Wien.

Mein Vater hieß Christian Schulze. War in Frankfurt a.O. geboren, den 8. November 1693. Sein Vater war ein sehr geschätzter Porträtmaler. Seine Mutter verlor er sehr jung. Er hatte nur eine Schwester. Wie es denen Künstlern insgemein geht, daß solche selten reich sind oder werden, so war's auch mit meinem Großvater bestellt. Da er in seinem Sohn Neigung zum Studieren fand, so übergab er solchen den besten Lehrern. Er war fleißig und wollte nun seine Kenntnis auf anderen Universitäten erweitern und verließ seine Vaterstadt. Wohin er ging, weiß ich nicht mehr, ob nach Leipzig oder wohin. Denn alles, was ich von meinem Vater schreibe, erinnere ich mich nur als eines zarten Kindes solches gehört zu haben, wenn er zuweilen von seinen Jugendjahren mit meiner Mutter sprach, ich dann in einem Winkelchen mit meiner Puppe spielend sehr beschäftigt schien, aber meine ganze Aufmerksamkeit auf das gerichtet hatte, was meine Eltern einander sagten. O wie gern hätte ich zuweilen eine Frage eingeworfen. Aber ich war zu furchtsam, und so ein Wort: »man muß nicht naseweis, nicht vorwitzig sein,« hätte meinen kleinen Stolz zu sehr gekränkt. Den Stolz hatte ich vom ersten Lallen. Doch wieder zu meinem Vater! Nachdem er einige Zeit von seines Vaters Haus war, bekam er traurige Briefe von seiner Schwester. Mein Großvater, der immer kränklich war und besonders stark am Podagra litt, seine schrecklichen Schmerzen, die Unfähigkeit zu arbeiten, nicht imstande zu sein, seinen zwei Kindern so viel zu geben, daß sie nur in etwas ihr Fortkommen haben könnten – alles das zog ihm eine Gemütskrankheit zu, die endlich in eine völlige Raserei ausbrach. Er starb.[1]

Mein Vater, zu gut denkend, als daß er von dem, was noch sein Vater hinterlassen, welches vorzüglich in einer sehr schönen Sammlung von Gemälden bestand, etwas beansprucht hätte, ließ die ganze Erbschaft seiner Schwester, die sich auch nachher mit einem rechtschaffenen Mann verheiratet hat, der, wo ich nicht irre, auch ein Maler war. Mein Vater sah sich nun allein in der Welt und ohne Vermögen. Konnte, da es ihm an Geld gebrach, nicht länger seine Studien auf der Universität fortsetzen. Alle Aussicht, Hang und Absicht, die er hatte, war verschwunden. Was also zu tun? Wie kannst du doch zum Teil das erlangen, was du wolltest? Geh aufs Theater: der Weg, wo du reisen, die Welt und Menschen sehn und doch ein ehrlicher Mann bleiben kannst. War sein Schluß zu übereilt, daß er just den Weg einschlug? Er war 19 Jahre und arm. So viel von meinem Vater vor meiner Geburt! Alles übrige würden sehr abgerissene Stücke sein. Bald war er in gutem, bald mittlerem, bald armem Stande, wie es bei dem Theater zu gehen pflegt.

Nun zu meiner Mutter! Sie hieß Augustina v.D. Daß ich meiner Mutter Geschlechtsnamen nicht ausschreibe, ist, ja, wie soll ich's nennen, auch Stolz? Gott sei Dank, so vornehm, wie sie waren, habe ich sie nie nötig gehabt. Und da noch welche leben, so will ich ihnen dadurch, daß ich ihre Anverwandte bin, weder Freude noch Leid mit machen. Geboren in F.a.O. (demselben Ort, wo mein Vater geboren war, stammt aber aus B..n eigentlich her, und wurde in F. geboren, weil ihre Mutter ihren Mann auf einer Reise dahin begleitet hatte) an dem Karfreitag 1708. Es ist mir kein Kalender von dem Jahr in die Hände gefallen, sonst sagte ich den Datum. Meine Mutter feierte immer am Karfreitag ihren Geburtstag mit uns, und da ist mir denn das Andenken des Tags noch bis jetzt so heilig, daß ich ihn nie mit dem Dato umtauschen würde. Ihr Großvater mütterlicherseits, ein H. v. B., einer der ersten Männer in Berlin, verheiratete ihre Mutter an den reichen H. v. D., der, weil er wohl nicht wußte, was er mit dem Gelde anfangen sollte, Lust zu einem Juwelenhandel bekam, von dem er so viel verstand[2] wie ich; handelte auch ein Tausend ums andere weg. Hatte viele Kinder, davon meine Mutter die Jüngste war. Sie war, ich darf's sagen, schön, gut erzogen. Noch sehr jung, als sie durch große Empfehlungen nach Mitau in Kurland an den Hof der Herzogin Anna, die nachher Kaiserin von Rußland war, kam. Sieben Jahre war sie bei dieser guten, lieben Frau (so nannte sie immer meine Mutter mit Tränen und segnete ihre großmütige Fürstin, ihre Wohltäterin im Grabe). Die Herzogin ward Kaiserin, und auch als solche veränderte sie ihr Herz nicht und wollte meine Mutter als die einzige Deutsche, die sie an ihrem Hof hatte, mit nach Petersburg nehmen. Meine Mutter meldete es ihrer Familie. Die baten, drohten, kurz, beredeten sie, es nicht zu tun. Und warum? Wegen der Religion. Meine Mutter war reformiert. (Noch etwas, denn ich schreibe Wahrheit: mein Vater war evangelisch, doch changierten beide und nahmen in Prag die katholische Religion an. Mein Vater lange vorher, ehe er meine Mutter kannte, nachdem er sieben Jahre mit sich gestritten. Meine Mutter nachher, ehe sie noch willens war, meinen Vater zu heiraten. Ob sie recht oder unrecht taten? Ich bin katholisch geboren, werde es bleiben und verehre jede Religion. Keine macht uns Schande, aber wir nur zu oft der Religion.)

Also verließ meine Mutter ihre Fürstin und kam zu ihren Verwandten nach Berlin. Da hatten sich denn die Umstände sehr verändert. Die meisten ihrer Geschwister waren verheiratet, aber keins in Berlin. Der Vater hatte sich mit seinem Juwelenhandel so verhandelt, daß er seinen Kindern nichts mitgeben konnte. Jedes war wohl versorgt, doch nicht so, als wenn er besser gewirtschaftet hätte. Meine Mutter bezahlte verschiedene Schulden ihrer Mutter; sie dachte so am Berliner Hof anzukommen wie in Mitau. Doch die sieben Jahre hatten viel geändert. Meine Großmutter ging zu ihrem jüngsten Sohn nach D., der sich dort durch eine gute Heirat imstande sah, ihr die letzten Tage ihres Lebens zu versüßen, und meine Mutter ging zu ihrer Schwester auf ihren Landsitz, die auch verheiratet war und ihren Vater bei sich hatte. Meine Tante, der Himmel gebe ihr Ruhe, war[3] eine Betschwester geworden. Die vielen Jahre, die sie vor meiner Mutter voraus hatte, schienen, so glaubte sie, ihr das Recht zu geben, meine Mutter bei jeder Gelegenheit zu hofmeistern. Nannte sie nur: das Weltkind. Mein Großvater mußte zu manchem christlichen Vorwurf stillschweigen, weil er das Gnadenbrot von ihr und ihrem Manne hatte. Kurz, meine arme Mutter bereute oft den Augenblick, daß sie ihre Fürstin verlassen. Um ihren verdrießlichen Aufenthalt noch böser zu machen, schlug man ihr eine Heirat mit ihres Schwagers Bruder, einem Herrn von F...g, vor, einem wahren, vierschrötigen Landedelmann, der besser am Pflug als auf dem Lehnstuhl paßte. Meine Mutter haßte solchen von ganzem Herzen. Nun kam noch ein Umstand, daß selbst der Herr Gemahl meiner Tante sich in meine Mutter verliebt hatte. Meine Mutter dachte anfänglich, daß sein freundliches Bezeugen bloß die Unarten seiner frommen Frau wieder vergüten sollte, um ihr den Aufenthalt bei ihnen in etwas erträglicher zu machen. Als aber meine Mutter einmal allein war und der Herr Schwager zu handgreiflich freundlich wurde, gab sie ihm eine Ohrfeige. Das veränderte nun auf einmal alles. Nun war sie verfolgt von Schwester und Schwager und von dem feinen Bruder. Der Vater durfte nichts sagen. Meine arme Mutter! Wenn sie zurückdachte an sehr vorteilhafte Heiraten, die sie in M. hätte treffen können, die sie, weil es Kurländer und keine Deutsche waren, ausschlug, wegen Bitten ihrer Mutter. Unsere lieben Alten hielten nur was auf ihre Landsleute. Geld hatte sie nur sehr wenig noch, nur Kleider und Wäsche.

Endlich, überdrüssig alles, entschloß sie sich zur Flucht. Ihre Absicht war, nach S. zu gehen, von da aus sich auf ein Schiff zu setzen und geradeswegs nach Rußland zu segeln, zu sehen, daß sie wieder zu ihrer Fürstin käme, die ihr sagte bei dem Abschied: »Augustina, du weißt, wie ich dich liebe; gefällt es dir nicht in Berlin, so komm mir nach; deine Stelle wird immer für dich in meinem Herzen offen sein, wenn du's wie bisher würdig bleibst.« Meine Mutter machte sich eine arme Bauernfrau, der sie viel Gutes und ihren Kindern getan, zur Vertrauten. Ja, um so mehr, da die Frau die[4] Ohrfeige im Garten, wo sie stand und arbeitete, mit angesehen hatte. Diese trug ihr von ihren Sachen, soviel sie tragen konnte, und meine Mutter wählte einen Tag zur Flucht, da alle ihren lieben Verwandten ausgefahren, einen andern Landedelmann auf ein paar Tage zu besuchen. Alle ihre Standhaftigkeit hätte sie bald verlassen, als sie die Hand ihres Vaters zuletzt küßte. Doch die Hoffnung, wenn es ihr gut ginge, ihn nachkommen zu lassen, gab ihr Mut. Sie kam des Abends in S. an. Erkundigte sich nach einem Schiff. Aber wie sehr fiel ihr Mut, als sie da die Unruhen hörte, die damals in R. herrschten. Denn von politischen Nachrichten, Leitungen und dergleichen wußte sie nichts ab. Jetzt bekümmert man sich mehr darum. Welches Mädchen las damals Zeitungen, und wie viele Herren hielten sich welche? Nun sind wir in weit helleren Zeiten.

In S. hielt sich eine Gesellschaft Schauspieler auf. Der Prinzipal wohnte mit seiner Frau in demselben Wirtshaus, wo meine Mutter eingekehrt. Die sagte vorsichtig einen kleinen Roman, ohne ihren wahren Stand und Namen zu verraten. Der Mann hatte zwei erwachsene Töchter, mit ihr fast im gleichen Alter. Kurz, sie hielten sie zwei Tage lang bei sich verborgen, und so reiste sie mit ihnen ab und ward Schauspielerin. Nach verschiedenen Jahren kam sie zu meinem Vater, der selbst eine Gesellschaft hatte. Seine Frau starb, mit der er viele Kinder hatte, die aber alle tot waren bis auf zwei Töchter und einen Sohn. Die älteste davon war Kammerfrau bei der verwitweten Herzogin v. Guastalla, die in Augsburg ihren Hof hatte. Sein Sohn Christian war damals 13 Jahre und die jüngste Tochter Marianne 6 Jahre, als ihn meine Mutter am 7. Dezember 1741 in Prag heiratete. Durch viele Widerwärtigkeiten und Unglücksfälle war seine Gesellschaft zertrümmert, bis er endlich nach einem Jahr, oder wie lange es war, mit meiner Mutter, seinen zwei Kindern erster Ehe und einem Sohn, Karl genannt, den er mit meiner Mutter erzeugt, nach Wien kam und auf dem Kaiserlich Königlichen Theater von neuem engagiert wurde (denn er war viele Jahre vorher schon einmal bei demselben gewesen). Meine Mutter wurde wieder schwanger, und sobald[5] sie dessen gewiß war, betete sie Tag und Nacht, daß ihr Gott doch ein Mädchen geben wolle. Ost, wenn mein Vater sie überraschte, daß sie auf den Knien lag und weinte und betete, gab er ihr einen Verweis, daß sie Gott vorschreiben wollte, was sie haben und nicht haben will.

Endlich, den 30. September 1745, des Vormittags 10 Uhr, kam denn das von Gott erbetene Töchterlein, und das bin ich. Meine kleine Figur bestand in einem Klumpen Fett, so daß man zu meiner Mutter sagte: Nun, Mad. Schulze, Gott hat Ihr Gebet erhört: es ist ein Mädchen, aber eine Mißgeburt. Jede andere Mutter hätte den Tod darüber vor Schreck nehmen können; aber meine Mutter antwortete ganz gelassen: Nun, in Gottes Namen, es ist doch ein Mädchen. Und Gott sei Dank, daß ich nichts Mißgeburtisches hatte und von Tag zu Tag immer hübscher wurde.

Meine Eltern liebten mich und meinen Bruder. Wie sie uns erzogen, kann man am besten als Urteil aus diesen Blättern nach unserm Handeln abnehmen. An meinen Halbbruder hat mein Vater unstreitig das meiste gewandt, und der hat ihm auch am meisten gekostet. Er konnte es tun, da er an einem Ort blieb und alle Woche richtig sein Geld einzunehmen hatte. Auch war gar nicht meiner Eltern Absicht, ihre Kinder fürs Theater zu erziehen. Sie sollten was lernen und dann auf andere Art ihr Heil versuchen. So wünschte er, daß seine Söhne studieren und seine Töchter so unterkommen möchten wie die älteste bei der Herzogin von Guastalla. Zu dem Ende war Christian zu den Jesuiten geschickt und bekam noch überdem Stunde im Tanzen, Fechten und Reiten. Nun wurde er Student, daß er den Degen trug. Hatte Stolz, und es wollte ihm nicht behagen, daß ihm die Herren Schauspieler noch immer, weil sie ihn als Buben gekannt, noch so zu begegnen schienen. Hatte gewissen Hang zum Theater, sah, daß der Vater keine Neigung hatte, glaubte, die Welt sei in Wien nicht allein, und ging von meinen Eltern, ohne Abschied zu nehmen. Wie er durchgehaust hatte, was er mitgenommen, Mangel an allem fühlte, schrieb er von München aus einen sehr kläglichen Brief. Mein Vater, der immer Vater seiner Kinder war, auch meine Mutter, nichts weniger wie stiefmütterlich[6] gesinnt, vergaben ihm von Herzen und schickten alle halbe Jahr Wäsche, Kleidungsstücke, Geld und dergleichen immerzu. Meine Stiefschwester, ein gutes, aber wildes Mädchen, wenn die was angestellt, wo sie dann dachte, das wird ohne einen Buckel voll Schläge nicht abgehen, lief auch zweimal in Wien meinen Eltern davon, diente, bis sie dann wieder in dem Dienst, wo sie war, was angestellt, daß sie dann reuig wiederkam und meine Eltern den Schaden ersetzten, den sie teils aus Wildheit oder Nachlässigkeit verursacht. Ueberhaupt muß ich das meinen Stiefgeschwistern nachsagen: mit dem Heimlich Fortlaufen waren sie schnell bei der Hand. Mein Stiefbruder ist seit drei Jahren tot, da ich dieses schreibe, und Gott behüte mich, ihm Unwahrheiten nach dem Tode nachzusagen. Die Schuld fiel oft auf meine Mutter, wie es denn immer den Stiefmüttern geht. Und wenn sie auch noch so gut sind, so heißt es: es ist eine Stiefmutter. Mein Bruder Karl ein guter Junge, schnell, so einen kleinen Mutwillen auszuüben, kurz, wie wilde Jungen sein müssen, wenn sie brave Männer werden sollen. Ich, ja, ich war ein eigen Kind. Konnte leicht was fassen. Aber heftig und ernst in allen meinen Handlungen. Nichts haßte ich mehr als Lügen. Und eben darum, weil ich immer die Wahrheit gestand und nie eine Unart zweimal beging, hab' ich nie einen Schlag weder von Vater noch Mutter bekommen.

[Die kleine Karoline, so artig sie im ganzen war, konnte schon damals sehr leidenschaftlich sein, wenn man ihr Unrecht tat. Zu Ostern bekam sie, ebenso wie ihr Bruder, ein Lamm und eine Fahne. Als nun Karl seine Fahne zerbrochen und die ihrige heimlich genommen hatte, ihr aber diesen Sachverhalt nicht zugeben wollte, wollte sie sich in ihrer Wut, daß sie zur Lügnerein gestempelt wäre, die Kehle abschneiden. Damals war sie dritthalb Jahre alt. Ein paar Monate später war sie wieder sehr heftig als sie der Mutter zum Geburtstag ein paar geringwertige Strumpfbänder schenken sollte, da der Vater ihr doch von wertvollen gesprochen hattet.] »Wenn ich groß werde und selbst was verdienen kann, will ich Mama immer beschenken. Habe Mama lieb.« – »Aber den Papa, nun, Mädel, hast du den nicht auch lieb?« – »O, ja, von[7] Herzen, aber es ist doch nicht hübsch, daß er mich betrogen hat.« Fing an zu weinen, klammerte mich an Papas Knie und bat ihn, unter gewaltigem Weinen, er sollte es doch nie wieder tun. »Wenn's noch Taftbänder wären, aber Florettband!« Im andern Monate darauf wurde ich vier Jahre.1 Und nun kommt die Periode, die Einfluß auf mein ganzes übriges Schicksal hatte.

Michaeli, den Tag vor meinem Geburtstag, wurde mein Vater abgedankt. Die Ursache? Prehauser, der den Hanswurst in Wien spielte, nicht mit seiner Frau lebte und damals eine gewisse Madame Walterin zur Maitresse hatte, war schuld. Mein Vater war mit Prehauser und noch einigen spazieren gefahren. Sie waren lustig und hatten ein Glas Wein zuviel getrunken. Der Wein macht offenherzig, und mein Vater war's oft auch ohne Wein. Das Gespräch gab Anleitung dazu, und so sagte mein Vater: »Herr Prehauser, wie ist es möglich, daß Sie sich so sehr von der Walterin können bei der Nase herumführen lassen? – Sie ist Ihnen nicht getreu. Sobald Sie den Rücken wenden, ist der Kammerdiener von dem N.N.-Gesandten bei ihr.« »Die Magd trägt die Billette ab und zu. Versuchen Sie es einmal! Sagen Sie: Sie wollten auf ein paar Tage verreisen, und überraschen Sie sie.« Gesagt und geschehen! Kurze Zeit darauf sagte Pr. zu seiner Geliebten: »Ich reise auf zwei Tage auf die und die Herrschaft.« Kommt des nachts unvermutet zurück. Die Magd erschrickt, er droht ihr, wenn sie Lärm machte. Geht ins Schlafzimmer und findet den Kammerdiener bei seiner Geliebten im Bett. Er prügelt den Kammerdiener mit ihr durch. Ersterer lief halbangezogen fort. Und nun ging's über Madame mit dem Braunen her. Sie sollte aus dem Haus, und Pr. erzählte alles an meine Eltern. Die Walter war eine sehr reizende Blondine, die, durch Bitten und »nicht mehr tun«, Pr. besänftigte. Also söhnten sich beide aus, und Pr. warf einen Haß auf meinen Vater.

Die Fasten war ein gewisser Müller aus Breslau mit seiner Frau angekommen, die nicht gefielen. Es ward beschlossen,[8] solche Michaeli wieder abzudanken. Da mein Vater dem Pr. ein beständiger Vorwurf war, wenn er ihn sah, wußte dieser die Sache so zu drehen, daß meine Eltern statt der Müllers abgedankt wurden. Der Betrug konnte um soviel leichter gespielt werden, weil das nächstfolgende Theaterjahr H. von Lopresti Impresario wurde und H. v. Selgö auf ein Jahr davon abging. Es war ein Donnerschlag für meine Eltern. Geld hatten sie in den wenigen Jahren nicht viel sammeln können. Denn damals hatten die Schauspieler nicht so viel einzunehmen als jetzt. Meine Eltern hatten alle Woche nicht mehr als 14 Gulden ohne Akzidenzien, die ihnen denn nun wohl das Jahr 100 Gulden mochten einbringen, doch Fasten und Advent halbe Gage. Hübsch und nett, nicht prächtig, hatten sie sich eingerichtet, vier Kinder. Kurz, wo sollte da viel Geld herkommen? Mein Vater schrieb an seinen Sohn Christian nach München, wie sich sein Prinzipal stünde? Er hieß Johann Schulz, war aber gar nicht mit meinem Vater verwandt, doch hatte er ihn gekannt, wie dessen erste Frau lebte, die eine gute Hausfrau war. Dieser Schulz hatte das kurbayerische Privilegio seit Jahren gehabt. Mein Halbbruder, froh, seine Eltern aus mehr als einer Absicht näher bei sich zu haben, schrieb sehr viel Gutes zurück. Also auf dem sein Wort schreibt mein Vater an diesen Johannes Schulz, um sich bei ihm künftig fest zu engagieren.

Um nur einen Zug von der Rache dieses Hanswursts anzuführen. Mein Vater hatte mich schon in meinem dritten Jahr, wie meinen Bruder Karl eine Rolle gelehrt, nämlich in dem »Esop in der Stadt« die zwei Kinder, die sich um den Spiegel zanken, und es für mich und Karl eingerichtet. Wir erhielten allgemeinen Beifall über unsere Dreistigkeit und Art, wie wir spielten. Nachher bekam ich noch eine Rolle, wo ich viel Latein sprach und sehr gut. Weil ich wirklich als ein Kind von dritthalb Jahren mehr Latein verstand und sprach und besser las, als ich jetzt weder verstehe, spreche, noch lese. Ich wurde in der Rolle in einen Kasten eingesperrt. Der damalige Pantalon machte meinen Großvater, und vor dem Mann fürchtete ich mich wie vor dem Niklas, auch wenn er keine Maske vorhatte. Der Pantalon, nachdem er mich im[9] Kasten »Mama, Mama!« rufen hörte, muß mich herauslassen und will mich erstechen. Nun war's natürlich, da ich immer vor dem Mann Furcht hatte, daß, wie er mit dem Messer auf mich zukommt, ich ein Zetergeschrei anfange. Prehauser mußte mich wegtragen; das brachte die Komödie mit sich. Er schalt mit mir, daß ich geweint. Ich antwortete aber: »Nun, was wollen Sie, muß man nicht weinen, wenn man einen totstechen will?« – Darauf sollte »Der Kranke in der Einbildung« gemacht werden, und mein Vater lehrte mich das Kind, das im Stück ist. Alles war still, bis auf den selben Tag, da der »Kranke« sein sollte. Es wird zu meinen Eltern geschickt, man möchte mich nicht zur Probe bringen, die Mademois. Schröter (ein Mädchen von zwölf Jahren) spielte die kleine Luise. Meine Eltern sagten, gewiß kommt das von Prehauser, und es war wahr, denn er nahm zum Vorwand: wenn er mir auf dem Theater die Rute gäbe, könnte ich es so machen, wie bei dem Totstechen. Als ich des Morgens aufwachte, hinterbrachten sie mir es, und sie waren bange, weil sie meinen Eifer und Lust kannten, daß es mich sehr kränken würde. Aber auf die Nachricht antwortete ich ganz gelassen: »Nein, ich weine deswegen nicht. Nie habe ich von Papa und Mama die Rute bekommen. Die Partie hätte mich beschimpft ohnedies. Bin froh, daß ich sie nicht machen darf. Hab's nur gesagt wegen der Akzidenzien, die Papa wegen mir bekommen hätte, und weil Papa nun Geld zur Reise braucht. Darum ist's mir leid.« Meine Eltern sahen sich an, fielen sich um den Hals, küßten sich. Gott, welch Kind! Mutter: »Hab's Mädel von Gott erbeten.« Vater: »Gib acht, Alte,« so nannte mein Vater die Mutter meist, »das Mädchen gibt uns noch in unserm Alter unser Brot.« Ja, das Wort, die Innigkeit, womit sie sich das sagten, drang tief in mein junges Herz.

Die Fastenzeit kam, und meine Eltern machten alle Anstalt zu ihrer Abreise. Als meine Mutter zum H. v. Selge kam, um Abschied zu nehmen, so frug er sie: »Haben Sie Urlaub genommen? Wohin soll die Spazierreise?« – »Nicht Urlaub, nicht Spazierreise, ich bin mit meinem Mann abgedankt!« – »Sie, abgedankt? Müller soll weg.« Nun[10] entwickelte sich der Betrug. Selge und Lopresti trugen meinen Eltern an, daß sie bleiben sollten. Wo sie hinwollten in der rauhen Jahreszeit mit den kleinen Kindern? Doch mein Vater, der dem Schulz in München sein Wort gegeben, sah, daß bei jeder Gelegenheit Prehauser doch Rache an ihm nehmen würde. Unsere Einrichtung war bereits verkauft, kurz, es war zu spät, und den zweiten Tag darauf, als sie es erfahren, wie niederträchtig sie behandelt worden, reisten sie mit der gewöhnlichen Landkutsche mit meiner Halbschwester Marianne, Karl und mir ab. [Ein betrunkener Kutscher läßt den Wagen beinahe einen tiefen Abgrund hinab in die Donau stürzen.] Als unserer Reisegefährten erinnere ich mich zweier Mädchen, von denen das eine Klosterfrau werden wollte, und das andere, als eine Anverwandte, es begleitete. Als sie zu dem Kloster kamen, das erst ausgebaut werden sollte, reute es ihm, und es schrie erbärmlich, daß es nicht dableiben wollte, bat den Boten um Gottes willen, er möchte sie mitnehmen. Endlich sagte der Bote: »Weiß sie was, Jungfer, wenn's ihr nicht gefällt und ich komme des Weges wieder vorbei, so nehme ich sie zurück.« – Dann war noch ein Schwabe bei uns, ein närrischer, lustiger Bursche, der uns Kindern viel Spaß machte und uns sehr die Zeit verkürzte durch seine Geschichten und die Aussprache. Das alles war uns denn wie eine neue Welt. Der arme Teufel lebte sehr sparsam, meine Eltern hielten ihn fast frei, und doch hatte er viel Ehrgeiz – nur nicht schmarotzen! Eines Abends ließ er sich eine Suppe machen und speiste noch etwas weniges, das er dann, als er fragte, was er schuldig, noch vor Schlafengehen sehr teuer bezahlen mußte. Er erzählte den Morgen sein Unglück so drollig, daß niemand im Wagen aus dem Lachen über ihn kam. Endlich sagte er, daß er sich gerächt an dem schurkischen Wirt. Man hatte ihm ein Bett in einer Kammer angewiesen, wo getrocknetes Obst lag. Und nun leerte er nicht nur seine Taschen aus, nein, seine Stiefel staken voll, das Futter vom Rock losgetrennt, und von dem Obst alles vollgefüllt, wo er es nur hatte lassen können. Herzlich wünschte ich mich ins Land der Schwaben, wenn alle so drollig wären. Von der Zeit nahm er denn mit vielem[11] Dank an, daß meine Eltern ihn immer mit uns essen und trinken ließen. »Herr, schla mi gau der Hagel, dasch vergelt Euch Gott!« sagte er wohl tausendmal. Mit Tränen nahm er von uns in München, als wir ankamen, Abschied. Hab' ihn nie wieder gesehen.

1

D.h. trat ins 4. Lebensjahr ein.

Quelle:
Schulze-Kummerfeld, Karoline: Lebenserinnerungen. Berlin 1915, S. 12.
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