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Die gute, alte Tante Käthe! Noch immer sehe ich sie vor mir, dies Faktotum in unserer Familie, zu der sie eigentlich gar nicht einmal zählte. Und doch sind seitdem Jahre dahingezogen, und ich – damals kaum den Kinderschuhen entwachsen – bin heute selbst eine alte, kranke Tante mit grauem Haar! Also Fräulein Käthe wurde von uns allen nur »Tante« genannt; aber diese nominelle Tante war uns viel lieber als manche, die uns durch die Bande des Blutes verbunden war. Sie kam so oft zu uns, und dann gab es jedesmal für uns neue Überraschungen. Auch war Tante Käthe so recht geschaffen, um an allen Ecken auszuhelfen und einzugreifen, und last not least – die Familienfeste zu verschönern. Dazu hatte sie ein eigenartiges Talent, ja ich möchte fast sagen Genie.
Doch, wo will ich nun eigentlich hinaus? Die Erinnerung übermannte mich! Ich wollte ja nur gesagt haben, daß die gute, alte Tante mit dem[3] freundlichen Gesicht, welches ein paar sehr dunkle Augen wunderbar verschönten, oft Behauptungen aufstellte, oder wie sie es gerne nannte, »Grundsätze hatte«, von denen sie niemand abzubringen vermochte. Sie stritt zwar nicht darüber, sie schüttelte nur freundlich das dunkle Haupt und kräuselte ein wenig die Lippen. Das gab ihr ein sehr energisches Ansehen und hieß, in Worte übertragen:
»Sprecht nur, was ihr wollt, ich bleibe bei meinem.«
Ein Grundsatz von Tante Käthe aber war: » Nichts in der Welt ist so überflüssig wie ein Anstandsbuch.«
»Aber warum denn, Tante?«
»Ei, jeder Mensch, der ein gutes, edles Herz besitzt, weiß auch von selbst mit seinen Mitmenschen umzugehen und braucht's nicht durch ein Buch zu lernen. Wer aber ein böses Herz hat, der wird nie Anstand lernen, und wenn er alle Anstandsbücher der ganzen Welt studiert.«
So Tante Käthe.
Etwas Wahres ist freilich an der Sache, das läßt sich nicht leugnen. Ein wahrhaft guter Mensch wird selten den Nächsten im Verkehr verletzen. Wohl aber wird er, wenn er nicht darüber belehrt worden, die Formen außer acht lassen, die der gesellige Verkehr verlangt. Und dies kann für den Nächsten recht empfindlich sein, wenn er auch noch so sehr von unserer Herzensgüte überzeugt ist. Anderseits kann und wird es uns selbst in manche Verlegenheiten bringen.[4]
Ferner ist wahr an Tante Käthes Behauptung, daß bei Menschen mit einem bösen unedlen Herzen von keinem wahren Anstand die Rede sein kann. Bei solchen ist Anstand und Höflichkeit nichts als ein äußerer Firnis, ein leeres Formenwesen, welches wohl unerfahrene Menschen täuschen kann, sich aber auf die Dauer selbst entlarvt und oft eine wenig ehrenhafte Gesinnung zutage fördert.
Von einer solchen Höflichkeit soll hier nicht die Rede sein.
Wir sprechen von einem Anstande, einer Höflichkeit, die ihren Grund und Zweck in dem uns von Gott gegebenen Gebote der Liebe hat; einer Höflichkeit, die in einer demütigen, opferwilligen und wohlwollenden Gesinnung gegen unsere Mitmenschen besteht und sich auf die entsprechende Weise äußert.
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Und die gute alte Tante Käthe, die schon längst von uns geschieden, wird es mir, von diesem Gesichtspunkte aus, wohl verzeihen, wenn ich nun selbst ein Anstandsbüchlein schreibe, und zwar ganz eigens für meine jugendlichen Freundinnen.
Sie haben mich herzlich darum gebeten und »werden mir sehr dankbar sein«; kann ich da wohl anders, als ihren Wunsch erfüllen?
So will ich euch denn die Sitten und Gebräuche, die man kurzweg den »guten Ton« nennt, und die als Ausfluß eines guten Herzens, eines geläuterten Geschmackes und auch des gesunden Menschenverstandes in der gebildeten Welt herrschen, hier vorführen.[5]
Und da das Büchlein – ich wiederhole es – eigens für euch geschrieben ist, habe ich natürlich auch eure Verhältnisse, euer Alter berücksichtigt. Denn nicht an alle stellt der gute Ton dieselben Anforderungen; ein junges Mädchen hat sich anders zu verhalten wie eine ehrwürdige Matrone – das liegt auf der Hand.
Eine genaue Abgrenzung der Altersstufe war hier nicht möglich; doch hauptsächlich habe ich junge Mädchen im Auge, die nach beendeter Erziehung im Pensionate ins Elternhaus zurückkehrten, und zu dieser Kategorie gehört ja eine ganze Schar jener, die mich ihre alte Tante Lisbeth nennen.[6]