Braunschweig.

[189] Meine Fleischer, ihre Schwägerin und Fredersdorf überraschten mich und kamen mir schon zwei Meilen weit entgegen. So krank auch mein Riekchen war; denn sie war wieder schwanger, wollte sie mir doch ihre Liebe bezeigen. Ich ging von den Wagen ab und fuhr mit ihnen nach Braunschweig. Meine Mutter wollte nicht mit uns fahren, der Sachen wegen. Fredersdorf war zu Pferde. Wir[189] kamen also nach Braunschweig, wo mein Riekchen gleich zu Bette mußte; denn sie wurde immer kränker im Fahren und machte uns allen Angst, daß es von schlimmen Folgen sein dürfte. Ich wollte die ganze Nacht nicht von ihr weichen; doch auf ihr zu heftiges Bitten mußte ich sie verlassen. Sie war aus ihrer alten Wohnung gezogen in ein eigen Haus, nahe bei dem Schloß, und meine Mutter hatte für uns Zimmer bekommen dem Schloß gegenüber, daß ich also von meinen Fenstern in Riekchens Zimmer sehen konnte. Wer war nun wieder glücklicher als ich? So nahe bei der zu sein, die ich mehr liebte wie mich selbst. Oh, was wurden für Abreden genommen, uns nun jeden Augenblick zu sehen, uns zu küssen, uns zu freuen!

Auf Verlangen des Hofes wurde mit der »Miß Sara Sampson« angefangen.1 Als ich mit dem ersten Akt fertig war und in die Garderobe trat, um mich umzukleiden, frug ich nach meiner Mutter. Da hörte ich, daß sie sich nicht recht wohl befunden und nach Hause gegangen wäre. Ich schmeichelte mir mit der Hoffnung, daß es eben von keiner Bedeutung sein würde, und spielte meine Rolle ruhig fort. Aber, mein Gott, wie erschrak ich, als ich heimkam und hörte, daß sie alle gebeten, es mir nicht zu sagen, wie elend sie wäre! Sie hatte wieder ihre heftigen Blutstürzungen bekommen. Man hatte sie nach Hause getragen, und ich fand sie mehr tot wie lebendig. Ich eilte zu meiner Freundin, bat, sie möchte fortschicken nach dem Doktor. Der kam auch noch in der Nacht, und ich wich nicht von ihrem Bette. Kindliche Liebe, Pflicht und Dankbarkeit ging über Freundschaft,[190] und aus allen projektierten Verabredungen wurde nichts. Die Stunden, wo ich nicht zu Proben und Komödie mußte, gehörten alle meiner Mutter, nicht eine Minute hätte ich ihr rauben können. Wenn es um die Stunde der Proben war und des Nachhausegehens, sowie auch, wenn ich in die Komödie und von solcher zurückkam, stand mein Riekchen an ihrer Haustür und erwartete mich. Da sahen wir uns denn an, küßten uns und trennten uns wieder, immer mit Tränen in den Augen. – Der Doktor sprach meiner Mutter das Leben ab, und sie verlangte einen Priester, der ihr auch das heilige Abendmahl reichte. Mein Zustand war traurig. Zwei Abende, da meine Mutter sich etwas leidlicher anfing zu befinden, besuchte mich mein Riekchen und Fredersdorf. Wir weinten, und Fredersdorf, der uns trösten wollte, litt soviel und wohl noch mehr, wie wir beide. Er war der zärtlichste, teilnehmendste Freund von mir, derselbe, der er war, als ich ihn kennen lernte. Aber Liebe kam nicht auf seine Lippen, und er hielt Wort. Und dies beruhigte mich um so mehr. Denn wenn ich an den stürmischen Major dachte, war mir bange vor jeder Liebe und jedem Liebhaber.

Wir sollten in Braunschweig nicht länger bleiben als bis gegen das Ende von dem Monat August. Meine Mutter, zu unserer aller Freude, erholte sich wieder, doch war sie so matt, daß Fredersdorf, meiner Riekchen ihr Mann und mein Bruder sie in die Kutsche heben und tragen mußten. Der Abschied, wie wir uns trennten, geschah unter vielen Tränen. So traurig dachte ich nicht, als ich hinkam, meine Stunden zu verleben. Doch Gott schenkte mir aufs neue meine Mutter, und ich war solchem den feierlichsten Dank schuldig. Unser Weg ging nach Hamburg. Meine liebe Mutter erholte sich auf der Reise zusehends, daß sie frisch und gesund wurde, als wir nach Harburg kamen. H. Ackermann und seine Frau hatten auch eine Kutsche genommen, und wir reisten zusammen. Endlich stiegen wir in Harburg in einen Ewer und mußten in solchem bis vollends nach Hamburg auf der Elbe die Reise beschließen.

1

W.H.: Eben damals fanden wir eine Gesellschaft französischer Schauspieler. H. Ackermann mußte »Miß Sara Sampson« das erste Stück sein lassen, das wir gaben. Alle die Herren Gelehrten und Freunde des deutschen Schauspielers verlangten, wünschten es, um den französischen Schauspielern durch Deutsche ein deutsches Trauerspiel zu zeigen, sonst würden wir nicht mit einem Stück angefangen haben, das wir das Jahr vorher schon zweimal gegeben. (Damals ging Karoline, wie oben schon bemerkt, in die französische Komödie, da »Zayre« gegeben wurde.) Unser Aufenthalt war diesmal nur die Messe hindurch.

Quelle:
Schulze-Kummerfeld, Karoline: Lebenserinnerungen. Berlin 1915, S. 189-191.
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