London

[68] 1820


Am andern Morgen, wo eine Sitzung der Direktoren der Philharmonischen Gesellschaft anberaumt war, sollte ich denselben durch Herrn Ries vorgestellt werden. Ich machte daher sorgfältige Toilette und legte absichtlich ein Prachtstück meiner Garderobe, eine rotbunte türkische Schalweste an, die auf dem Kontinent für das Eleganteste der neuen Mode galt. Kaum war ich damit auf der Straße erschienen, als ich die allgemeine Aufmerksamkeit der Vorübergehenden erregte. Die Erwachsenen begnügten sich, mich mit erstaunten Blicken zu betrachten, und gingen dann ruhig ihres Weges, die liebe Straßenjugend aber ergoß sich in Bemerkungen, die ich leider nicht verstand, deshalb auch nicht erraten konnte, was ihr an mir mißfiel. Sie bildete nach und nach einen Schweif hinter mir, der immer lauter und unruhiger wurde. Ein Vorübergehender redete mich an und gab mir wahrscheinlich eine Erklärung darüber; da es aber auf englisch geschah, so konnte ich keinen Nutzen daraus ziehen. Glücklicherweise war die Riessche Wohnung nicht sehr entfernt und wurde von mir soeben erreicht. Madame Ries, eine junge liebenswürdige Engländerin, die aber geläufig Französisch sprach, gab mir nun Aufschluß über mein Abenteuer. Es war unlängst nach dem Tode Georgs III. allgemeine Landestrauer ausgeschrieben, und nach englischer Sitte durfte öffentlich niemand anders als in Schwarz erscheinen. Mein übriger Anzug war zwar schwarz und so der Vorschrift gemäß, die unglückliche rote Weste kontrastierte damit aber um so auffallender. Madame Ries äußerte, ich hätte es sicher nur meiner imposanten Gestalt und meinem ernsten Wesen zu danken, daß die Ungezogenheit der Straßenjugend sich nicht bis zu Tätlichkeiten, d.h. zum Werfen mit Kot, gesteigert habe. Um allen weitern Anstoß zu vermeiden, fuhr[69] nun Ries erst mit mir zu meiner Wohnung, um die rote mit einer schwarzen Weste zu vertauschen.

Nachdem ich von den Direktoren der Philharmonischen Gesellschaft, deren einige Deutsch, andere Französisch sprachen, freundlich bewillkommnet war, begann die Beratung über das Programm für das erste Konzert. Ich wurde aufgefordert, in demselben zweimal Solo zu spielen und die Direktion an der ersten Violine zu übernehmen. Ich erwiderte, daß ich zu dem ersten zwar bereit sei, aber bitten müsse, mich in einem der spätern Konzerte dirigieren zu lassen, da mein Solospiel zu sehr darunter leiden würde, wenn man mir beides am selben Abend zumute. So klar dies von einigen Herren, die selber Solospieler waren, erkannt wurde, so veranlaßte es doch erst eine lange und lebhafte Diskussion, bis es zugestanden wurde, weil es von dem dort Herkömmlichen abwich. Größern Anstoß erregte noch mein Verlangen, bei diesem ersten Auftreten nur eigene Kompositionen vortragen zu wollen. Die Philharmonische Gesellschaft hatte nämlich, um die seichten und gehaltlosen Virtuosenkonzerte von ihren Programmen entfernt zu halten, das Gesetz gemacht, daß mit Ausnahme der Mozartschen und Beethovenschen Klavierkonzerte keine Konzerte oder ähnliche Musikstücke gespielt werden dürften, sondern der Solospieler nur das vorzutragen habe, was sie wählen werde. Nachdem jedoch Herr Ries die Diskussion englisch, also mir unverständlich, fortgesetzt und den Herren versichert hatte, daß meine Violinkonzerte in Deutschland den von ihnen von dem Verbot ausgenommenen an die Seite gesetzt würden, gab man auch dieses nach. Ich trat daher im ersten Philharmonischen Konzerte zunächst mit meiner Gesangsszene und im zweiten Teil desselben mit meinem Soloquartett in E auf und fand den allgemeinsten Beifall. Als Komponisten gewährte es mir besondere Genugtuung, daß nun die Direktoren sämtlich dem Ausspruche des Herrn Ries beitraten, und als Geiger machte es mir große Freude, daß der alte Viotti, der von jeher mein Vorbild war und in der Jugend mein Lehrer werden sollte, sich unter den Zuhörern befand und mir auch viel Lobendes über mein Spiel sagte.

Da so mein erstes Auftreten in London glücklich überstanden war, verwandte ich die nächsten Tage dazu, meine Empfehlungsbriefe abzugeben. Dies war für mich, der ich kein Englisch verstand, eine sauere Arbeit und brachte mich oft in Verlegenheit. Auch hatte mir niemand gesagt, daß man sich dort an den verschlossenen Haustüren durch Klopfen, und als Gentleman durch starkes, schnell wiederholtes Klopfen anmelden müsse; ich zog daher nach deutscher Weise ganz bescheiden[70] die Schelle, welche dort nur von Leuten, die Aufträge in der Küche haben, benutzt wird, und wußte es mir daher auch nicht zu erklären, daß mich die Öffnenden stets mit Erstaunen betrachteten und nicht begreifen wollten, daß ich bei der Herrschaft angemeldet sein wolle. Da nun die, denen mein Besuch galt, oft ebensowenig als ihre Diener Deutsch oder Französisch verstanden, so gab es verlegene Szenen. Eine erheiternde, für mich recht ergötzliche hatte ich dagegen bei Rothschild, dem ich einen Empfehlungsbrief von dessen Bruder in Frankfurt und einen Kreditbrief von Herrn Speyer zu überbringen hatte. Nachdem Rothschild mir beide Briefe abgenommen und flüchtig überblickt hatte, sagte er zu mir in herablassendem Tone: »Ich lese eben (auf die ›Times‹ deutend), daß Sie Ihre Sachen ganz gut gemacht haben. Ich verstehe aber nichts von Musik; meine Musik ist dies (auf die Geldtasche schlagend), die versteht man an der Börse!« worauf er seinen Witz laut belachte. Dann rief er, ohne mich zum Sitzen zu nötigen, einen Kommis herbei, gab ihm den Kreditbrief und sagte: »Zahlen Sie dem Herrn sein Geld aus.« Hierauf winkte er mit dem Kopfe, und die Audienz war zu Ende. Doch als ich bereits in der Tür war, rief er mir noch nach: »Sie können auch einmal zum Essen zu mir kommen, draußen auf mein Landgut!« Einige Tage nachher schickte auch wirklich Madame Rothschild und ließ zur Tafel einladen. Ich ging aber nicht hin, obgleich sie die Aufforderung noch einmal wiederholte. Ohne Nutzen war jedoch die Empfehlung an das Rothschildsche Haus doch nicht, denn zu meinem Benefizkonzerte wurde von ihm eine Loge genommen.

Da ich mich sogleich nach unserer Ankunft in London zu meinem öffentlichen Auftreten vorbereiten mußte und meine Frau mit der häuslichen Einrichtung beschäftigt war, so hatten wir es leider versäumt, den Eltern in Gandersheim alsbald Nachricht von unserm Eintreffen zu geben, und damit bis nach dem Philharmonischen Konzerte gezögert. Dadurch wurde den alten Leuten ein Schrecken bereitet, von dem sie sich lange nicht erholen konnten. Das Schiff, mit dem wir am Tage unserer Ankunft in Calais überzufahren willens waren, und für welches ich bereits Billetts gelöst hatte, die ich dann, weil die See gar zu stürmisch war, für den folgenden Tag umschreiben ließ, war nämlich ganz aus dem Kanale verschlagen worden und wurde für verloren gehalten, bis es sich endlich an der spanischen Küste wiederfand. Ein französisches Blatt hatte unter seinen Passagieren irrtümlich auch uns aufgeführt. Was war daher natürlicher, als daß die französischen Blätter bald sämtlich meldeten: »Das Spohrsche Künstlerpaar ist bei der Überfahrt nach England verunglückt!« Bald war dies auch in deutschen Zeitungen,[71] u.a. auch in der Dorfzeitung, die im elterlichen Hause gehalten wurde, zu lesen. Unglücklicherweise kam der Mutter, die sich bereits wegen des langen Ausbleibens von Nachrichten aus England beunruhigt hatte, das verhängnisvolle Blatt zuerst zu Gesicht. Ein Aufschrei des Entsetzens und eine augenblickliche Ohnmacht waren die Folge davon. Das ganze Haus lief zusammen, und nachdem die Mutter endlich wieder zur Besinnung gekommen war, begann erst recht ein allgemeines Jammern und Klagen! Meine Schwester faßte sich zuerst wieder und gab zu bedenken, wie oft Zeitungsnachrichten falsch seien! Auch bat sie, den Kindern, die eben aus der Schule kamen, nichts davon merken zu lassen, was allgemein versprochen wurde. Doch konnte sich die Mutter nicht enthalten, die vermeintlichen Waisen mit außergewöhnlicher Zärtlichkeit zu umarmen. Dieses sowie die verweinten Augen setzten die Kinder nicht wenig in Erstaunen, und als sie auf ihre Fragen keine Antwort erhielten und niemand sich zum Mittagessen niedersetzen wollte, fingen auch sie an zu weinen, ohne zu wissen, warum. Der eintretende Briefträger machte endlich der peinlichen Szene ein Ende. Alle sprangen freudig auf und hofften einen Brief aus England zu sehen. Doch war die Freude nur kurz; denn als sie das Postzeichen »Frankfurt« und die Hand Speyers auf der Adresse erkannten, glaubten sie nun nicht anders, als die Bestätigung der unglücklichen Zeitungsnachricht zu lesen. Niemand hatte daher den Mut, den Brief zu öffnen, bis endlich meine Schwester sich dazu ermannte. Kaum hatte sie einen Blick hineingeworfen, als sie freudig ausrief: »Sie sind glücklich angekommen!« und den Brief nun dem Vater reichte, der ihn unter großer Aufregung vorlas. Speyer schrieb, daß ihm soeben vom Rothschildschen Hause in London die Anzeige gemacht sei, daß ich mir dort habe Geld auszahlen lassen, daß folglich die Zeitungsnachricht vom Untergange des Spohrschen Ehepaares eine falsche sei, was er sogleich zur Beruhigung der Eltern hiermit anzeige. Nun brach allgemeiner Jubel aus, und das bisher verschmähete Essen wurde zum wahren Festmahle. Nach demselben setzte sich der Vater aber sogleich an den Schreibtisch, um Herrn Speyer für seine Fürsorge zu danken und dem Redakteur der Dorfzeitung den Kopf zu waschen, daß er durch leichtsinnige Aufnahme einer unverbürgten Nachricht den Beteiligten so großen Kummer verursacht habe. Einen Tag nachher traf denn auch mein Brief von London ein und vermehrte durch seine guten Nachrichten die Freude der Familie.

Im Hause des Herrn Ries hatte ich auch die Bekanntschaft des Herrn Erard, dem Chef des Londoner Hauses frères Erard, gemacht und in Begleitung meiner Frau bereits das Magazin von fertigen Harfen besucht.[72]

Wir konnten uns jedoch nicht entschließen, sogleich eine derselben auszuwählen, da Dorette erst erproben mußte, welche Größe ihr am meisten zusagen würde, und ob sie sich überhaupt an den neuen Mechanismus werde gewöhnen können. Dieser Verlegenheit machte Herr Erard dadurch ein Ende, daß er sich freundlichst erbot, ihr eine Harfe nach ihrer Auswahl für die Dauer des Londoner Aufenthaltes zu leihen, die sie dann, wenn sie ihr nicht zusage, gegen eine andere vertauschen oder auch ganz zurückgeben könne. Dies nahm sie mit Dank an und begann nun sogleich, sich auf dem neuen Instrumente einzuüben. Es wollte ihr dies aber anfangs gar nicht recht gelingen, denn erstlich war die neue Harfe, obgleich vom kleinsten Format, doch noch um ein bedeutendes größer sowie auch stärker bezogen als ihre eigene und verlangte daher viel mehr Kraftanstrengung, und zweitens wurde es ihr sehr schwer, sich an den neuen Mechanismus à double mouvement zu gewöhnen, da sie den einfachen von Kindheit an geübt hatte. Sie sah daher bald ein, daß sie auf dieser Harfe erst nach Monaten werde öffentlich spielen können, und ich beschloß deshalb, sie nur einmal in meinem Benefizkonzert auftreten zu lassen, um diesem dadurch einen besondern Reiz zu geben. Unterdessen war nun auch die Reihe an mich gekommen, eins der Philharmonischen Konzerte zu dirigieren, und ich hatte damit nicht weniger Aufsehen erregt als mit meinem Solospiel. Es war damals dort noch gebräuchlich, daß bei Symphonien und Ouvertüren der Pianist die Partitur vor sich hatte, aber nicht etwa daraus dirigierte, sondern nur nachlas und nach Belieben mitspielte, was, wenn es gehört wurde, einen sehr schlechten Effekt machte. Der eigentliche Direktor war der Vorgeiger, der die Tempi angab und dann und wann, wenn das Orchester zu wanken begann, den Takt mit dem Violinbogen gab. Ein so zahlreiches und weit von einander stehendes Orchester wie das Philharmonische konnte aber bei solcher Direktion unmöglich genau zusammengehen, und trotz der Trefflichkeit der einzelnen Mitglieder war das Ensemble doch viel schlechter, als man es in Deutschland gewohnt war. Ich hatte mir daher vorgenommen, wenn die Reihe zu dirigieren an mich käme, einen Versuch zu wagen, diesem Übelstande abzuhelfen. Zum Glück war an dem Tage, wo ich dirigierte, Herr Ries am Piano, und dieser verstand sich gern dazu, mir die Partitur zu überlassen und ganz davon zu bleiben. Ich stellte mich nun mit derselben an ein besonderes Pult vor das Orchester, zog mein Taktierstäbchen aus der Tasche und gab das Zeichen zum Anfangen. Ganz erschrocken über eine solche Neuerung, wollte ein Teil der Herren Direktoren dagegen protestieren; doch als ich sie bat, doch wenigstens einen Versuch zu gestatten,[73] beruhigten sie sich. Die Symphonien und Ouvertüren, welche probiert werden sollten, waren mir sehr bekannt und in Deutschland bereits von mir öfters dirigiert worden. Ich konnte daher nicht nur die Tempi sehr entschieden angeben, sondern auch den Blas- und Blechinstrumenten alle Eintritte andeuten, was ihnen eine dort nicht gekannte Sicherheit gewährte. Auch nahm ich mir die Freiheit, wenn mir die Ausführung nicht genügte, aufzuhören und den Herren sehr höflich, aber ernst Bemerkungen über die Vortragsweise zu machen, die Ries auf meine Bitte dem Orchester verdolmetschte. Hierdurch zu außergewöhnlicher Aufmerksamkeit veranlaßt und durch das sichtbare Taktgeben mit Sicherheit geleitet, spielten alle mit einem Feuer und einer Genauigkeit, wie man es bis dahin von ihnen noch nicht gehört hatte. Durch diesen Erfolg überrascht und begeistert, gab das Orchester auch so gleich nach dem ersten Satze der Symphonie seine allgemeine Billigung der neuen Direktionsweise laut zu erkennen und beseitigte dadurch alle weitere Opposition von Seiten der Direktoren. Auch bei den Gesangsachen, deren Direktion ich auf Bitte des Herrn Ries übernahm, insbesondere beim Rezitativ, bewährte sich das Taktieren mit dem Stäbchen, nachdem ich die Erklärung meiner Taktzeichen vorausgeschickt hatte, vollkommen, und die Sänger gaben mir über die Genauigkeit, mit der ihnen nun das Orchester folgte, wiederholt ihre Freude zu erkennen.

Der Erfolg am Abend war noch glänzender, als ich ihn gehofft hatte. Zwar stutzten anfangs die Zuhörer über die Neuerung und steckten die Köpfe zusammen; als aber die Musik begann und das Orchester die wohlbekannte Symphonie mit ungewöhnlicher Kraft und Präzision exekutierte, gab sich schon nach dem ersten Satz die allgemeine Zustimmung durch ein lang anhaltendes Beifallklatschen zu erkennen. Der Sieg des Taktierstäbchens war entschieden, und man sah bei Symphonien und Ouvertüren von da an niemand mehr am Piano sitzen. – An diesem Abende wurde auch die Konzertouvertüre, die ich vor meinem Abgange von Frankfurt komponiert hatte, zum erstenmal aufgeführt. Da sie sehr gefiel, so nahm sie die Philharmonische Gesellschaft als die Komposition an, die ich ihr, meinem Kontrakte gemäß, als Eigentum zu überlassen hatte. Ich behielt keine Abschrift davon und vergaß sie bald gänzlich, so daß ich einige Jahre später bei der Verfertigung eines thematischen Verzeichnisses meiner Kompositionen mich nicht mehr auf den Anfang besinnen konnte, weshalb das Thema derselben im Verzeichnisse fehlt.[74]

Bei der Abgabe meiner Briefe in London sowie auch bei andern Gelegenheiten hatte ich so sehr das Bedürfnis gefühlt, jemanden zu haben, der mir als Dolmetscher dienen könnte, daß ich mich fortwährend nach einem Begleiter umsah, der Deutsch und Englisch verstehe, bis Herr Ries sich endlich besann, daß ein alter Diener des verstorbenen Salomon, namens Johanning, diesen Platz wohl auszufüllen imstande sein werde. Zwar hatte er sich bereits zur Ruhe gesetzt und als Erbe seines verstorbenen Herrn eine kleine ländliche Besitzung in der Nähe von London angekauft. Ries hoffte indessen, daß der noch ganz rüstige Alte trotzdem die Stelle annehmen werde, weshalb er zur Stadt zitiert und ihm von mir der Antrag gestellt wurde. Als er erfuhr, daß er einem Deutschen, zumal einem Musiker und noch dazu einem Geiger, wie sein verstorbener Herr gewesen war, dienen solle, war er dazu sogleich bereit und überließ es sogar meiner Bestimmung, was ich ihm nach Ablauf der Saison als Honorar bewilligen würde. Er kam von nun an jeden Morgen zur Stadt, verdolmetschte zuerst die Aufträge meiner Frau an die Hauswirtin in Bezug auf die Küche und begleitete mich dann auf meinen Wegen. Sein Deutsch hatte er aber bei dem langen Aufenthalte in London zum Teil vergessen, und sein Englisch mochte wohl auch nicht klassisch sein; denn es gab bei seinen Verdolmetschungen häufige Mißverständnisse. Im übrigen war er eine gute, treue Seele und zeigte bald für mich und meine Frau eine große Anhänglichkeit. Es wird noch öfter von ihm die Rede sein.

Nachdem ich nun mit weniger Beschwerde als früher noch den Rest meiner zahlreichen Empfehlungsschreiben abgegeben hatte, fand ich auch wieder Zeit und Ruhe zu neuen Kompositionen. Zuerst schrieb ich eine Symphonie (die zweite D-moll, Op. 49) und führte sie in einem der Philharmonischen Konzerte, welches ich zu dirigieren hatte, den 10. April 1820 zum erstenmal auf. Sie fand schon in der Probe sowohl beim Orchester, wie auch bei den zahlreich anwesenden Zuhörern großen Beifall, erregte aber am Abende bei der Aufführung wahren Enthusiasmus! Einen Teil des glänzenden Erfolges verdankte ich den zahlreichen und überaus trefflichen Saiteninstrumenten des Orchesters, denen ich in dieser Komposition besonders Gelegenheit gegeben hatte, ihre Virtuosität in reinem und präzisem Zusammenspiele zu zeigen. In der Tat habe ich in Bezug auf die Streichinstrumente diese Symphonie nie wieder so gut wie an jenem Abende gehört. Alle Blätter[75] Londons brachten am andern Morgen Berichte über die neue, in ihrer Stadt komponierte Symphonie und überboten sich in Lobeserhebungen über dieselbe. Gleich günstige Berichte über mein Spiel bei jedesmaligem Auftreten verbreiteten meinen Ruf bald über die ganze Stadt, und es fanden sich daher leicht Schüler, die von mir im Violinspiel unterrichtet, und Damen, die am Piano begleitet sein wollten. Sobald sie sich bereit erklärten, das von mir festgesetzte Honorar von einer Guinee für die Stunde zu entrichten, so nahm ich sie ohne weiteres an, weil ich es meiner Familie schuldig zu sein glaubte, das Glück, das ich als Künstler in London machte, nun auch zum möglichst großen Erwerb auszubeuten. So lief und fuhr ich denn, nachdem ich vorher einige Stunden zu Hause komponiert oder mit meiner Frau musiziert hatte, den ganzen Tag im großen London umher und ließ es mir in der Tat recht sauer werden; denn die meisten meiner Schüler waren ohne Talent und Fleiß und ließen sich nur von mir unterrichten, um sagen zu können, sie seien Schüler von Spohr. Ich erinnere mich jedoch mit Vergnügen an verschiedene Originale, die mich durch ihre Sonderbarkeiten erheiterten und mir dadurch die saure Arbeit einigermaßen erleichterten. Das eine war ein alter, pensionierter General, der sich aber stets in Uniform, mit allen Orden und in höchst militärischer Haltung präsentierte. Er kam ausnahmsweise zu mir ins Haus, verlangte aber demohnerachtet, nicht länger als Dreiviertelstunden zu spielen, da nach dortiger Sitte eine Viertelstunde für den Weg abgerechnet wird. Er kam jeden Morgen, die Sonntage ausgenommen, präzis zwölf Uhr in seiner alten Staatskarosse angefahren, ließ durch einen der galonierten und gepuderten Bedienten den Geigenkasten heraufbringen und setzte sich dann nach einem stummen Gruße sogleich an sein Pult. Vorher zog er aber seine Uhr heraus, um nachzusehen, wann angefangen wurde, und legte diese dann neben sich. Er brachte leichte Duetten mit, größtenteils von Pleyel, wozu ich die zweite Violine spielte. Obgleich nun mancherlei am Spiel des Schülers zu erinnern war, so sah ich doch bald, daß es diesem darum nicht zu tun war. Ich begnügte mich daher, meine Stimme der des alten Herrn möglichst genau anzupassen, und so spielten wir in bester Eintracht ein Duett nach dem andern. Sobald wir aber drei Viertelstunden musiziert hatten, hörte der General mitten im Musikstück auf, zog aus seiner Westentasche eine Pfundnote, in die ein Schilling gewickelt war, und legte diese auf den Tisch. Dann nahm er seine Uhr und empfahl sich ebenso stumm, wie er gekommen war.[76]

Das andere Original war eine Dame, der ich am Piano akkompagnierte. Sie war eine leidenschaftliche Verehrerin von Beethoven, wogegen ich nichts einzuwenden fand, hatte aber auch die Grille, durchaus keine andere Musik als die ihres Lieblings spielen zu wollen, wogegen ich wiewohl ohne Erfolg ankämpfte. Sie besaß sämtliche Klavierkompositionen Beethovens sowie dessen Orchesterwerke in Klavierarrangements. Auch war ihr Zimmer mit allen Portraits von ihm, die sie hatte auftreiben können, geschmückt. Da diese sich nun untereinander sehr unähnlich sahen, so verlangte sie von mir zu wissen, welches ihm am meisten gliche. Auch besaß sie einige Reliquien von ihm, die ihr reisende Engländer aus Wien mitgebracht hatten, unter anderem einen Knopf von seinem Schlafrock und ein Stückchen Notenpapier mit einigen Federproben und Tintenklecksen von seiner Hand. Als sie erfuhr, daß ich drei Jahr in vertrautem Umgange mit ihm gelebt hatte, stieg ich sichtlich in ihrer Achtung, und sie hatte mich nun über so vieles zu befragen, daß es an manchen Tagen kaum zum Spielen kam. Sie sprach ziemlich geläufig Französisch und radebrechte sogar einige Worte Deutsch. Auch ihr Klavierspiel war gar nicht übel, so daß es mir Vergnügen machte, die Sonaten für Piano und Violine mit ihr zu spielen. Als sie später aber auch die Trios auflegte und ohne Violoncell mit mir spielte, dann sogar die Klavierkonzerte, wobei außer der ersten Orchestervioline, die ich übernahm, alles andere wegblieb, so wurde es mir doch klar, daß ihr Enthusiasmus für Beethoven nur ein gemachter war und ihr die Einsicht von der Vorzüglichkeit seiner Kompositionen völlig abging.

Einen dritten Sonderling lernte ich auf folgende Weise kennen. Eines Morgens brachte ein Diener in Livree einen Brief, den mir mein alter Johanning etwa folgendermaßen übersetzte: »Mr. Spohr wird eingeladen, sich präzis 4 Uhr im Hause des Unterzeichneten einzufinden.« Da ich die Unterschrift nicht kannte, von dem Diener auch nicht erfahren konnte, wozu ich zitiert wurde, so gab ich ebenso lakonisch, wie der Brief abgefaßt war, die Antwort: »Ich habe um die genannte Zeit Geschäfte und kann nicht kommen.« Am andern Morgen erschien der Diener mit einem zweiten, viel höflichern Schreiben: »Mr. Spohr wird gebeten, dem Unterzeichneten die Ehre seines Besuches zu gönnen und die Zeit dazu selbst zu bestimmen.« Zugleich hatte der Diener den Auftrag, den Wagen seines Herrn anzutragen, und da ich unterdessen in Erfahrung gebracht, daß der Briefsteller ein berühmter Arzt sei, der häufig in Konzerten gesehen werde und sich besonders für Violinvorträge interessiere, so trug ich kein Bedenken mehr, zu ihm zu gehen,[77] bestimmte dem Diener die Zeit und wurde dann in der Equipage des Doktors abgeholt. Ein alter, freundlicher Herr mit weißem Haare empfing mich schon auf der Treppe; aber nun entdeckte es sich leider, daß wir uns nicht verständigen konnten, denn er sprach weder Deutsch noch Französisch. Wir standen einander verlegen gegenüber, bis er mich am Arm nahm und in ein großes Zimmer führte, an dessen Wänden ich eine Menge Geigen aufgehängt fand. Andere waren aus dem Kasten genommen und auf den Tischen ausgebreitet. Der Doktor überreichte mir einen Violinbogen und deutete auf die Instrumente. Ich sah nun, daß ich ein Urteil über den Wert der Geigen abgeben sollte, und begann daher sogleich, eine nach der andern zu probieren und sie ihrer Güte nach zu ordnen. Es war dies keine kleine Arbeit; denn es waren ihrer viele, und der alte Herr holte sie sämtlich herbei, ohne eine zu vergessen. Als ich nun nach Verlauf von etwa einer Stunde die sechs besten herausgefunden hatte und diese noch abwechselnd spielte, um die allerbeste zu ermitteln, bemerkte ich, daß der Doktor auf eine derselben besonders zärtliche Blicke warf und sein Gesicht sich ganz verklärte, sooft ich diese anstrich. Ich machte daher dem guten, alten Manne gern die Freude, dieses Instrument als den Matador der ganzen Sammlung zu bezeichnen. Ganz entzückt über diesen Ausspruch, holte er nun auch noch eine Viole d'amour herbei und begann auf diesem längst außer Gebrauch gekommenen Instrumente zu phantasieren. Ich hörte mit Vergnügen zu, weil das Instrument mir noch völlig unbekannt war und der Doktor gar nicht schlecht spielte. So endete der Besuch zu beiderseitiger Zufriedenheit, und schon hatte ich meinen Hut ergriffen, um mich zu empfehlen, als mir der Alte mit freundlichem Gesicht und tiefem Bücklinge noch eine Fünfpfundnote überreichte. Erstaunt betrachtete ich das Geld und den Geber und wußte anfangs nicht, was es zu bedeuten habe; als mir aber plötzlich einfiel, daß es die Bezahlung für das Geigenprobieren sein solle, schüttelte ich lächelnd mit dem Kopfe, legte das Papier auf den Tisch, drückte dem Doktor die Hand und eilte die Treppe hinab. Er folgte mir bis auf die Straße, half mir in den Wagen hinein und sprach dann in sichtlicher Erregung einige Worte zum Kutscher. Diesem war das so aufgefallen, daß er es dem alten Johanning, der an den Wagen kam, um den Schlag zu öffnen, sogleich wieder erzählt hatte. Er hatte nämlich gesagt: »Da fährst Du einen Deutschen, der ein echter Gentleman ist; bringe ihn mir unversehrt in seine Wohnung, das rate ich Dir!« – Als ich einige Monate später mein Benefizkonzert gab, ließ der Doktor ein Billett holen und schickte dafür eine Zehnpfundnote.[78]

Dorette hatte sich unterdessen mit ausdauerndem Fleiße auf der neuen Harfe eingespielt, sich dabei aber wegen des größern Umfangs und stärkern Saitenbezugs derselben übermäßig angestrengt, so daß sie sich recht erschöpft und leidend fühlte. Ich wußte aus frühern Erfahrungen, daß nichts ihre Nerven so schnell wieder zu stärken vermöge als häufiger Genuß der freien Luft. Ich benutzte daher jeden Sonnenblick der ersten Frühlingstage zu kleinen Spaziergängen mit ihr in den Regentspark, der unserer Wohnung (Charlotte-Street) sehr nahe lag. An Sonntagen, wo alle Musik in London verstummen muß und wir daher, ohne Ärgernis zu geben, nicht einmal zu Haus musizieren konnten, wurden größere Ausflüge nach Hampstead oder in die entferntern Parks gemacht. Unsere Begleiter und Führer dabei waren abwechselnd der jüngere Ries und ein alter freundlicher Herr, der Instrumentenmacher Stumpff. Ich hatte bald die Freude zu sehen, daß meine Frau durch die Einwirkung des englischen milden Frühlings wieder neuen Lebensmut gewann; doch blieb ich meinem frühern Vorsatze, sie nur einmal in meinem eigenen Konzerte auftreten zu lassen, getreu und lehnte mehrere Anträge, die ihr gemacht wurden, standhaft ab. Ich selbst spielte aber in allen Konzerten, wo man das von mir angesetzte Honorar auszahlte, und da dieses nach englischen Begriffen nicht übermäßig hoch war, so wurde ich sehr oft aufgefordert und sah meinen Namen fast auf allen Konzertprogrammen der Saison figurieren. Doch konnte ich mich nie entschließen, auch in Privatgesellschaften für Geld zu spielen, da mir die Art und Weise, wie man in solchen die Künstler damals behandelte, gar zu unwürdig vorkam. Sie wurden nämlich nicht zur Gesellschaft gezogen, sondern mußten in einem abgesonderten Zimmer des Moments harren, wo sie zu ihren Musikvorträgen in das Gesellschaftszimmer zitiert wurden, und hatten dieses nach beendigten Vorträgen sogleich wieder zu verlassen. Meine Frau und ich waren selbst einmal Zeugen solch einer unwürdigen Behandlung der ersten und berühmtesten Künstler Londons. Wir waren nämlich an die Brüder des Königs, die Herzöge von Sussex und Clarence, empfohlen, und da letzterer mit einer Deutschen, einer Prinzessin von Meiningen, vermählt war, so machten wir bei dieser eine gemeinschaftliche Visite. Das herzogliche Paar empfing uns sehr freundlich und lud uns zu einer Musikpartie, die in einigen Tagen sein sollte, und zur Mitwirkung bei derselben ein! Ich sann nun darüber nach, wie ich uns der mir verhaßten Absonderung von der Gesellschaft entziehen könne, und beschloß, wenn mir dies nicht gelänge, sogleich wieder nach Haus zurückzukehren. Als wir daher das herzogliche Schloß betraten und ein Diener uns das[79] Zimmer öffnen wollte, wo die übrigen Musiker versammelt waren, ließ ich diesem durch Johanning mein Violinkästchen geben und schritt, meine Frau am Arm, sogleich die Treppe hinauf, ehe der Diener Zeit gewann, sich von seinem Erstaunen zu erholen. Vor dem Gesellschaftszimmer angelangt, nannte ich dem dort postierten Diener meinen Namen, und als dieser zögerte, zu öffnen, machte ich Miene, es selbst zu tun. Darauf riß der Diener jedoch sogleich die Tür auf und rief die Namen der Ankommenden hinein. Die Herzogin, eingedenk der deutschen Sitte, erhob sich sogleich von ihrem Platze, kam Doretten einige Schritte entgegen und führte sie zum Damenkreise. Auch der Herzog bewillkommnete mich nun mit einigen freundlichen Worten und stellte mich den umstehenden Herren vor. So glaubte ich nun alles glücklich überwunden zu haben; doch bald bemerkte ich, daß die Dienerschaft mich noch immer nicht als zur Gesellschaft gehörig betrachten müsse; denn sie ging mit dem Teebrett und andern Erfrischungen stets an mir vorüber, ohne mir etwas anzubieten. Endlich mochte der Herzog dies wohl bemerkt haben; denn ich sah, wie er dem Haushofmeister winkte und ihm einige Worte ins Ohr flüsterte. Infolgedessen wurden mir nun ebenfalls die Erfrischungen präsentiert. Als das Konzert beginnen sollte, ließ der Haushofmeister die eingeladenen Künstler nach der Folge, wie das Programm sie nannte, heraufholen. Sie erschienen mit dem Notenblatt oder dem Instrument in der Hand, begrüßten die Gesellschaft mit einer tiefen Verbeugung, die, soviel ich bemerkte, von niemanden als von der Herzogin erwidert wurde, und begannen ihre Vorträge. Es war die Elite der ausgezeichnetsten Sänger und Virtuosen Londons, und ihre Leistungen waren fast alle entzückend schön. Dies schien das vornehme Auditorium aber nicht zu fühlen; denn die Konversation riß keinen Augenblick ab. Nur als eine sehr beliebte Sängerin auftrat, wurde es etwas ruhiger, und man hörte einige leise Bravos, für die sie sich sogleich durch tiefe Verbeugungen bedankte. Ich ärgerte mich sehr über die Entwürdigung der Kunst und noch mehr über die Künstler, die sich solche Behandlung gefallen ließen, und hatte die größte Lust, gar nicht zu spielen. Ich zögerte daher, als die Reihe an mich kam, absichtlich so lange, bis der Herzog, wahrscheinlich auf einen Wink seiner Gemahlin, mich selbst zum Spielen aufforderte. Nun erst ließ ich durch einen Diener mein Violinkästchen heraufholen und begann dann meinen Vortrag, ohne vorher die übliche Verbeugung zu machen. Alle diese Umstände mochten die Aufmerksamkeit der Gesellschaft erregt haben; denn es herrschte während meines Spiels eine große Stille im Saal. Als ich geendet hatte, applaudierte das herzogliche Paar, und[80] die Gäste stimmten mit ein. Nun erst machte ich meine Verbeugung. Bald darauf schloß das Konzert, und die Musiker zogen sich zurück. Hatte es nun schon Sensation erregt, daß wir uns der Gesellschaft angeschlossen, so steigerte sich diese doch noch um vieles, als man sah, daß wir auch zum Souper dablieben und bei demselben von den herzoglichen Wirten mit großer Aufmerksamkeit behandelt wurden. Wir hatten dieses, nach damaligen englischen Begriffen Unerhörte wohl hauptsächlich dem Umstande zu danken, daß uns die Herzogin schon im elterlichen Hause gekannt und Zeuge der guten Aufnahme gewesen war, die wir zu der Zeit, wo wir noch in Gotha wohnten, wiederholt am Meininger Hofe gefunden hatten. Auch der Herzog von Sussex, dem ich eine Empfehlung vom Herzog von Cambridge, dem damaligen Regenten von Hannover, überbracht hatte, zeichnete mich sehr aus und unterhielt sich viel mit mir. Infolge eines Gespräches über englischen Volksgesang ließ der Herzog sogar eine Guitarre holen und sang mir einige englische und irländische Volkslieder vor, was mich später auf den Gedanken brachte, einige der beliebtesten derselben als Potpourri für mein Instrument zu bearbeiten und in meinem Konzerte vorzutragen. Als sich dann lange nach Mitternacht die Gesellschaft trennte, kehrten wir sehr befriedigt über den Erfolg unseres Wagnisses und den Sieg, den wir über das Vorurteil davongetragen hatten, in unsre Wohnung zurück. Wohl ist es möglich, daß dieser Vorfall, der in der Künstlerwelt Londons große Sensation machte, mit dazu beigetragen hat, daß 20 Jahr später, als ich England zum zweitenmal besuchte, keine Spur mehr dieser entwürdigenden Stellung der Künstler in der Gesellschaft zu bemerken war.


Unter denen, die mich aufforderten, in ihren Konzerten Solo zu spielen, war auch Sir George Smart, einer der Direktoren der Philharmonischen Gesellschaft. Er gab während der Saison eine Reihe von Subskriptionskonzerten, die er geistliche nannte, in denen aber auch viel weltliche Musik gemacht wurde. Ich spielte in zweien derselben, wofür Sir Smart das Arrangement von meinem Benefizkonzerte übernahm, eine Arbeit, die schon für einen Einheimischen, damit Vertrauten sehr umfangreich war, die mir aber, hätte ich sie selbst übernehmen wollen, vielleicht sechs Wochen meiner Zeit, die ich doch zum Erwerb zu benutzen[81] wußte, gekostet haben würde. Mein Konzert fand am 8. Juni statt und war eins der glänzendsten und besuchtesten der ganzen Saison. Fast alle Personen, an die wir adressiert waren, unter ihnen auch die Herzöge von Sussex und Clarence, hatten Logen oder Sperrsitze dazu genommen, und mehrere dieser reichen und vornehmen Herren schickten bedeutende Honorare dafür ein. Auch ein großer Teil der Abonnenten der Philharmonischen Gesellschaft behielt seine Plätze, und da der niedrigste Preis eines Billetts eine halbe Guinee betrug und der Saal wohl an tausend Menschen fassen konnte, so war die Einnahme eine sehr bedeutende. Dazu kam noch, daß die Unkosten, die in London enorm hoch sind, bei diesem Konzerte dadurch sehr ermäßigt wurden, daß ein Teil der Orchestermitglieder aus Anhänglichkeit an mich auf Bezahlung verzichtete und vermöge meines Vertrags mit der Philharmonischen Gesellschaft das Lokal mich nichts kostete. Dagegen mußten sämtliche Sänger bezahlt werden, und ich erinnere mich noch genau, daß ich der Mrs. Salmon, der beliebtesten der damaligen Londoner Sängerinnen, ohne deren Mitwirkung mein Konzert kein rechtes Ansehen gehabt haben würde, für eine einzige Arie ein Honorar von dreißig Pfund Sterling entrichten mußte, wobei sie noch die Bedingung stellte, daß sie erst im zweiten Teile gegen das Ende des Konzertes singe, weil sie vorher in einem Konzerte der City, sechs Meilen entfernt, aufzutreten habe. Es sei hier auch einer sonderbaren Ausgabe bei den damaligen Konzerten in London erwähnt, weil sie jetzt wie so manches Absonderliche jener Zeit nicht mehr existiert. Es war nämlich Sitte, daß der Konzertgeber seine Zuhörer in der Pause zwischen dem ersten und zweiten Teile des Konzertes mit Erfrischungen bewirtete. Diese wurden in einem Nebensaal am Büfett unentgeltlich verabreicht, und man hatte deshalb sich mit dem Konditor im voraus über eine feste Summe zu verständigen, die bei meinem Konzert auf zehn Pfund akkordiert war. Bestand nun die Gesellschaft größtenteils aus der vor nehmen Welt, bei der es Sitte war, nichts zu nehmen, so machte der Konditor gute Geschäfte, war sie aber sehr gemischt und zahlreich und die Hitze groß, so kam er auch wohl bedeutend zu Schaden. Nie hat er sich aber wohl besser gestanden als bei meinem Konzert. Es fand dieses nämlich an dem Tage statt, an welchem die Königin Karoline von England aus Italien zurückkehrte und in London einzog, um sich vor dem Parlament, bei welchem sie ihr Gemahl der Untreue angeklagt hatte, zu verteidigen. Ganz London war in zwei Parteien geteilt, deren bei weitem[82] größere, vom Mittelstande bis zum Plebs herab, auf Seiten der Königin stand. Die Stadt war in ungeheurer Aufregung, und es war ein Glück für mich, daß ich die Billetts zu meinem Konzerte bereits sämtlich abgesetzt hatte, weil ich sonst durch die Ungunst des Zufalls leicht in großen Schaden hätte kommen können! Meine Konzertanzeigen an den Straßenecken waren nämlich bald von großen Plakaten überklebt, auf welchen im Namen des Volkes zur Feier des Tages eine allgemeine Illumination der Stadt angesagt wurde; auch brachte Johanning die Nachricht mit, daß das Volk drohe, in allen Häusern, wo diesem Aufrufe nicht Folge geleistet werde, die Fenster einzuwerfen. Da nun die vorhandene Polizeimannschaft sowie das wenige Militär kaum hinreichten, um die königlichen Gebäude gegen die angedrohten Exzesse des Volkes zu schützen, so mußten die Anhänger des Königs, die doch unmöglich dem Aufrufe folgten konnten, ruhig alles über sich ergehen lassen und suchten nur dadurch, daß sie ihre Fenster mit Brettern zunageln ließen, so viele von den teuern Spiegelscheiben zu retten, als es die Kürze der Zeit erlauben wollte. So wurde allenthalben und besonders in dem nahe gelegenen Portland-Place, wo der vornehme Adel wohnte, den ganzen Tag gehämmert zum großen Ergötzen der Straßenjugend, die ihren Witz und Spott nicht zurückhielt. Während wir uns zu Hause auf die Konzertvorträge vorbereiteten, wogte das Volk in großen Massen durch die Straßen und zog der Königin entgegen. Da dies nach der Richtung der City geschah, so wurde es gegen Abend in Westend ganz ruhig. Wir fanden daher, als wir um halb acht Uhr zum Konzertlokale fuhren, die Straßen fast leerer als gewöhnlich und nirgends ein Hindernis auf unserm Wege. Doch bemerkten wir allenthalben eifrige Vorbereitungen zur Illumination, damit beim Anbruch der Nacht dem Gebot des souveränen Volkes sogleich Folge geleistet werden könne. Dorette, die sich ohnehin vor dem ersten öffentlichen Auftreten mit der neuen Harfe sehr fürchtete, war in großer Spannung vor dem, was da kommen werde, und ich hatte ernstliche Besorgnis, daß die Aufregung, in der ich sie sah, sowohl ihrem Spiele als ihrer Gesundheit nachteilig sein werde. Ich suchte sie daher durch Zureden zu beruhigen, was mir auch ziemlich glückte. Der Saal füllte sich nach und nach mit Zuhörern, und das Konzert begann. Das Programm desselben kann ich hier vollständig mitteilen, da mir Sir G. Smart bei meinem letzten Besuche zu London (im Jahr 1852) ein Exemplar, wie es damals den Zuhörern bei ihrem Eintritt in den Saal überreicht wurde, geschenkt hat. Es lautet:
[83]

New Argyll Rooms

Mr. Spohr's Concert

Thursday, June 8th, 1820


Part I.


Grand Sinfonia (M.S.) Spohr


Air, Mr. T. Welsh »Revenge, revenge,

Thimotheus cries« Haendel


Grand Duetto (M.S.), Harp and Violin, Mad.

Spohr and Mr. Spohr Spohr


Aria, Miss Goodall »una voce al cor mi parla«

Clarinet obligato Mr. Willman Paer


Sestetto for Pianoforte, two Violins, Viola,

Violoncello e Contrabasso, Messrs.: Ries, Watts,

Wagstaff, R. Ashley, Lindley and Dragonetti Ries


Irish Melodies (M.S.) with Variations for the Violin,

Mr. Spohr (composed expressly for this occasion). Spohr


Part II.


Nonetto for Violin, Viola, Violoncello, Contrabasso,

Flute, Oboe, Clarinet, Horn and Bassoon, Messrs.

Spohr, Lindley, Dragonetti, Ireland, Griesbach,

Willman, Arnull and Holmes Spohr


Scena, Mrs. Salmon »Fellon, la pena avrai« Rossini


Rondo for the Violin, Mr. Spohr Spohr


Aria, Mr. Vaughan »Rendi 'l sereno« Haendel


Overture Spohr

Leader of the Band Mr. Spohr

At the Pianoforte Sir George Smart
[84]

Die neue, vom Orchester nun schon gekannte, aber doch nochmals sorgfältig durchprobierte Symphonie wurde meisterhaft exekutiert und fand womöglich noch lebhaftern Beifall als bei der ersten Aufführung. Während der folgenden Arie stimmte ich im Nebensaale meiner Frau die Harfe und sprach ihr Mut zu. Dann führte ich sie in den Saal, und wir nahmen unsere Plätze ein, um das Duett zu beginnen. Schon verbreitete sich die Stille der Erwartung, und man lauschte unsern ersten Tönen, als sich plötzlich von der Straße her ein fürchterliches Geschrei erhob, dem auch sogleich eine Kanonade von Pflastersteinen gegen die unerleuchteten Fenster des Nebensaales folgte. Bei dem Klirren der Scheiben und Kronleuchter sprangen die Damen entsetzt von ihren Plätzen auf, und es folgte eine unbeschreibliche Szene der Verwirrung und Aufregung. Man beeilte sich, die Gasbeleuchtung des Nebensaales anzuzünden, um einer zweiten Salve zuvorzukommen, und hatte auch wirklich die Freude zu sehen, daß nun das Volk, nachdem es über den Erfolg seiner Demonstration noch ein Jubelgeschrei angestimmt hatte, weiterzog und so nach und nach die frühere Ruhe wiederkehrte. Doch dauerte es lange, bis das Publikum seine Plätze im Saale wieder einnahm und sich so weit beruhigte, daß wir endlich beginnen konnten. Ich war dabei nicht ohne Besorgnis, daß der Schrecken und die lange Pause meine Frau noch mehr aufgeregt haben würde, und horchte daher in großer Spannung auf ihre ersten Akkorde; als diese aber in gewohnter Kraft ertönten, beruhigte ich mich sogleich und überließ mich nun ganz der Aufmerksamkeit auf unser Zusammenspiel. Dieses, welches in Deutschland immer so sehr gefallen hatte, verfehlte auch auf das englische Publikum seine Wirkung nicht; es steigerte sich daher der Beifall bei jedem Satze des Duettes und wollte am Schlusse gar nicht enden. Als wir höchst erfreut über diesen Erfolg abtraten, dachten wir beide nicht, daß es das letztemal gewesen war, daß Dorette Harfe gespielt hatte! Doch davon später. Von den übrigen Nummern des Programmes, bei denen ich selbst beteiligt war, freute mich besonders die gute Aufnahme, die das Nonett fand. Ich hatte es mit denselben Künstlern bereits in einem der Philharmonischen Konzerte gegeben und war damals von vielen Seiten aufgefordert worden, es in meinem eigenen Konzerte zu wiederholen. Die Genauigkeit unseres Zusammenspieles war dieses Mal noch vollendeter, und so konnte es seine Wirkung nicht verfehlen. Auch die Irländischen Lieder wurden allgemein beifällig aufgenommen. So ging denn das Konzert trotz des störenden Intermezzos zu allgemeiner Zufriedenheit zu Ende. Die Pause nach dem ersten Teil und die Promenade in den Nebensaal waren wegen[85] der Verwüstung desselben für diesmal ganz unterblieben; der Konditor hatte daher für seine zehn Pfund Sterling gar nichts zu leisten gehabt. Doch war ihm durch den Steinhagel auch einiges auf dem Büfett zertrümmert worden. – Als wir nun endlich in höchster Erschöpfung unseren Wagen erreichten, konnten wir nicht in gerader Richtung nach Haus zurückkehren, weil in der Gegend von Portland-Place gerade der Pöbel noch sein Wesen trieb. Der Kutscher mußte daher allerlei Umwege machen, und es war ein Uhr vorüber, als wir endlich vor unserer Wohnung ankamen. Wir fanden bereits das ganze Haus mit Ausnahme unserer Etage erleuchtet, und die Wirtin erwartete uns in großer Unruhe, um auch unsere Fenster mit Lichtern versehen zu können. Es war die höchste Zeit; denn schon hörte man die Volksmasse heranziehen. Da sie jedoch die ganze Charlotte-Street ihrem souveränen Willen gemäß hell erleuchtet fand, so zog sie, ohne irgend einen Exzeß zu begehen, vorüber. Die Lichter durften aber demohnerachtet noch nicht gelöscht werden, und erst nach Verlauf von einigen Stunden, als die Stadt ganz still geworden war, fanden wir endlich die nötige Ruhe.


Es folgt nun eine trübe Periode in meinem Leben, an die ich noch jetzt mit Wehmut zurückdenke. Dorette fühlte sich nämlich infolge der Anstrengung, mit der sie sich auf der neuen Harfe eingeübt hatte, und durch die wechselnden Eindrücke des Konzertabends so erschöpft und leidend, daß ich ernstlich fürchtete, sie möchte von einem dritten Anfall des Nervenfiebers heimgesucht werden. Es war daher die höchste Zeit, für ihre Zukunft einen ernsten Entschluß zu fassen. Schon nach dem zweiten Anfall in Darmstadt hatte ich sie, nachdem sie völlig wieder genesen war, zu überreden gesucht, ihrem nervenzerstörenden Instrumente zu entsagen, doch als ich bemerkte, wie sehr sie dieser Vorschlag betrübte, ihn sogleich wieder aufgegeben. Sie war zu sehr mit ganzer Seele Künstlerin und hatte das Instrument, dem sie so manchen Triumph verdankte, zu lieb gewonnen, um so leicht darauf verzichten zu können; auch war es ihr ein beglückender Gedanke gewesen, durch ihr Talent zum Erwerb beitragen zu können. Doch nun, nachdem sie sich nur zu sehr überzeugt hatte, daß ihre physische Kraft nicht ausreiche, das neue Instrument zu bewältigen, und eine Rückkehr zum alten sie auch nicht mehr befriedigen werde, nachdem sie die Vorzüge des neuen im Ton und in der Mechanik genau hatte kennen lernen, nun wurde es mir viel leichter, sie für meinen Vorschlag zu gewinnen, besonders als ich ihr vorstellte, daß sie Künstlerin bleiben und ins künftige als[86] Pianistin in meinen Konzerten, wozu sie ja die nötige Befähigung besitze, auftreten könne. Dies beruhigte sie sehr, obgleich sie sich sagen mußte, daß sie auf dem Piano solche Erfolge wie auf der Harfe, auf der ihr wenigstens in Deutschland niemand gleichkam, unmöglich erringen könne. Ich versprach ihr jedoch noch, daß ich für sie, um ihren Vorträgen den Reiz der Neuheit zu geben, brillante Konzertsätze schreiben werde, und da es mich sehr drängte, mich nun auch einmal in Klavierkompositionen zu versuchen, so machte ich mich sogleich an die Arbeit und vollendete auch noch vor der Abreise von London den ersten Satz des Klavierquintetts Op. 52. Die Harfe schickte ich nun sogleich, um sie ihr aus den Augen zu bringen, zu Herrn Erard, der sie auch, als er von mir erfuhr, daß meine Frau aus Gesundheitsrücksichten dem Instrumente ganz entsagen müsse, bereitwillig zurücknahm, ohne eine Entschädigung für den bisherigen Gebrauch annehmen zu wollen. Sie habe, so äußerte er sehr galant, nun erst wahren Wert bekommen, da eine so berühmte Künstlerin sie eingespielt und sich ihrer bei ihrem letzten öffentlichen Vortrage bedient habe. Ich machte nun von neuem mit meiner Frau tägliche Spaziergänge ins Freie und hatte bald die Freude zu bemerken, daß sie sich nach und nach von ihrer Schwäche erholte. Der Gedanke, daß sie ihre Kinder nun bald wieder sehen werde, mochte wohl mächtig da mitgewirkt haben. Auch ich sehnte mich nach den Meinigen zurück und machte daher, sobald das letzte der Philharmonischen Konzerte vorüber war, sogleich Anstalten zur Abreise.


Wie in der ersten Ausgabe wird hier der Bericht eingeschoben, den Spohr über seinen Besuch von Logiers Musikinstitut in London für die in der Allgemeinen musikalischen Zeitung veröffentlichten »Musikalischen Notizen« schrieb.


Herr Logier (ein Deutscher von Geburt, der aber seit fünfzehn Jahren in England wohnt) unterrichtet nach einer neuen, von ihm erfundenen Methode im Pianofortespiel und in der Harmonie. Was zunächst in dieser Methode auffällt, ist, daß er alle Kinder, oft dreißig bis vierzig, zu gleicher Zeit spielen läßt. Er hat zu dem Behufe drei Bände Etüden geschrieben, die alle über ganz einfache Grundthemen (von 5 Noten in jeder Hand) gebaut sind und nach und nach bis zum Schwersten fortschreiten. Während die Anfänger nur das Thema spielen, üben sich die Geübteren zu gleicher Zeit in mehr oder weniger schweren Variationen. Man sollte glauben, daß dadurch ein Durcheinander entstehen müßte, aus dem der Lehrer nichts Deutliches mehr heraushören könnte; da aber die Kinder, die dieselbe Etüde spielen, nebeneinander sitzen, so hört man, je nachdem man sich in einer Gegend des Saales befindet,[87] entweder die eine oder die andre dieser Etüden deutlich hervortreten, und so wird es dem Lehrer doch möglich, der Kinder Leistungen zu beurteilen. Auch läßt er oft die Hälfte, zuweilen alle bis auf eines aufhören, um ihre Fortschritte im einzelnen zu prüfen. In den ersten Lektionen bedient er sich seines Chiroplasts, einer Maschine, von der schon oft in diesen Blättern die Rede war, um den Kindern eine gute Haltung der Arme und der Hände anzugewöhnen. Daß dieses Instrument seinen Zweck vollkommen erfüllt und Herrn Logier, der zu gleicher Zeit auf so viele Kinder zu achten hat, großen Nutzen leistet, ist gar keine Frage; auch möchte es selbst wohl solchen Schülern anzuempfehlen sein, die zwar während der Lektion unter der beständigen Aufsicht des Lehrers sind, aber dann, sich selbst überlassen, gar zu leicht übele Angewohnheiten annehmen. Ließe sich ein ähnliches Instrument erfinden, um dem Violinspieler eine richtige Haltung der Geige und des Bogens anzugewöhnen, ich würde es sogleich anschaffen und mir dadurch bei meinen Schülern unzählige und immer wiederholte Erinnerungen ersparen können. Sobald die Kinder so weit fortgeschritten sind, daß sie die Noten und Tasten kennen, wird die Maschine erst von der einen und dann auch von der anderen Hand weggenommen, und nun lernen sie den Daumen untersetzen und Skalen spielen; aber dies alles in den Etüden selbst, mit allen Kindern zugleich und immer im strengsten Zeitmaße. Sind sie daher zu einer neuen Übung fortgeschritten, so gelingt es ihnen in der schnellen Bewegung, in der sie neben und um sich spielen hören, anfangs wohl kaum, nur einige Noten von jedem Takte herauszubringen; bald aber erobern sie deren immer mehr, und in kürzerer Zeit, als man wohl glauben sollte, geht die neue Etüde so gut als die vorhergehende. Sodann ist es sehr bemerkenswert in der Lehrmethode des Herrn Logier, daß er seine Schüler von der ersten Lektion an mit dem Klavierspiele zugleich die Harmonie lehrt. Wie dies geschieht, ist mir unbekannt; auch ist dies sein Geheimnis, dessen Mitteilung ihm von jedem der Lehrer in England, der nach seiner Methode unterrichtet, mit hundert Guineen bezahlt werden muß. Das Resultat dieser Methode ist aber bei seinen Schülern staunenswert! Kinder zwischen sieben und zehn Jahren, die noch nicht länger als vier Monate Unterricht haben, lösen die schwierigsten Aufgaben. Ich schrieb ihnen einen Dreiklang an die Tafel und bezeichnete die Tonart, in die sie nun modulieren sollten. Sogleich lief eins der kleinsten Mädchen an die Tafel, schrieb nach einigem Nachsinnen erst den bezifferten Baß und dann die oberen Stimmen hin. Diese Aufgabe wiederholte ich oft, und[88] zwar mit allerlei erschwerenden Bedingungen, ließ sie in die entferntesten Tonarten ausweichen, wo enharmonische Verwechselungen nötig wurden, und nie waren sie in Verlegenheit. Wußte sich die eine nicht zu helfen, so trat gleich eine andere hinzu, deren bezifferter Baß vielleicht wieder von einer dritten verbessert wurde; und von all ihrem Beginnen mußten sie dem Lehrer die Gründe sagen. Zuletzt schrieb ich ihnen eine einfache Oberstimme an die Tafel, wie sie mir eben einfiel, und ließ eine jede für sich auf ihren kleinen Tafeln die anderen drei Stimmen dazusetzen. Zugleich sagte ich ihnen, daß ich mir die Auflösung, die von dem Lehrer und mir als die beste anerkannt sein würde, abschreiben und als ein Andenken an sie in mein musikalisches Stammbuch aufnehmen wollte. Nun war alles voller Leben und Tätigkeit, und schon nach einigen Minuten brachte mir eins der kleinsten Mädchen, die sich schon im Spiel und bei den frühern Aufgaben ausgezeichnet hatte, ihre Tafel zur Ansicht. Allein in der Eile war ihr im dritten Takt eine Oktavenfortschreitung zwischen dem Basse und einer der Mittelstimmen entschlüpft. Kaum hatte ich sie darauf aufmerksam gemacht, als sie errötend die Tafel zurücknahm und mit Tränen in den Augen schnell den Fehler verbesserte. Da nun ihre Auflösung unstreitig den besten Baß hatte, so schrieb sie der Lehrer in mein Stammbuch, und ich gebe sie mit diplomatischer Genauigkeit wieder:


London

Die Auflösungen der andern Kinder waren mehr oder weniger gut, aber alle korrekt und die meisten in vier verschiedenen Schlüsseln niedergeschrieben.[89] Auch spielte ein jedes die seinige rein und ohne Anstoß sogleich auf dem Pianoforte. Es wäre sehr zu wünschen, daß Herrn Logiers Lehrmethode auch in Deutschland bekannt würde! Unsere Dilettanten würden dann in der Folge mit ihren oft bewunderungswürdigen technischen Fähigkeiten auch Kenntnis der Harmonie verbinden und nicht mehr wie jetzt so häufig die inkorrektesten und an Harmonie leersten Kompositonen zu ihren Lieblingen erwählen. Wie vorteilhaft dies auch auf die Künstler einwirken würde, sieht jeder leicht ein.

Als ich unsre Abreise als nahe bevorstehend meinem alten Johanning ankündigte, traten dem guten, anhänglichen Menschen die Tränen in die Augen. Er hatte uns so lieb gewonnen, daß er sogar auf jede Vergütung für die uns geleisteten Dienste Verzicht leisten wollte und sich ernstlich weigerte, den von mir für ihn bestimmten Lohn anzunehmen. Als ich ihm diesen aber aufdrang, nahm er ihn zwar, stellte aber als Bedingung noch eine Bitte, die ihm nicht abgeschlagen werden dürfe. Ich forderte ihn auf, sie zu nennen, es dauerte aber lange, bis er endlich in großer Verlegenheit herausstotterte, er bitte, daß ich und meine Frau ihm die Ehre erzeigen möchten, den Tag vor der Abreise unser letztes Diner in London bei ihm einzunehmen. Als wir ohne Zögern zusagten, verklärte sich plötzlich sein ganzes Gesicht, und er wußte nicht, wie er seine Dankbarkeit genug zu erkennen geben sollte. Am letzten Tage erschien er geputzt, wie wir ihn noch gar nicht gesehen hatten, in einem Galakleide seines verstorbenen Herrn, mit gepudertem Haar und in weißseidenen Strümpfen. Vor der Tür hielt ein viersitziger Stadtwagen, der uns nach seiner Villa bringen sollte, und in welchem wir einen uns schon bekannten Künstler, den intimsten Freund seines verstorbenen Herrn, den er ebenfalls eingeladen hatte, bereits vorfanden. Als wir eingestiegen waren, weigerte sich Johanning, den vierten Platz im Wagen einzunehmen, und meinte, das schicke sich nicht, obgleich ich ihm auseinandersetzte, er sei ja nun nicht mehr mein Diener, sondern für diesen Tag mein Wirt und Gastgeber. Er ließ sich aber nicht irre machen und nahm seinen gewöhnlichen Platz neben dem Kutscher ein. Unterwegs erzählte uns der Mitgeladene viel Rühmliches von Johanning, wie er mit unbeschreiblicher Liebe und Treue seinem Herrn zugetan gewesen sei und nach dessem Tode den größten Teil der Erbschaft dazu verwandt habe, ihm ein Denkmal in der Westminsterabtei errichten zu lassen, so daß wir uns von wahrer Hochachtung für unsern bisherigen Diener durchdrungen fühlten. Als wir angelangt[90] waren, öffnete er den Wagenschlag und führte uns in sein Besitztum ein. Es bestand in einem schmalen Häuschen mit daran stoßendem Gärtchen, alles sehr nett und reinlich. Zuerst ging er mit uns eine Treppe hoch in das Empfangszimmer und verfehlte nicht, uns alsbald auf den Schellenzug neben dem Kamin aufmerksam zu machen, den er auch sofort hell erklingen ließ, obgleich er damit keinen Diener herbeirufen konnte, da er und seine Frau ihre eigenen Diener waren. Dann machten wir einen Gang durch das Gärtchen und traten zuletzt in das Speisezimmer ein, wo für drei Personen gedeckt war. Johanning weigerte sich abermals, neben uns am Tische Platz zu nehmen, diesmal freilich aus dem triftigen Grunde, weil wir dann ohne Bedienung sein würden. Darauf holte er aus der Küche die Speisen herbei und wartete als Wirt seinen Gästen auf. Dabei sah man ihm die Freude aus den Augen leuchten. Das Diner war gut zubereitet und wurde auf elegantem Geschirre aus der Erbschaft seines Herrn serviert. Aus dieser floß wohl auch sicher der gute Hochheimer [?], den er uns vorsetzte. Das Dessert, Erdbeeren und Kirschen, hatte sein Gärtchen geliefert, was er nicht unterließ, seinen Gästen anzukündigen. Hierauf führte er uns wieder in sein Empfangszimmer, wo wir auch Mrs. Johanning, die bisher in der Küche mit der Zubereitung der Speisen beschäftigt gewesen war, in vollem Sonntagsputze antrafen. Da endlich ließ sich, wiewohl nach nochmaligem Nötigen, das gute alte Paar bewegen, mit an dem Tische Platz zu nehmen, auf dem bereits der Kaffee aufgetragen war. Johanning schwelgte nun ganz in Entzücken und war eifrig bemüht, seiner Frau die Lobeserhebungen zu verdolmetschen, die wir über die Bewirtung geäußert hatten und noch äußerten. – Gegen Abend hielt wieder der Wagen vor der Tür, um uns zur Stadt zurückzubringen. Gerührt nahmen wir von den braven Leuten Abschied; Johanning ließ sich aber nicht abhalten, trotz alles Protestierens wieder seinen alten Platz neben dem Kutscher einzunehmen, um uns nach Haus zu begleiten und dort den Schlag zu öffnen. Ja, er war sogar am andern Morgen wieder da, um bei der Abreise behilflich zu sein. Auf dem Posthofe fanden sich auch noch andre unserer Freunde und Bekannten ein, um uns das letzte Lebewohl zu sagen.

Die Rückreise machten wir wieder über Dover und Calais, um unsern in Lille zurückgelassenen Wagen abzuholen. Die diesmalige Überfahrt fand bei ganz ruhiger See und schönem Wetter statt, so daß niemand von den Reisenden seekrank wurde. Zwischen Calais und Lille hielt die Postkutsche auf einem so reizenden Punkte zu Mittag an, daß ich mich dessen noch jetzt, nach so langer Zeit, mit großem Vergnügen erinnere.[91]

Es war in dem Städtchen Cassel, welches in einer weiten Ebene hoch auf einem isolierten Bergkegel liegt. Bei dem schönen Wetter hatte man für die Postreisenden im Garten des Wirtshauses unter einer Weinlaube gedeckt, und während des Essens genossen wir von diesem behaglichen, kühlen Plätzchen aus eine weite Übersicht über die herrliche Gegend. – In Lille verlebten wir noch einige vergnügte Tage in Gesellschaft der Familie Vogel und unsrer andern dortigen Freunde und setzten dann in unsrem eigenen Wagen die Reise ohne weiteren Aufenthalt bis Frankfurt fort. Hier übergab ich das in London Erworbene meinem Freunde Speyer, der es mir, wie auch das früher Ersparte, verzinsete.

Quelle:
Spohr, Louis: Lebenserinnerungen. Tutzing 1968, S. 68-92.
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