Arzt und Patient.

[353] Asessor von Mehren ist nach A. versetzt. Neben den mannigfachen Sorgen des Umzugs quält ihn auch der Gedanke an den Wechsel des Arztes. Er muß sich nach einem neuen umsehen.

Er wendet sich nun an seine Kollegen. Der eine empfiehlt diesen, der andere jenen. Schwer ist es, seine Privatwünsche, daß der betreffende Arzt schon älter und erfahrener sein und nicht zu weit entfernt wohnen soll, zu erfüllen.

Er wählt schließlich Dr. B. und bittet ihn, da eine leichte Erkrankung des Kindes die Berufung eines Arztes nötig macht, auf seiner Besuchskarte um einen Besuch:


Assessor von Mehren


bittet Herrn Dr. B., ihm im Laufe des Tages, falls es seine Zeit erlaubt, seinen Besuch und Rat zu schenken.

Arnsberg.

Steinstraße 48, I.


Dr. B. gefällt ihm, und er schreibt ihm daher am folgenden Tage und bittet ihn, bei ihm Hausarzt[353] werden zu wollen. Er ersucht ihn, da seine pekuniäre Lage es nicht erlaube, im Unklaren über die Honoraransprüche seines Arztes zu bleiben, ihm mit einigen Worten die Höhe des jährlichen Honorars als Hausarzt angeben zu wollen.

Das Verhältnis des Patienten zu dem Arzt ist heute vorwiegend ein geschäftliches. Die gute, alte Zeit, wo der Hausarzt zugleich Freund und Vertrauter, Tröster und Berater der Familie war, ist, wenigstens in der Großstadt, vorüber. Ein vielbeschäftigter Arzt kann ja beim besten Willen sich nicht in diesem Maße mit jedem einzelnen beschäftigen. So giebt der eine bei seinem Besuche den Rat, der andere zahlt ihn. Daß sich jeder Gebildete bemühen wird, seinen Dank auch im Benehmen, in Worten auszudrücken, daß er dem Arzt durch Vertrauen, Höflichkeit und Hochachtung beweist, wie er seine Hilfe schätzt, versteht sich von selbst. Aber eine falsche Scheu darf ihn nicht hindern, auch das Geschäftliche mit dem Arzt auszumachen, was am besten schriftlich geschieht, da es dadurch beiden Teilen leichter gemacht wird.

Früher war es vielfach gebräuchlich, die Bemühungen des Arztes selbst zu schätzen. Wo diese Sitte noch besteht, wird man gut thun, eher etwas zu hoch als zu niedrig zu greifen.

Die meisten Aerzte senden heute aber im ersten Monat des Jahres ihre Liquidation. Daß man dieselbe möglichst sofort bezahlt, indem man das in Papier gewickelte Geld nebst einer Besuchskarte in versiegeltem Couvert durch einen zuverlässigen Dienstboten hinschickt,[354] verlangt die gute Sitte. Der Arzt bescheinigt den Empfang durch seine Karte mit dem eigenhändig vermerkten Datum. Eine andere Quittung von ihm zu fordern, wäre ungehörig.

Fühlt man sich zu sehr zu seinen Ungunsten taxiert, so wird man, wenn man für anständig gelten will, nicht umhin können, das Geforderte so bald als möglich hinzuschicken, alsdann aber entweder vorsichtiger im Senden nach dem Arzte sein oder ihn in einem höflichen Briefe darauf aufmerksam machen, daß er vielleicht seine, des Patienten, pekuniäre Lage überschätze. Er sei nicht besonders gut gestellt und bitte ihn, dies bei der Aufstellung der nächsten Jahresrechnung freundlichst berücksichtigen zu wollen.

Die bereits erwähnte sofortige Offenheit bei Anknüpfung der Beziehungen ist aber entschieden diesen späteren Berichtigungen vorzuziehen.

Kein weltkluger, vernünftig denkender Arzt wird sie dem Patienten verargen, sondern die Frage des Familienoberhauptes begreiflich finden.

Wer so glänzend gestellt ist, daß ihm eine höhere oder niedrigere Forderung des Arztes nichts bedeutet, der wartet wohl auch die Rechnung nicht ab, sondern sendet gleich am 1. Januar die gleiche Summe oder, ist der Arzt während dieses Zeitabschnittes öfters im Hause gewesen als im Jahr vorher, eine höhere als vergangenes Neujahr.

Bei Konsultationen von Spezialisten wird man gut thun, bald danach schriftlich auf der Visitenkarte um Liquidation zu bitten: »Herr Dr. med. Z. wird von –[355] folgt der gedruckte Name gebeten, ihm gütigst die Höhe seiner Schuld angeben zu wollen.« Daß man nach erhaltener Rechnung hier ebenfalls gleich auf oben geschilderte Weise zahlt, versteht sich von selbst.

Das Abschaffen eines Arztes und die Wahl eines andern ist in der Großstadt leichter möglich als in kleinen Städten. Man möge sich den Wechsel erst sehr überlegen, denn unter den Aerzten besteht das kollegiale Uebereinkommen, sich Gründe, weswegen der Wechsel stattfand, mitzuteilen. Daß ein öfterer Wechsel des Arztes die Stellung der Familie den Aerzten gegenüber nicht bessert, läßt sich leicht ermessen.

Der Patient hat die Verpflichtung, den Arzt nicht unnötiger Weise, besonders nicht bei Nacht rufen zu lassen. Er soll sich bei dem Besuch des Arztes kurz fassen, nicht lange Krankheitsberichte liefern, sondern den Arzt zu Worte kommen lassen. Er bedenke, daß dem Arzt die Zeit buchstäblich Geld ist, und halte ihn nicht mit Gesprächen über Politik, Tagesneuigkeiten und dergl. auf.

Trifft man seinen Arzt am dritten Ort, z.B. in Gesellschaft oder im Theater, so sehe man in ihm nicht den Arzt und suche eine Freikonsultation zu erlangen, sondern begegne ihm wie jedem andern Mitglied der Gesellschaft.

Hier fällt uns ein Geschichtchen ein, das wir dem Leser nicht vorenthalten wollen.

Ein etwas sparsamer Kurgast in Karlsbad hatte die Gewohnheit, seinen Arzt auf der Promenade um Rat anzusprechen, um so die Besuche bei ihm zu vermeiden.[356] Natürlich ärgerte dies den Arzt. Bei nächster Gelegenheit klagte der Herr über Halsschmerzen. »Bitte, machen Sie die Augen zu. Oeffnen Sie den Mund ganz weit – so! Nun bitte die Zunge ganz weit heraus, daß ich sehen kann!« Darauf schlich sich der Doktor verstohlen und vorsichtig weg. Der Geizhals aber sah sich, als er nach einer Weile vorsichtig blinzelnd die Augen öffnete, von einer Schar lachender Badegäste umringt, die sich über diese Radikalkur nicht beruhigen wollten.

Erscheint dir schließlich das Wissen deines Arztes in einem besonderen Krankheitsfalle nicht ausreichend, und möchtest du einen zweiten Arzt zuziehen, so wende dich nicht hinter seinem Rücken an einen andern. Es ist kollegiale Sitte der Aerzte, daß keiner ohne gegenseitige Verständigung den Patienten eines Kollegen in Behandlung nimmt, und du würdest in diesem Falle von beiden nicht gut beurteilt werden. Die Bitte, einen zweiten Arzt resp. einen Spezialisten zuziehen zu wollen, wird dir dein Hausarzt, wenn sie verbindlich und höflich vorgebracht wird, nicht übel nehmen. Ueberlaß es ihm aber, zuerst einen Namen zu nennen, einen Arzt vorzuschlagen. Falls du damit nicht einverstanden bist, kannst du deine eigene Ansicht alsdann zur Geltung bringen.

Und zum Schluß noch eins. Erscheint dir die Art der Behandlung, die dein Arzt angegeben, nicht richtig, läßt der Erfolg zu wünschen übrig, ist vielleicht gar des Arztes Kunst nicht imstande gewesen, dir ein geliebtes Leben zu erhalten, wie du es gehofft hattest,[357] glaubst du selbst, daß er gefehlt, nicht das Richtige getroffen habe, so behalte es für dich oder teile es nur mit, wenn andere dich zwecks Wahl des gleichen Arztes fragen. Nichts macht einen größeren Eindruck der Undankbarkeit, als wenn jemand über seinen Arzt in Gesellschaft herzieht.

Du bist ihm gewiß doch wenigstens für etwas Dank schuldig, nicht wahr? Trage denselben dadurch ab, daß du ihn nicht zum Gegenstand deines Klatsches machst.

Haben wir im Vorstehenden von dem Verhältnis zwischen Arzt und Patient gesprochen, so seien uns noch einige Worte nur an die letztere Adresse vergönnt. Es giebt viele kranke, mit einem Gebrechen behaftete Menschen, die es nicht lassen können, immer wieder, so vielen Enttäuschungen und Demütigungen sie sich auch bereits ausgesetzt haben, in der Gesellschaft zu erscheinen, ja sie besitzen sogar manchmal so wenig Selbsterkenntnis und Einsicht, daß sie glauben, ihre Mängel durch auffallend elegante Toilette verdecken, ihre Beliebtheit durch große Zutraulichkeit und Lebhaftigkeit erzwingen zu können.

Wer das Unglück hat, in dieser Weise gekennzeichnet zu sein, hat gewiß den größten Anspruch auf das Mitleid und die Rücksicht seiner Mitmenschen, und jeder feinfühlende Mensch wird ihm mit Zartheit und Geduld begegnen, hilfreich beistehen und peinliche Situationen abzukürzen bemüht sein, aber er selbst sollte sich von großen Gesellschaften fernhalten und auf Dinge zu verzichten wissen, die ihm nun einmal versagt sind. Ein[358] buckliges junges Mädchen, das die Aufmerksamkeit der Herrenwelt zu fesseln bemüht ist, ein verwachsener Herr, der sich im Tanze zu drehen versucht, sind abstoßende Zerrbilder des Salons, welche die Welt obendrein erbarmungslos bespöttelt.

Daß man sich nicht in Gesellschaft begiebt, wenn man an Influenza oder Halsentzündung leidet oder sie eben überstanden hat – viele junge Mädchen opfern diese Rücksicht ihrer Vergnügungssucht – versteht sich für einen Gebildeten eigentlich von selbst. Viele jedoch, die an Husten oder Schnupfen laborieren, heiser sind oder Kopfschmerzen haben, lassen sich nicht stören und glauben ungestraft ihren Nächsten mit ihren kleinen Leiden quälen, belästigen oder langweilen zu dürfen. Wer sich so fühlt, daß er sich der Gesellschaft nicht von seiner besten Seite zeigen kann, der bleibe am besten zu Hause.

Es gilt noch, die Vorschriften der guten Sitte anzuführen, die wir zu beobachten haben, wenn ansteckende Krankheiten unser Haus heimsuchen. Jeder gesellige Verkehr ist sofort einzustellen. Man teilt seinen näheren Bekannten die Erkrankung mit und bittet sie, ihren Besuch aufzuschieben. Die Dienstboten sind anzuhalten, Besuch vor der Entreethür abzufertigen, um ängstlichen Gemütern die Furcht vor Ansteckung zu ersparen. Mit dieser Aengstlichkeit wird man auch bei einem Zusammentreffen am dritten Orte nachsichtig zu rechnen haben. An unsern Bekannten wiederum ist es – eingedenk des Wortes: Wahre Freunde erkennt man in der Not! – uns die Zeit der Absperrung durch kleine Aufmerksamkeiten,[359] wie Briefe, Blumen etc. zu erleichtern. Die Anordnungen des Arztes, betreffend Desinfektion, hat man in Rücksicht auf unsere Umgebung und unsern Bekanntenkreis genau durchzuführen, selbst wenn wir »gar nicht ängstlich in dieser Beziehung« wären.

Und nun zum Schluß noch ein paar Worte über Krankenbesuche.

Dein Besuch bei einem Patienten sei kurz, lieber Leser! Du sollst bestrebt sein, ihm nur Erfreuliches mitzuteilen. Sage ihm, daß er besser aussähe, wie du je habest erwarten können; dies hebt seinen Mut. Erzähle ihm von dem Vertrauen, das sein Arzt überall genießt; das stärkt auch sein Vertrauen zu demselben.

Höre alle Klagen mit Teilnahme an. Vergiß nicht, daß du einen kranken, keinen normalen Menschen vor dir hast. Uebe Rücksicht, lerne schweigen. Der Kranke darf Launen haben. Wie man während der Krankheit der Kinder die Erziehung suspendiert, so darf man auch an einem Kranken nicht herummäkeln, ihn zu andern Gewohnheiten bekehren wollen. Und vor allem mache ihm das Herz nicht schwer dadurch, daß du sein Leiden sehr ernst nimmst, daß du ihm Schilderungen von eigenen schweren Erkrankungen, selbsterlebten schwierigen Heilprozessen giebst. Erheitern soll ihn dein Besuch, nicht niederdrücken![360]

Quelle:
Wedell, J. von: Wie soll ich mich benehmen? Stuttgart 4[o.J.], S. 353-361.
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