IX. Benehmen auf der Straße.

[141] Auf der Straße ist man gleichsam in öffentlicher Gesellschaft. Alles, was Du da thust, Gang, Haltung, Bewegung, Miene, kurz, Dein ganzes Aeußere, Dein ganzes Benehmen ist hier der öffentlichen Aufmerksamkeit und Beurteilung ausgesetzt, und zwar weit mehr, als Du denkst und ahnst. Deshalb darfst Du auf der Straße die Regeln des Anstandes und der Höflichkeit keineswegs außer acht lassen; im Gegenteil mußt Du Dich, eben weil Du den Blicken und dem Urteil so vieler ausgesetzt bist,[141] mehr als anderswo zusammennehmen und über Dich wachen. Demnach mußt Du Dich auf der Straße so benehmen, daß andere auf Deine gute Erziehung schließen können, Du mußt alles thun, was Achtung gegen das Publikum verrät, und alles unterlassen, was Dir selbst zur Unehre gereicht, was Geringschätzung gegen die Mitmenschen verrät und sie in ihrer Sicherheit, ihrem Eigentum und ihrem Vergnügen stört. Manches nun, was zum Benehmen auf der Straße gehört, ist schon in dem Kapitel über die äußere Haltung zur Sprache gekommen, doch merke noch folgende Einzelheiten.

1. Gehe nur anständig, sauber, vollständig angezogen und mit ganzen Kleidern auf die Straße beziehungsweise in die Oeffentlichkeit.

2. Auf der Straße singen, pfeifen oder essen schickt sich nicht für einen gebildeten Mann.

3. Schirm oder Stock trage senkrecht, damit Du die Vorübergehenden nicht belästigst; auch darfst Du nicht mit dem Schirm oder Stock hin und her fechten oder durch die Luft hauen. Ein großer Unfug ist das abscheuliche Tragen von Stock und Schirm unter dem Arm, die Spitze horizontal nach hinten gerichtet. Für einen Schaden, den man dadurch anrichtet, ist man vor dem Gesetze verantwortlich.

4. Stehe nicht still auf der Straße, um an den Häusern hinaufzuschauen oder einen Vorübergehenden zu begaffen; letzteres ist sehr unhöflich, ja frech.

4. Gehe nicht horchend und schleichend hinter[142] anderen her und achte namentlich in der Dunkelheit darauf, ob Dir jemand begegne; renne niemand um oder an oder tritt ihm auf den Fuß. Ist dir dieses Ungeschick passiert, so entschuldige Dich unter Abnahme der Kopfbedeckung höflich. Unter einer Menschenmenge stoße und dränge nicht; erschrecke niemand, wenn er Dich nicht sieht.

6. Rufe einem Bekannten nicht schon von weitem zu, um ihn nach Neuigkeiten oder nach seinem Befinden zu befragen. Noch weniger aber zeige auf jemand mit dem Finger.

7. Vorübergehenden bezeige die ihnen gebührende Achtung und Ehre und grüße sie anständig und höflich. (Siehe den Abschnitt »Ueber das Grüßen«.)

8. Gehst Du mit einer vornehmeren oder höheren Person, so lasse ihr allzeit den Ehrenplatz, das heißt, den Platz zu Deiner Rechten. Ist der Weg zur Rechten schlechter oder schmutziger, als der zur Linken, so mußt Du dem Höheren den besseren Weg überlassen, beziehungsweise ihm den Vortritt lassen.

9. Gehst Du mit einer höheren Person auf und ab, so laß sie ebenfalls zu Deiner Rechten gehen, wende ihr beim Umkehren nicht den Rücken zu, kehre auch nie zuerst um. Ihr übrigens jedesmal beim Umkehren den Ehrenplatz einzuräumen, ist nicht notwendig; es genügt, wenn es beim ersten Gang geschieht.

10. Auf einem ganz schmalen Wege, wie auf einem Fußwege, gehe hinter ihr.

11. Stehe nicht still, wenn der Höhere nicht stillsteht.[143]

12. Wird der Höhere, mit dem Du gehst, von jemand angesprochen, so tritt etwas beiseite, um nicht zu stören, es sei denn, daß Du aufgefordert würdest, zu bleiben. Aber auch in diesem Falle tritt nicht allzu nahe heran. Ein derartiges Benehmen ist auch zu empfehlen, wenn Du mit deinesgleichen gehst.

13. Setzt sich ein Höherer, mit dem Du spazieren gehst, nieder, so bleibe unbedeckten Hauptes stehen, bis er Dich zum Niedersitzen einladet. Ist diese Einladung erfolgt, so setze Dich zu seiner Linken, aber in einiger Entfernung und ebenfalls mit abgenommener Kopfbedeckung.

14. Beim Einsteigen in einen Wagen laß den Höheren zuerst einsteigen; steht der Wagen so, daß Du den rechten Platz erhieltest, so bitte um Erlaubnis, zuerst einsteigen zu dürfen, damit der Höhere bequem den Ehrenplatz einnehmen kann. Steigst Du auf ergangene Einladung zuerst ein, so setze Dich auf den Rücksitz (Rücken gegen den Kutscher). Im Wagen wende das Gesicht hauptsächlich gegen die vornehmere Person und bedecke Dich erst nach erhaltener Erlaubnis oder Aufforderung. Beim Ein- und Aussteigen sei der vornehmeren Person behilflich. Ladest Du selbst jemand zum Mitfahren ein, so überlaß ihm den besten Platz.

15. Die vorstehenden Regeln sind Damen gegenüber ganz besonders zu beobachten. Ihnen gebührt immer und überall der Vortritt und der Ehrenplatz.

16. Gehen mehrere Personen von verschiedenem[144] Rang zusammen, so laß die vornehmere in der Mitte gehen, Du selbst aber gehe links von derselben. Sind diejenigen, die miteinander gehen, von gleichem Rang, so läßt man den Aelteren in der Mitte gehen.

17. Begegnest Du einem Höheren, so weiche ihm aus und gehe an seiner linken Seite vorbei; in Gassen aber laß ihm das Trottoir und die Seite an den Häusern oder an der Mauer. Ueberhaupt weiche immer rechts aus.

18. Aelteren Personen mute nie zu, daß sie Dir ausweichen.

19. Begegnest Du einem Höheren auf einem schmalen Wege, so tritt zur Seite und warte, bis er vorbeigegangen ist.

20. Knüpfst Du mit einem Bekannten auf der Straße ein Gespräch an, so tritt beiseite, damit für die Passanten der Weg frei ist.

21. Knüpft ein Höherer auf der Straße mit Dir ein Gespräch an, so mußt Du unbedeckten Hauptes bleiben, wenn und solange es der andere auch ist.

22. Ein Gespräch auf der Straße darf überhaupt nur unter folgenden Bedingungen angeknüpft werden:

a) wenn Du dem Vorübergehenden etwas ganz besonders Wichtiges zu sagen hast;

b) wenn derjenige, mit welchem Du sprichst, in der Nähe ist (vergleiche Nr. 6);

c) wenn die Person, mit welcher Du sprichst, selbst auf der Straße ist;

d) wenn der Angeredete deinesgleichen oder Dein vertrauter Freund ist.[145]

e) Einen Vorgesetzten darfst Du auf der Straße nur dann anreden, wenn Du ihn seit langer Zeit nicht mehr gesehen hast oder wenn Du mit einem Auftrage im Hause des Vorgesetzten warst und ihn nicht angetroffen hast.

f) Vor Anknüpfung eines Gespräches grüße höflich, wie bei der einfachen Begegnung, bei Gleichgestellten mit einer Verneigung, bei Höheren mit einer tieferen Verneigung und bei ganz Hochgestellten mit einer tiefen Verbeugung des Körpers.

g) Ein Händedruck ist bloß unter guten Bekannten üblich; ein Händedruck von einem Vorgesetzten gilt als Zeichen der Herablassung gegen Untergebene Untergebene dagegen dürfen sich dem Vorgesetzten gegenüber einen Händedruck nicht erlauben.

h) Jemand, mit dem Du nicht auf vertrautem Fuße stehst, zu fragen, woher er komme oder wohin er gehe, wäre vorlaut.

i) Das Gespräch auf der Straße sei kurz; man sage einander nur das Notwendigste. Das Zeichen zum Verabschieden hat der Höhere zu geben. Thut er es nicht und Du hast Eile, so darfst Du Dich wohl entschuldigen und dann Dich entfernen.

k) Ist die Unterredung beendigt, so ziehe Dich in der nämlichen Weise zurück, wie beim Beginn derselben. Nimm den Hut ab und verneige Dich je nach der Würde und dem Range des Angeredeten. Bei Gleichgestellten, bei guten Freunden und Bekannten kannst[146] Du sagen: »Auf Wiedersehen!«, bei Hochgestellten: »Ich habe die Ehre, mich zu empfehlen.«

l) Redet Dich ein Unbekannter auf der Straße an und es ist niemand da, der ihn vorstellt, so ist es erlaubt, ihn zu fragen, wer er sei. Dies geschehe mit den Worten: »Darf ich um Ihren werten Namen bitten?« oder: »Mit wem habe ich die Ehre, zu sprechen?«

25. Junge Leute mögen sich für das Benehmen auf der Straße noch folgendes merken:

a) Lauerndes Herumschwärmen, Getöse, Mutwillen an Menschen und Häusern usw. ist zu vermeiden, damit alte, kranke oder müde Personen nicht in ihrer Ruhe gestört werden. Wer so etwas thut, hat weder Liebe noch Achtung für andere.

b) Sie mögen sich hüten vor Einwerfen der Fenster, Verderben von dem Verkaufe ausgesetzten Waren, Werfen mit Steinen und anderen Dingen, Nachrufen von Spottnamen usw.

Quelle:
Vogt, Franz: Anstandsbüchlein für das Volk. Donauwörth [1894] [Nachdruck Donauwörth 21987], S. 141-147.
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