[40] Wir taten, als hörten wir nicht, was sie sagten; als aber die Eltern vierzehn Tage nach Eingang des zweiten Briefes nicht kamen und uns nochmals Reisegeld geboten wurde, so nahmen wir es an und machten uns damit auf den Weg nach Lauenburg, wo wir aber unsre Eltern nicht trafen, weshalb wir wieder zurückgingen und bis an die Schaalsee nach Zarrentin, einem kleinen Städtchen im Mecklenburg-Schwerinschen, kamen. Hier warf mich ein hitziges Fieber aufs Krankenlager, welches mir ein kinderloser bemittelter Mann, namens Bostel, menschenfreundlich anbot.
Der Pflege dieses Biedermannes und seiner gottesfürchtigen Frau dankte ich endlich meine Genesung. Da er meinen guten Bruder nicht behalten wollte, so erklärte sich dieser sogleich bereit, nach Lauenburg zurückzugehen und zu sehen, ob die Eltern noch nicht angekommen wären. Es bot sich ihm eben eine Fuhrgelegenheit dahin dar, deshalb war ich mit seinem Entschluß zufrieden und gab ihm das noch übrige Geld zur Reise. Freudig nahm er Abschied, ohne zu ahnden, daß wir uns in dieser Welt nicht wiedersehen würden! – Du guter Bruder, sanft ruhe dein Gebein! – In meinen Fieberanfällen träumte ich von nichts als von Reisen, von Schiffahren und daß ich meinen Bruder hätte im Wasser patscheln sehen. Ich erzählte dies meinen Pflegeeltern, welche darüber lachten und für die Wirkung meines Fiebers ansahen. Dann kam es mir wieder vor, als sagte mein Bruder Simon zu mir: Bruder, laß uns noch einmal das Lied singen:
Was hilft dir, Mensch, dein Ungeduld,
Wenn dir's gleich übel geht!
und zwar vom zweiten Vers an; denn wir singen es doch zum letzten Mal miteinander! Und so stimmte er an:
[41]
Wollt ihr es wissen, wer ich bin?
Ich bin ein Unglückskind!
Wo wend ich in der Angst mich hin,
Damit ich Rettung find?
O nirgends, flöh ich selbst hinab:
Das Unglück folgt mir bis ins Grab!
Geduld!
Wohlan, ich bin darauf gefaßt,
Zu leiden, was ich kann!
Gott, willig nehm ich jede Last,
Die du mir auflegst, an!
In allem Trübsal, jeder Pein
Wirst du ja doch mein Beistand sein.
Geduld!
Und als wir damit fertig waren, sagte er: Nun noch das allerletzte! Und so mußt ich in den Vers mit einstimmen:
Wen hab ich in der letzten Pein?
Wer kann mir Rat und Trost verleihn,
Mit neuer Hoffnung mich beleben?
Wer blickt voll Huld mich Schwachen an,
Wenn mir kein Mensch mehr helfen kann,
Und ich der Welt muß Abschied geben?
Wer schafft der trüben Seele Licht!
Tust du es, o mein Heiland, nicht!
Kaum hatten wir beide diesen Vers vollendet, so war mir es, als ob mir mein Bruder plötzlich den Augen entrückt würde und sich ins Wasser stürzte, so, daß ich einen lauten Schrei getan hatte.
Als mein Fieberparoxysmus vorüber war und meine Pflegeeltern mich wegen des Schreiens im Schlafe befragt hatten, da schüttelten sie bedenklich die Köpfe und meinten, sie wünschten doch, daß sie meinen Bruder nicht fortgelassen hätten. Meine Erzählung hatte sie[42] sogar veranlaßt, seinetwegen bei den Fuhrleuten Erkundigung einzuziehen, und diese gaben darauf folgende Auskunft: Sie hätten meinen Bruder bis Lauenburg und, da er seine Eltern daselbst nicht gefunden, wieder bis nach Großen-Zecher, einem dem Herrn von Witzendorf gehörigen Gute, mit zurückgenommen; von da aus hätte er den übrigen Weg von anderthalb Stunden, bis Bresahn, zu Fuße machen wollen. Da aber der kleine Fluß, die Schafwäsche genannt, durch welchen der Fuhrmann hätte fahren müssen, eben sehr angeschwollen gewesen wäre, so hätte mein Bruder sich nochmals aufgesetzt, um durch denselben zu kommen; das Wasser hätte aber den Wagen gehoben, der arme Junge war ins Wasser gefallen und ohne alle Rettung ertrunken, da der Fuhrmann ihn nicht eher vermißt hätte, als bis er durch den Fluß gewesen wäre. Der Fischer hätte ihn von fern ins Wasser fallen sehen und wäre zu seiner Rettung herbeigeeilt, aber vergebens; an der Mühle hätte man ihn endlich tot herausgezogen. Nachdem er drei Tage am Ufer gelegen, wäre er gerichtlich aufgehoben und zu Seedorf – im Herzogtum Lauenburg – mit großem Gefolge beerdigt worden, zu diesem Kirchsprengel auch Bresahn gehört.
Diese Nachricht verschwiegen mir anfangs meine Pflegeeltern aus Furcht, daß sie meine Wiedergenesung unterbrechen oder mich zu sehr angreifen könnte.
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