, als eines der ersten Gebote der Etikette, die Wünsche der Gastgeber zu respektiren, falls dieselben nicht gerade auf arge Verstöße gegen den guten Ton hinzielen. Beobachtet man, daß die Gastgeber das Besteck nach dem Gebrauch neben den Teller legen, so macht man dies eben mit, wenn man befürchten muß, die Wirte sonst in Verlegenheit zu setzen, indem man ihnen den Mangel an Messerbänkchen oder an genügendem Besteck zum Wechseln desselben fühlbar macht. Um das Tischtuch zu schonen, wird man dann eben das Besteck, bevor man es niederlegt, schnell und unauffällig an einem Stückchen Brot, das man nachher auf den Teller legt, einmal[289] abreiben oder auch möglichst geräuschlos Messer und Gabel gegen einander reiben, aber niemals am Tellerrande abstreifen, wenn man Wert auf gute Formen legt. Natürlich das höchsteigene Ablecken des Bestecks ist, äußerst milde kritisirt, äußerst unschön. Aber selbst dies ist doch kein Charakterfehler, also giebt Niemand das Recht, einfache Leute deshalb zu verachten, wenn sie diese urwüchsige Reinigungsart befolgen und Teller und Besteck mit der Zunge von allen Speiseresten befreien oder – auf gut Deutsch ausgequetscht – ablecken. Die Etikette verlangt es, daß man selbst äußere Formen beobachtet, aber keineswegs, daß man einfachen Leuten durch Worte oder Mienen diesen oder jenen Formenmangel als etwas Ungeheuerliches markirt. Ich setze den Fall, ein Mann der Formen kommt auf einem ländlichen Ausflug mit einer Arbeiterfamilie an ein und denselben Tisch zu sitzen; als selbstgefälliger Thor wird er die biederen Tischgenossen seine über alles »Gewöhnliche« erhabene Feinheit fühlen machen, als wahrhaft vornehmer Mensch von innerem Taktgefühl wird er die einfachen Leute neben sich auch nicht im geringsten geniren. Leider befinden sich viele in dem kläglichen Irrtum,[290] durch freundliches Wesen an Vornehmheit zu verlieren. »Ach Uli, Uli, bleibe bei den Deinen!« möchte man mit Schillers Attinghausen, freilich unter ganz anderer Bedeutung dieser Worte, Jedem zurufen, dem es schwer fällt, gegen gesellschaftlich Tieferstehende von natürlicher Freundlichkeit zu sein. Eine selbstbewußte, sogenannte Leutseligkeit, eine mühsam erkünstelte Freundlichkeit berührt einfache Leute noch bei weitem unangenehmer als unnahbare Abgeschlossenheit.
Viele haben ihre Etiketten-Steckenpferde, auf denen sie auch an ungeeigneter Stelle paradiren. Da wird in einer primitiven Gebirgsbaude von einem solchen Ueberseinen die biedere Wirtin belehrt, daß sie zum Fische nicht Messer und Gabel, sondern zwei Gabeln geben müsse. Der Messerstahl beeinträchtigt einer seinen Zunge durch seine Berührung mit dem Fisch dessen Geschmack. Diese Begründung und damit das moderne Zweigabelsystem beim Fischessen wird aber doch dann wesenlos, wenn z.B. in einer einfachen Gebirgsbaude die primitiven Messer und Gabel genau aus demselben Material hergestellt sind. In diesem Falle läßt sich das Verlangen von zwei Gabeln höchstens durch die[291] Gewohnheit rechtfertigen, infolge deren man den Fisch mit zwei Gabeln leichter während des Essens teilt. Mancher hält es für kolossal sein, in einfachen Wirtshäusern zu einem zweiten Gericht ein neues Besteck zu fordern, auch wenn er an dem ersten peinliche Sauberkeit vermißte, und doch annehmen kann, daß das neue Besteck ihm in ähnlichem Zustande gereicht wird. Aber es ist ja »sein«, das Besteck zu wechseln!? Dies übersehen dabei Viele, daß es größere Feinheit verrät, Abneigung gegen Unsauberkeit zu empfinden und in solchen Ausnahmefällen auf ein zweites Besteck lieber zu verzichten. In meiner letzten Plauderei führte ich an, die Bedienung soll beim Wechseln des Bestecks dasselbe nie getrennt vom Teller, sondern auf ihm ruhend fortnehmen. Ich möchte noch folgendes zufügen. Falls ein Tischgast sein Besteck neben den Teller legt, und ein Besteckwechsel von den Gastgebern bestimmt ist, so hat die Bedienung eben selbst das Besteck auf den Teller des Gastes zurückzulegen und dann erst beides zusammen fortzunehmen.
Die für die Gäste bequemste Art, Schüsseln zu präsentiren, namentlich wenn mit nicht besonders weiten Zwischenräumen gedeckt ist, ist[292] die, daß die Bedienung die Schüssel ausschließlich auf dem linken Unterarm und mit der linken Hand hält, während die rechte Hand am besten frei ist und auf dem Rücken ruht. Beigaben zum Gericht, wie Kartoffeln und Tunke – ich erwähnte bereits, daß dies ein sogar hoffähiges Wort ist – können ja von den Tafelnden selbst weitergereicht werden. Eine Unsitte ist es, wenn die freie rechte Hand der Bedienung liebevoll die Stuhllehne des Tischgastes umfaßt oder auch nur anfaßt. Diese Unsitte findet man besonders oft bei Kellnern. Wenn in einer Restauration der Stuhl, auf dem man friedlich sitzt, beim Präsentiren eines Gerichtes oder Getränkes sich, allerdings nur wenig fühlbar, bewegt, so geht dies gewöhnlich von keinem spiritistischen Geiste aus, sondern vom Kellner, der mit seiner freien Hand die Stuhllehne angefaßt hat. Ich habe es erlebt, daß von diesem Anfassen des Stuhles mit einer unsauberen oder feuchten Hand, Spuren an der Lehne zurückblieben. Der Gast kann ja diese Spuren selbst beseitigen, wenn er sie durch einfaches Anlehnen auf der Rückseite seines Rockes aufnimmt. Aber man wird mir beipflichten, daß unsere Gewandung, auch die Rückseite unseres Rockes, nicht den Dienst eines[293] Wischtuches unbedingt zu verrichten braucht. Auch ist es eine Schwäche, wenn man sich in solchem Falle genirt, in sanfter Weise dem männlichen oder weiblichen Oberkellner die verdiente Vorhaltung zu machen, etwa mit den Worten: »Sie haben mir aus Versehen die Stuhllehne naß gemacht, bitte, wischen Sie es wieder ab.« Diese Aufforderung ist im Interesse der Sauberkeit unserer Kleidung einfach geboten; dabei wüst zu schimpfen, ist natürlich, wie jeder Ausdruck einer mangelnden Selbstbeherrschung, im höchsten Grade unvornehm. Auch trifft die Schuld zum großen Teil den Wirt, der sich nicht die Mühe nimmt, die männliche oder weibliche Bedienung daraufhin zu erziehen, daß sie den Stuhl eines Gastes nicht anzufassen hat, und sich die Hände sofort abwischen muß, so oft sie naß geworden sind; und letzteres ist ja, zumal in stark frequentirten Lokalen, bei dem vielen Tragen übervoller Biergläser wohl für einen geplagten »Ober« unvermeidlich. »Ober« ist in der allerdings wenig salonfähigen Wirtshaussprache eine gebräuchliche Abkürzung für »Oberkellner«. Ueber diese wünschenswerte Erziehung der Bedienung in Restaurationen durch die Wirte werde ich mich demnächst noch weiter[294] auslassen auf grund meiner reichen, durch ein langjähriges Wirtshausleben – mühsam? – gesammelten Erfahrungen.
Ebenso wie das einem Gast entfallene Eßbesteck, ist auch das von einer Schüssel oder aus einer Saucière gefallene große Besteck sofort durch ein anderes zu ersetzen. Häufiger passirt es – und zwar ebenfalls wie das Herabfallen oft durch die Schuld der Tischgäste, die nach dem Zulangen von Speisen Gabel oder Löffel ungeschickt auf die präsentirte Schüssel zurücklegen – häufiger passirt es, daß ein solches großes Besteck auch mit dem zum Anfassen bestimmten Teil, dem Griff, in das Gefäß und das darin befindliche Gericht heineinrutscht. Es ist selbstverständlich, daß die Bedienung da ihrem etwaigen Naturdrange nicht folgen darf, den versinkenden Besteckteil durch Hineingreifen mit den Fingern in das Gericht oder die dazu gehörige Flüssigkeit retten zu wollen; vielmehr stelle man die Schüssel einen Moment abseits auf das Buffet oder ein Tischchen und angele mit einem anderen Besteck das versunkene heraus und lege dann dies andere Besteck auf die Schüssel, bevor man sie weiterpräsentirt. Natürlich muß man ein solches[295] Malheur überhaupt zu vermeiden suchen; denn das Hineingeraten eines Besteckgriffes, der schon verschiedentlich erst von dienstbaren Geistern, dann von den Tischteilnehmern angefaßt wurde, in das Gericht selbst, von dem man noch weiter essen will, beunruhigt besonders penible Salonmenschen. Manche sind wirklich in solchen Dingen penibel, Andere wollen, weil sie es für vornehm halten, wenigstens so scheinen. Wie wohl meist bekannt, gilt als Hauptregel für die Bedienung bei Mahlzeiten: Von links her wird den Gästen, natürlich auch den Gastgebern, Alles präsentirt, von rechts her werden Teller nach jedem Gange, eventuell auch die Bestecks, fortgenommen, und von rechts her wird Wein eingegossen; denn mit der rechten Hand ergreift man das Trinkglas, das deshalb auch rechts neben das Couvert postirt wird. Von links her setzt man nach jedem Gange auch den neuen Teller, eventuell mit dem neuen Besteck, auf den Tisch. Ein Vorbeigreifen der Bedienung vor der Nase des Tafelnden, also irgend etwas, was sich links vom Teller befindet, von rechts her fortzunehmen darf natürlich nie geschehen. Die Tafelnden haben darauf zu rücksichtigen und sollen thunlichst, um die Bedienung nicht zu[296] Etikettenwidrigkeiten zu verleiten, Alles, was fortzunehmen ist, von selbst rechts von ihrem Couvert beziehungsweise das Besteck auf dem rechten Tellerrande postiren. Das Präsentiren der Gerichte beginnt gewöhnlich bei der ersten, also der vom Hausherrn oder dessen Stellvertreter zu Tisch geführten Dame und geht von links nach rechts der Reihe nach weiter, sodaß der höfliche Hausherr erst zuletzt bedacht wird, nachdem die Anderen versorgt sind. Bei gleichzeitigem Beginn des Präsentirens von zwei Stellen wird man gewöhnlich an den Mitten beider Längsseiten anfangen und dorthin eben die beiden vornehmsten Damen postiren. Bei noch größeren Tafeln wird man sinngemäß, entsprechend der Größe der Tafel, mehrere Anfangspunkte für gleichzeitiges Präsentiren in etwa gleichen Zwischenräumen um die Tafel herum festlegen. In Musterhäusern, betreffs Etikettenformen, wird eine gut geschulte Bedienung vor einem neuen Gange der Reihe nach einen schnellen Blick auf jeden einzelnen Tischplatz werfen und nachsehen, was der Tischgast an Besteck auf dem Teller liegen hat, als Zeichen dafür, was er ersetzt haben will. Darauf wird die Bedienung auf dem Büffet oder einem[297] Anrichtetische das neue Besteck auf einen reinen Teller legen, beides mit der linken Hand ergreifen, an den Tischplatz gehen, erst von rechts her den alten Teller mit dem darauf liegenden Besteck fortnehmen und dann beides von der linken Seite her durch den reinen Teller mit dem darauf liegenden reinen Besteck ersetzen. Um ein Klirren zu vermeiden, wird das auf dem alten Teller fortgenommene gebrauchte Besteck mit der rechten Hand zugleich auf dem rechten Tellerrand festgehalten, und ebenso wird das neue Besteck auf dem linken Rande des reinen Tellers mit der linken Hand festgehalten. Es ist dies wohl das einfachste und praktischste Ver fahren und am besten auch wenn keine Gäste da sind, also auch am gewöhnlichen Familientisch zu beobachten, so oft es eben »mehr giebt«. Nur dadurch erzielt man eine gewandte Bedienung, wenn man dieselbe womöglich täglich, oder wenigstens häufig, in derselben Weise funktioniren läßt, wie wenn Gäste da sind. Die Gastgeber können dann, auch wenn »bei ihnen was los ist«, mit Ruhe und sicherem Vertrauen auf ihre gut geschulte Bedienung sich an ihre eigene Tafel setzen. Ein ewiges nervöses Verfolgen der Bedienung mit ängstlichen Blicken[298] durch die Gastgeber ist doch höchst lästig für Wirte und Gäste. Fast noch unbehaglicher für die Gäste als ein enger Frack oder ein enger Kragen – die Qualen eines engen Korsetts hat mir ein gnädiges Geschick, das mich Mann werden ließ, erspart –, fast noch unbehaglicher als diese selbstverschuldeten Toilette-Torturen ist es für den Gast, argwöhnen zu müssen, dies Diner ist nur eine vom gesellschaftlichen Usus den Wirten aufgezwungene Abfütterung, und ihnen an der schlecht verhehlten sauer-süßen Miene den stillen Wunsch ablesen zu können: »Ach, wenn der Zauber doch nur schon zu Ende wäre, und die lieben Gäste uns verlassen würden!« Mir fällt da – ein Gegensatz hierzu – die Bemerkung eines humorvollen Gastgebers ein, der ganz anders dachte, als es seine Worte, wörtlich aufgefaßt, ausdrückten. Man kannte ihn als einen Menschen, der Gäste sowohl zu ihrem, als auch zu seinem eigenen Vergnügen zu sich einlud, er wurde von seinen ihm allerdings sehr nahe stehenden Gästen richtig verstanden, als er vergnügt schmunzelnd die Bemerkung ihnen gegenüber machte: »Meine Herrschaften, thuen Sie so, als wenn Sie zu Hause wären; ich wünschte, Sie wären's erst!« Wohl[299] viele werden schon Gesellschaften mitgemacht haben, auf denen sie das zweifellose Gefühl empfanden, Gäste und Wirte langweilen sich gegenseitig und ersehnen den Zeitpunkt, wo man sich anstandshalber trennen kann; denn ein zu frühes Auseinandergehen würde zu offenherzig bekunden, daß das Fest kein sogenanntes Vergnügen war. Heitere Laune der Gastgeber überträgt sich auf die Gäste, man fühlt sich als Gast selbst wohl, wenn man es klar empfindet, den Gastgebern bereitet ihr eigenes Fest auch selbst Vergnügen, sie pflegen keine Geselligkeit nach Schema »F«, weil es die andern auch thuen.[300]
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