[18] Am uns in das gesellige Leben einzuführen und dauernd darin zu erhalten, haben wir eine sehr bequeme und einfache Form erfunden: den Besuch.
Ist das junge Mädchen aus den Kinderschuhen heraus, so führt die Mutter es durch den Besuch bei Freunden, Verwandten und Bekannten als erwachsen ein. Hat der junge Mann eine Stellung erhalten, so stellt er sich seinen Bekannten durch den Besuch als selbständiges Mitglied der Gesellschaft vor. Wechseln wir unseren Wohnort, so sind wir in der neuen Heimat den gesellschaftlich Gleichgestellten einen Besuch schuldig. Wünscht man keinen großen Verkehr, so ist es doch unumgänglich nötig, wenigstens bei Vorgesetzten und Kollegen vorzusprechen.
Im allgemeinen unterscheiden wir Staatsvisiten, Konvenienz- und Freundschaftsbesuche. Zu der ersten Art gehört der Antrittsbesuch, auch kurz »Visite« genannt. Greifen wir hierfür das naheliegende Beispiel von der Versetzung eines Beamten heraus.
Am Bestimmungsorte angelangt, hat er sich gleich in den ersten Tagen seinen Vorgesetzten und Kollegen vorzustellen, um eine Menge fataler Situationen zu vermeiden. Zu diesem Zwecke muß er in feinstem Gesellschaftsanzuge sein. Der Frack ist heutzutage nicht mehr unerläßlich. Tadellose Wäsche und Stiefel, helle Krawatte und mittelfarbige Handschuhe gehören aber ebenso unbedingt hierher wie der Cylinder, welcher nur in Ausnahmefällen durch den modernen dunklen Hut ersetzt werden darf. Entscheidet sich der Besuche für den Frack, so muß er auf der Straße einen Überrock tragen.
Ist der betreffende Herr vermählt, so begleitet ihn seine Frau selbstverständlich nur zu Ehepaaren. Zu sehr hohen Vorgesetzten geht der Gatte vor der Hand besser allein, um sich nicht den Vorwurf der Anmaßung zuzuziehen. Er wird es bald genug werten ob ein Besuch mit seiner Gattin hier Wohlgefallen erregen würde. Die erwachsenen Familienmitglieder können sich ebenfalls an der Antruisvisite beteiligen, doch vermeide man es thunlichst, einen Karawanenzug zu arrangieren.
Eine Dame trägt bei dem ersten Besuche elegante Straßentoilette. Das früher unumgängliche schwarze Seidenkleid kann jetzt durch Roben von dunkler und hellerer Seide oder Wolle ersetzt werden, je nach den Verhältnissen und der Jahreszeit. Nicht zu helle[18] Handschuhe, ein zierlicher Hut und ein gutsitzendes Umhängsel vervollständigen den Anzug. Wenn irgend angängig, nehme man zu diesen und anderen kurzen Besuchen, bei denen nicht abgelegt wird, keinen Schleier. Denn der Zuschnitt der jetzigen Mode erlaubt eis Zurückschlagen des fest ausgespannten Florstückchens kaum, ohne die Frisur in Unordnung zu bringen und den Eindruck des Kopfes bedeutend zu benachteiligen. Dennoch ist es durchaus unschicklich, mit jemandem im Zimmer verschleiert zu reden, wenngleich es neuerdings Brauch geworden ist. Sollte man nicht geneigt sein, ohne Schleier zu gehen, so löse man ihn im Vorflur mit einem raschen Griff und knüpfe ihn beim Fortgehen wieder um.
Die Zeit für einen Staatsbesuch richtet sich nach der Mittagsmahlzeit, und man kann es im allgemeinen als schicklich betrachten, ein bis zwei Stunden vor dem Essen zu kommen. In den bürgerlichen Kreisen kleiner Städte, wo größtenteils 1 die Essenszeit ist, können die Besuche also etwa zwischen 11 und 1 gemacht werden. Wird aber in einem Hause erst um 5 gespeist, so darf man wohl zwischen 1 und 3 erscheinen. Damen besuchen sich gegenseitig auch nach dem Essen, und hierbei gilt wiederum als Norm, daß man nicht früher als 2–3 Stunden nach dem Mittagsmahle kommen darf, also in unseren bürgerlichen Kreisen etwa zwischen 4 und 7 Uhr des Nachmittags.
An der Haus- oder Entreethür läutet man vorsichtig und diskret, auch in dem Falle, wenn dieselbe zufällig offenstehen sollte. Bei dem auf dieses Signal Erscheinenden erkundigt man sich nach demjenigen Familienmitgliede, dem der Besuch gilt. Erhält man die Antwort, daß der Betreffende nicht zu Hause oder verhindert sei, Gäste anzunehmen, so giebt man seine Karte ab. Zuvor wird der linke Rand etwa einen Zentimeter nach der Vorderseite zu umgebogen, d.h. bei dem einfachen Besuche. Handelt es sich um eine Teilnahmsbezeigung, so biegt man den rechten Rand nach der Rückseite zu um, reißt ihn auch wohl ein oder gar ab.
Auch für den Fall, daß der Besuch angenommen wird, ist es geratener, dem dienstbaren Geiste die Karte zu übergeben, um einer Verstümmlung des Namens vorzubeugen. Hierbei ist es gleichbedeutend, ob der Rand umgebogen wird oder nicht, da ersteres nur bezeugen soll, daß man persönlich dagewesen ist, und nicht etwa, wie es wohl in höheren Kreisen üblich ist, nur seine Karte hingeschickt hat. Besonders zu erwähnen wäre noch, daß ein Herr, bei einem verfehlten Besuche, soviel Karten hinterläßt, wie erwachsene selbstständige Familienmitglieder in dem betreffenden Hause vorhanden sind, um anzuzeigen, daß all diesen sein Besuch gegolten hat. Für[19] die jungen Töchter jedoch läßt er keine Karte zurück, während ein Ehepaar dieses thun muß. Eine allein kommende Dame hinterläßt nur soviel Karten als weibliche Mitgliedervorhanden sind, denen ihr Besuch gelten soll.
Wird der Besuch angenommen, so legt der Herr Überrock, Schirm oder Stock ab und tritt mit dem Hute in der Hand ein. Derselbe darf nicht mit der Öffnung nach oben gehalten werden und wird nur nach einer speziellen Aufforderung des Besuchten fortgestellt, dann aber beileibe nicht auf den Tisch, das Klavier oder das Sofa, sondern auf die Erde unter den eigenen Stuhl, oder allerhöchstens auf einen anderen Stuhl. Nimmt der Wirt dem Gaste den Hut jedoch aus der Hand, um ihn selbst irgendwo unterzubringen, so ist letzterer von jeder weiteren Verantwortung befreit. Als Dame legt man nichts ab, es sei denn, man märe durch einen heftigen Regenguß durchnäßt, in welchem Falle freilich Überkleider und -schuhe draußen bleiben müßten.
Der Dienstbote öffnet die Thür, und man tritt in das Empfangszimmer, wo der Besuchte bereits wartet oder doch unmittelbar nach dem Eintritte des Gastes erscheint. Nach einer tadellosen Verbeugung vonseiten des letzteren, die von einem Herrn ebenso vollendet höflich erwidert wird, von einer Dame aber nur eine freundliche Verneigung erfordert, steht dem Wirte das erste Wort zu. Er wird in artiger Weise seiner Freude Ausdruck geben und den Gast zum Platznehmen auffordern. Handelt es sich um ein Ehepaar, so sind selbstredend auch Hausherr und Hausfrau im Salon anwesend, wenn nicht einer durch triftige Gründe am Erscheinen verhindert ist. Der rechte Sofaplatz gebührt der besuchenden Dame, der linke der Hausfrau, die Herren sitzen auf Sesseln oder Stühlen. Ein Herr nimmt überhaupt nie auf dem Sofa Platz; denn das ist unpassend und geschmacklos. Selbst auf eine direkte Aufforderung hin thut er besser, einen Sessel zu wählen. Kommt weiterer Besuch, so erheben sich die Herren beim Eintritte desselben, die Damen verneigen sich gegen einen Herrn nur leicht auf ihren Plätzen, ohne aufzustehen; vor einer Dame werden sie sich ebenfalls erheben, nur ganz jungen Mädchen gegenüber haben sie diese Verpflichtung nicht.
Sind die Gäste einander unbekannt, so liegt es dem Wirte, bezw. der Wirtin ob, die Vorstellung zu übernehmen. Alle Einleitungen und Vorreden hierbei wollen uns nicht gefallen; wir finden es am einfachsten, hübschesten und feinsten, wenn der Vorstellende mit einer ruhigen Handbewegung auf den einen der Vorzustellenden weist und dabei dessen Namen und Titel nennt, und dann dasselbe bei dem anderen wiederholt. Man achte strengstens darauf, daß alles prompt und fließend abgewickelt wird.[20]
Der Geringere wird dem Höheren, der Herr der Dame, die Unverheiratete der Frau vorgestellt; denn es ziemt sich, demjenigen, den man zu ehren wünscht, zunächst zu melden, wen er vor sich habe. Also: Herr Referendar Fischer – Herr Professor Schmidt; – Herr Kanzleirat Schultze – Fräulein Lehmann, – u.s.w. Hat man eine besonders hochstehende Persönlichkeit vor sich, oder gar eine allgemein bekannte und berühmte, so vermeidet man es gern, ihren Namen in der Vorstellung zu nennen, und drückt sich etwa so aus: »Gestatten, Exzellenz, daß ich Ihnen Herrn Dr. Krause vorstelle.« Die Vorgestellten erheben sich und machen einander eine Verbeugung; in Rußland und England reicht man sich die Hand.
Besonders abgeschmackt ist es, wenn Menschen, die einander bis dahin fremd waren, in dem Augenblicke, wo sie sich vorgestellt werden, versichern: »Freut mich sehr« – »Sehr angenehm« – »Große Ehre« und was dgl. mehr ist. Das ist eine Widersinnigkeit, welche der gute Ton keineswegs verlangt.
Immerhin mögen die eben Vorgestellten einige Worte mit einander wechseln, nur sei dies keine sinnlose Phrase, sondern eine freundliche, herzliche Redewendung. Hierbei müssen aber Herren den Damen, Niedrigerstehende Hochstehenden gegenüber eine abwartende Haltung einnehmen.
Die weitere Unterhaltung bewege sich auf naheliegenden Gebieten, welche allen verständlich und interessant sind. Streng verpönt sind Themata, die einem der Anwesenden fatal werden könnten. Ist man dennoch, ahnungslos und wider Willen, auf solche schlüpfrigen Wege geraten, so wird man es unschwer an der allgemeinen Beklommenheit merken und hat dann eilig auf ein anderes Gebiet abzuschwenken. Man vergesse nicht, daß gut zuhören oft wichtiger ist, als gut reden, darum unterbreche man niemanden. Ergreift man jedoch das Wort, so sei es vorzugsweise an den gerichtet, dem der Besuch gilt. Man hüte sich davor, zu eingehend zu werden, weil dieses die Visite in die Länge ziehen würde, während sie doch nur 15 –20 Minuten dauern darf. Freilich ist es nicht erlaubt, nach der Uhr zu sehen, wenn dieselbe nicht gerade so bequem hängt, daß es ganz unvermerkt geschehen kann; man muß die Zeit eben im Gefühle haben. Tritt eine kleine Pause in der Unterhaltung ein, so erhebt man sich, und zwar ist es Sitte, daß derjenige, der zuerst kam, auch zuerst geht. Doch darf dieses nicht unmittelbar nach der Ankunft des zweiten Gastes geschehen, weil solch ein fluchtähnlicher Aufbruch eine Beleidigung in sich schließen könnte. Das freundliche Bedauern der Hausfrau, eventuell des Hausherrn, über den frühen Aufbruch, sowie die Bitte zu weiterem Bleiben, ist eine Höflichkeitsform, die[21] bei einem ersten Besuche jedes Sinnes entbehrt und also besser unterbleibt. Für spätere Fälle ist sie durchaus angebracht, und da dann die Minutenzahl nicht so ängstlich innegehalten zu werden braucht, so bleibt man gern noch ein Weilchen, um sich hierauf zum zweiten Male endgültig zu verabschieden.
Ein tadelloser Rückzug aus dem Salon ist keineswegs unwichtig, da er Zeugnis von unserer geselligen Gewandtheit ablegt. Eine Dame verneigt sich vor der Hausfrau; reicht diese ihr die Hand, so drückt sie dieselbe achtungsvoll oder küßt sie, wenn der Alters-oder Standesunterschied ein bedeutender ist. Die übrigen Anwesenden erhalten eine Verbeugung, die Herren eine leichte, die Damen eine tiefere. Dann wendet sie sich nach der Thür, um, an dieser angelangt, nochmals eine Abschiedsverbeugung zu machen und dann geräuschlos zu verschwinden. Die Hausfrau geleitet sie bis zur Entreethür und hält diese so lange geöffnet, bis der Gast aus Sehweite ist, sie dann leise schließend. Sind mehrere Besucher im Salon anwesend, so darf die Hausfrau denselben nur verlassen, wenn sie eine genügende Vertretung zurückläßt. Im anderen Falle geht sie nur bis zur Stubenthür mit und hier verabschiedet sich die Besucherin endgültigst von ihr. Inbezug auf den Händedruck fügen wir noch bei, daß es nicht für sein gilt, die bekleidete Hand in die unbekleidete eines anderen zu legen, und daß man also gut daran thut, den rechten Handschuh bereits im Entree aus- und erst dort wieder anzuziehen.
Ein Herr ergreift im Aufstehen seinen Hut und macht zuerst der Hausfrau seine devoteste Verbeugung, wobei er nicht vergessen darf, daß ein Handkuß immer gut aussieht und selten Mißfallen erregt. Die übrigen Gäste erhalten ebenfalls ein Kompliment. Dann begiebt er sich zur Thür, macht hier nochmals eine Verbeugung und tritt, mit dem Gesicht nach dem Salon gewendet, über die Schwelle. Alles dieses will geübt sein, wenn es mit Geschicklichkeit und Eleganz ausgeführt werden und nicht lächerlich wirken soll. Begleitet der Hausherr ihn hinaus, so ist dasselbe zu beachten, was vorhin von dem Geleite der Hausfrau gesagt wurde. Außerdem erwähnen wir, daß es für unpassend gilt, dem Gaste die Thür zu öffnen, weil es einen ungebührlichen Eifer verraten könnte, sein Fortgehen zu beschleunigen. Wir sind nicht dieser Ansicht und halten es wohl für erlaubt, dem Fortgehenden diesen Handgriff abzunehmen. Der Stuhl, auf dem der Gast gesessen, bleibt stehen, wo er ihn benutzt hat.
Solch ein Antrittsbesuch muß in spätestens 14 Tagen erwidert werden. Ältere Personen machen jungen Leuten häufig keinen Gegenbesuch, sondern lassen ihnen eine Einladung zukommen oder[22] sind ihnen in irgend einer Art gefällig, kurz, sie zeigen, daß wiederholte Besuche gern gesehen und gewünscht werden.
Die anderen Arten der Besuche verlaufen ähnlich wie die Staatsvisiten, nur daß Freundschaftsbesuche einen wärmeren Stempel tragen. Wer einen großen Verkehrskreis hat, kann sich zur Besuchszeit stets auf Gäste gefaßt machen. Daher halte er darauf, daß um diese Stunde das Empfangszimmer in größter Ordnung und die Hausfrau oder ein erwachsenes Familienmitglied in demselben anwesend ist, und zwar in einem Anzuge, der den Blick Fremder gut verträgt. Größere Arbeiten muß man auf eine geeignetere Zeit verlegen und sich jetzt so beschäftigen, daß der Eintretende den Eindruck gewinnt, in keiner Weise zu stören. Eine kleine Handarbeit ist das Ratsamste.
Die Begrüßung sei einfach, herzlich und kurz. Eine achtungsvolle Verbeugung, ein herzlicher Händedruck, ein Handkuß, je nachdem Rang, Alter und Freundschaft es zulassen. Der Kuß ist eine Zärtlichkeitsbezeugung, die durchaus nicht für all und jeden erquicklich ist; man kann hierbei in der Zurückhaltung nicht weit genug gehen. Begnügen wir uns also mit dem Händedrucke, und legen wir in diesen unsere Herzlichkeit.
Ist der Besuch eine Dame, so wird ihr nach der Begrüßung und gegenseitigen freundlichen Erkundigungen nach dem Befinden der rechte Sofaplatz angeboten. Kommen zwei Damen, welche im Range und Alter der Hausfrau voraus sind, so nehmen beide das Sofa ein, während die Wirtin sich ihnen gegenüber auf einem Sessel niederläßt. Ein Herr sitzt, wie schon betont, nie auf dem Sofa und um solchen, die in guter Lebensart nicht ganz zu Hause sind, keine Fallstricke zu legen, bietet man dasselbe nur dem weiblichen Geschlechte an. Auch ein junges Mädchen darf darauf platznehmen, wenn die Hausfrau es wünscht, nur muß es dasselbe sofort räumen, tritt eine ältere Dame ein.
Bei einem kurzen Besuche Erfrischungen anzubieten, macht einen kleinstädtischen Eindruck; man thut es höchstens, wenn die Witterung es nötig erscheinen läßt, also vielleicht bei großer Hitze etwas Kühlendes, bei strenger Kälte oder argem Regen etwas Warmes. Dagegen hat man sich sehr angelegentlich der Unterhaltung hinzugeben und hierin sein Bestes zu thun.[23]
Buchempfehlung
Im Dreißigjährigen Krieg bejubeln die deutschen Protestanten den Schwedenkönig Gustav Adolf. Leubelfing schwärmt geradezu für ihn und schafft es endlich, als Page in seine persönlichen Dienste zu treten. Was niemand ahnt: sie ist ein Mädchen.
42 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro