IV.

Vorbereitungsdienst.

[65] Am 24. September 1853 bestand ich glücklich das Auskultatorexamen und leistete demnächst meinen Diensteid im grossen Sitzungssaale des Appellationsgerichts zu Königsberg, in welchem unter einem Baldachin von rotem Sammet der Thronsessel steht, der für den ersten König von Preussen, als obersten Gerichtsherrn, aufgestellt und von Friedrich Wilhelm I. auch ein paarmal benutzt ist. Es steht da auch der Tisch mit Marmorplatte und vergoldeten Füssen, von dem der erste König 1701 die Krone genommen hat, und an den Wänden hängen die Bilder der preussischen Regenten vom grossen Kurfürsten ab. Mir ahnte damals nicht, dass ich in diesem Saale einmal selbst als Richter sitzen würde. Chef-Präsident war v. Zander, ein kleiner Herr mit ausdrucksvollem Gesicht und sehr klugen Augen. Von ihm wurde ich, auf meine Bitte, dem Königsberger Kreisgericht zur Ausbildung überwiesen, bei welchem mein Vater seit zwei Jahren Direktor war.

Die Praxis gefiel mir recht gut. Ich arbeitete erst beim Untersuchungsrichter v. Ludwiger, einem höchst gemütlichen alten Kriminalisten. Er hatte eine schnurrige Manier, mit den Spitzbuben umzugehen, deren Verhör ihm ein besonderes Vergnügen zu bereiten schien. Besonders wenn ihm einer[66] unter die Augen kam, dessen Bekanntschaft er schon früher gemacht hatte, konnte er ihn in seinem sächsischen Dialekt wie einen alten, lange erwarteten Freund begrüssen. So inquirierte er auch im gemütlichsten Ton und liess sich durch lügenhafte Ausreden nie aufregen. Oft brachte er so mit leichter Mühe ein Geständnis heraus. Nur wenige Wochen führte ich lediglich nach Diktat Protokoll. Von einer Anleitung war überhaupt kaum die Rede; man musste sich selbst zu helfen wissen. Mit Herrn v. Ludwiger und dem Kreisrichter v. Grumbkow, einem grossen Gartenliebhaber, machte ich auch die ersten Ausfahrten in den Gerichtskreis, um an Ort und Stelle Leichenschauen vorzunehmen, Brandstätten zu besichtigen und den Spuren von schweren Verbrechern zu folgen. Vielleicht waren diese »Kommissarien« damals häufiger, als nach Lage der Sache durchaus erforderlich. Sie brachten dem Richter, den auch ein Referendar vertreten konnte, und dem Protokollführer immer ein paar Thaler ein. Kehrte man erst nach zwölf Uhr nachts zurück, so gab es höhere Diäten und auch noch für den zweiten Tag, während die Fuhrkosten sich nicht vergrösserten. Es mag wohl mitunter ein wenig künstlich nachgeholfen sein, um dieses Resultat zu erzielen.

Nach drei Monaten wurde ich dem Bagatellrichter Hencke (später Rechtsanwalt und schliesslich Rittergutsbesitzer) zur Ausbildung überwiesen, der wohl im Kollegium der klügste Kopf war. Gleich am ersten Tage gab er mir, da er sich auf kurze Zeit entfernen musste, eine Sache zu verhandeln, die mich mir »in meines Nichts durchbohrendem Gefühle« zur Erkenntnis brachte. Sie konnte gar nicht einfacher liegen: ein Fleischer hatte von einem Bauer ein Schwein gekauft und es nicht bezahlt. Der Bauer klagte. Ich sollte nur hören, was der Fleischer zu antworten hätte, das Protokoll zum Spruch fertig machen. Er antwortete aber gar nicht auf die klare Thatsache, sondern brachte die umständlichsten Einwendungen wegen angeblicher Mängel[67] des Schweines vor, worauf nun wieder der Bauer aus dem Hundertsten ins Tausendste replizierte. Dem Fleischer, der mich bald ganz hilflos sah, wuchs der Kamm; er traktierte seinen Gegner mit Schimpfreden, worauf dieser nun ganz störrisch wurde. Von alledem, was ich im Kolleg oder aus dem Makeldey gelernt hatte, schien da gar nichts brauchbar zu sein. Ich schrieb ein langes Protokoll, mit dem kein Teil zufrieden war, zerriss es und verfasste im Schweisse meines Angesichts ein neues, das den Streitenden noch weniger genügte. Nach einer Stunde war ich so verzweifelt, dass ich die Feder fortwarf und beide Teile reden liess, was sie wollten. Endlich kam der Herr Kreisrichter zurück und erledigte zu meiner höchsten Verwunderung den schwierigen Kasus in wenigen Minuten. Diese Erfahrung machte mich sehr bescheiden; sie bewies mir, dass meine juristische Weisheit völlig unzureichend sei, auch nur den einfachsten Streitfall praktisch zu erledigen. Ich wurde nun der aufmerksamste Schüler und glaubte gerade auf der Bagatellstation hier und später als Referendar beim Stadtgericht am meisten fürs Leben gelernt zu haben. Der stete Verkehr mit den Parteien selbst stellte dem Instruenten die Aufgabe, in das Verständnis der beiderseitigen, meist sehr unklar und verworren vorgetragenen Meinungen einzudringen, die Thatsachen zu ordnen, die erheblichen Streitpunkte bei mündlicher Verhandlung zu fixieren, dabei immer das Gesetz gegenwärtig zu haben, um nicht erhebliche Einreden abzuschneiden. Er musste der unparteiische Advokat beider Teile und zugleich der die Sache objektiv überblickende Richter sein. Sehr oft erlebten wir den Ausgang des Prozesses auf unserer Station, sodass wir ein Bild von dem ganzen Verlauf eines solchen bekamen. Für mich war es von grossem Interesse, zu beobachten, wie die Leute, meist Bauern, Knechte, Mägde, ländliche Handwerker und Tagelöhner, sich bei Angriff und Verteidigung benehmen, ihre Sprache verstehen zu lernen, ihrer Denkweise nachzugehen.[68] Weniger interessierte mich der grosse Prozess, dem sechs Monate zugeteilt waren. Das Referieren aus den Akten verursachte mir keine Schwierigkeit, das viele Schreibwerk dabei wurde mir aber lästig. Etwas Aufregendes hatte mir anfangs oft der Streit der drei Richter unter einander nach dem Abtreten der Parteien. Die Entscheidung gefiel dem gesunden Menschenverstande mitunter wenig; ich hatte erst noch zu lernen, dass er juristisch geschult werden müsste, um das Richtige treffen zu können, und ich habs eigentlich nie völlig gelernt.

Darauf wurde der Auskultator ein halbes Jahr lang bei der sog. zweiten Abteilung in Vormundschafts-, Nachlass- und Hypothekensachen beschäftigt. Dirigent war »der alte Herr v. Krentzki«, wie er allgemein genannt wurde, ein kleiner Mann mit rundem, bartlosem, pockennarbigem und immer freundlichem Gesicht, wie geschaffen zu dieser Art von Geschäften, die er in demselben Landkreise schon viele Jahre betrieb. Er kannte eine erstaunlich grosse Zahl von Gerichtseingesessenen, viele mit Namen. Die Landleute hatten ein ungemessenes Vertrauen zu ihm und wollten ihre Kauf-, Grundstücksüberlassungs- und Altenteilsverträge nur vor ihm verlautbaren. War er einmal nicht auf dem Gericht anwesend, so fuhren sie lieber meilenweit nach Hause, um ein andermal wiederzukommen, als dass sie sich einem Stellvertreter eröffneten. Ihre Information war meist die allerdürftigste. »Na, Sö weete ja schon, Herr Kreisgerichtsratchen«, hiess es oft. Namentlich wenn Eltern ihrem Sohn oder ihrer Tochter ein Grundstück verschrieben, bestimmte er gewöhnlich auf ihren Wunsch den Annahmepreis, die Abfindungen der andern Kinder und das Ausgedinge nach Billigkeit. Hielt er dem alten Bauer die Tabaksdose hin, so war dies eine Ehre, die dieser zu würdigen verstand. Hatte er irgend Zeit, so plauderte er gern gemütlich mit den Leuten über ihre Familien-und Wirtschaftsverhältnisse. Wer aufmerksam zuhörte, lernte da wieder ein Stück Leben kennen.[69] Nicht so ruhig ging es bei Erbteilungen zu; da wurde manchmal zwischen den nächsten Verwandten um rechte Kleinigkeiten mit heftigster Erbitterung gestritten. Auch die Vormundschaftsakten gaben mancherlei Aufschlüsse. Damals wurden noch die Erbteile der Pflegebefohlenen, selbst die geringsten von wenigen Thalern, im gerichtlichen Depositorium verwaltet; der Pupillenrichter war der eigentliche Allerweltsvormund, auf dessen Entscheidung es bei jeder Ausgabe ankam. Mit grösster Sparsamkeit wurden die kleinen Vermögen zusammengehalten, ein willkommener Spargroschen nach erlangter Grossjährigkeit. Es mag sein, dass die Knauserigkeit manchmal zu weit ging, die Schreiberei ausser Verhältnis zu dem erzielten Vorteil stand, aber im Ganzen wurde doch viel Gutes gewirkt und dem Leichtsinn der Mündel, wie der Vormünder, ein Riegel vorgeschoben. In den Hypothekensachen instruierte mich mein Vater mit so gutem Erfolge, dass ich bald auch mit schwierigeren Aufgaben leicht fertig wurde. Zugleich war ich fleissig hinter dem Landrecht her, um bei der Vorbereitung zum zweiten Examen nicht Zeit zu verlieren.

Indessen wurden die häuslichen Verhältnisse recht traurig. Das Herzleiden meiner armen Mutter steigerte sich bedenklich, die Krämpfe kehrten öfter wieder und hielten länger und schmerzlicher an. Mitunter musste ich in der Nacht hinaus, um den Arzt zu rufen, der doch nicht helfen konnte, so viel freundliche Mühe er sich auch gab. Seit Frühjahr 1854 verliess die Kranke das Bett nicht mehr. Die Schlafstube der Eltern lag neben meinem Arbeitszimmmer; stundenlang mitunter hörte ich die arme Kranke leise wimmern, sodass es mir unmöglich wurde zu arbeiten. Noch jetzt glaube ich, wenn ich meine Gedanken darauf richte, diesen kläglichen monotonen Laut zu vernehmen. Manchmal bat sie mich, ihr etwas vorzulesen; sie hatte ein paar Gesangbuchlieder, die sie sehr liebte und immer wieder hören konnte, so das »Befiehl du deine Wege –«. Ich las mit Thränen in den Augen.[70] Wenn ich mit ihr allein war, sprach sie sich wohl auch recht bekümmert der jüngeren Geschwister wegen aus. Wer würde sich ihrer annehmen? Und doch wieder bat sie täglich Gott, er möchte ihr Siechtum nicht mehr lange währen lassen; ihre gichtischen Schmerzen und Herzbeschwerden wurden unerträglich, und der Gedanke, ihrem geliebten Manne mehr und mehr eine Last werden zu müssen, nahm ihr den Rest von Lebensfreudigkeit.

Im Juni dieses Jahres war ich zu einer vierzehntägigen Übung als Unteroffizier der Landwehr eingezogen und musste an jedem Morgen schon früh nach dem Exerzierplatz bei Karschau hinaus. So auch am 13. Auf dem Heimwege begegnete ich in der Stadt meinem Onkel, dem Bauinspektor Fischer. Während ich mich ganz heiter über den Dienst, ausliess, bemerkte ich, dass er sich zum Lächeln zwang und verlegen den Kopf hing. Ich stutzte. »Du weisst wohl noch nicht ...,« sagte er in seiner milden Weise. »Was, was?« rief ich. – »Deine liebe Mutter ist vor einigen Stunden verschieden.« – Ich eilte ganz verstört nach Hause, warf mich über das Bett, auf dem sie schon angekleidet lag, küsste wieder und wieder ihre Augen und Hände, weinte bitterlich. Mein Vater ging, wie es seine Gewohnheit war, schweigend im Zimmer auf und ab; die jüngeren Brüder umstanden scheu das Bett, die Schwester besorgte das traurige Hauswesen. Wir hatten unsere Mutter verloren, eine so herzensgute, liebevolle, unendlich gütige Mutter, und mir war eine Freundin hingegangen, die beste, die ich im Leben gehabt. Sie ist auf dem altstädtischen Kirchhof begraben.

Dann kamen recht schwere Wochen und Monate. Ich drang darauf, dass mein Vater, wovor er sich immer scheute, einen festen Etat für unseren Haushalt aufstellte. Es blieb nach der Aufrechnung der Schuldzinsen und Versicherungsprämien eine erschreckend geringe Summe vom Gehalt übrig, mit der selbst bei grösster Einschränkung kaum auszukommen möglich scheinen konnte. Es wurde doch versucht. Mein[71] Vater konnte sich nicht dazu entschliessen, die Einleitung eines geordneten Gehaltabzugverfahrens zu beantragen, das ihm grosse Erleichterung verschafft, aber auch seine Karriere abgeschlossen hätte. Er trug sich mit ganz anderen Plänen. Sich seiner hervorragenden Tüchtigkeit als Jurist und Dirigent bewusst und nun von der Sorge um eine kranke Frau befreit, übrigens noch nicht voll fünfzig Jahre alt, meinte er jetzt wieder dem ehrgeizigen Wunsche nachgehen zu sollen, eine amtliche Beförderung zu erbitten, die dann auch mit einer erheblichen Gehaltsaufbesserung verbunden sein würde. Freilich war dazu eine persönliche Vorstellung beim Justizminister unumgänglich. Zur Reise nach Berlin entschlossen, war er auch schon als richtiger Sanguiniker des günstigsten Erfolges gewiss und rechnete mit Zahlen, die keine Basis hatten. Die Vorstellung, Berlin nach langer Zeit wiedersehen zu sollen, regte ihn merklich an. Er suchte seine alten Notizbücher vor, durchstöberte seine Bildersammlungen und wurde nicht müde, von den Herrlichkeiten der Residenz zu erzählen.

Dabei beschäftigte er sich in seiner Gutmütigkeit auch schon mit der Frage, ob es denn nicht möglich wäre, mich zu beteiligen. Wenn er mich mitnähme –! Man könnte sich ja einschränken. Und da das Geld doch geliehen werden müsste, was könne es da auf ein fünfzig Thaler mehr oder weniger ankommen? Die Präsidentschaft würde alles wieder einbringen.

Ich hätte nicht ein junger Mensch von dreiundzwanzig Jahren sein müssen, wenn ich mich einem so gütigen Anerbieten aus philiströser Sorglichkeit widersetzen sollte. Zum ersten Mal bot sich mir die Möglichkeit einer Ausschau über die engen Grenzen hinaus, in denen ich mich bis dahin festgehalten sah. Schliesslich finden sich ja immer Gründe, das als im besonderen Falle nicht unvernünftig oder verzeihlich erscheinen zu lassen, was man leidenschaftlich gern möchte. Und so beruhigte mich denn auch nicht wenig die[72] Vorstellung, dass ich in Berlin Gelegenheit finden werde, persönlich Verbindungen mit Buchhändlern zur Verwertung meiner dichterischen Arbeiten, besonders des »Johann Huss« und der eben in der ersten Niederschrift fertig gewordenen Tragödie »Kaiser Otto III«, anzuknüpfen. Ich hätte zwar nicht deutlich darzulegen vermocht, wie ich mir diese Anknüpfung dachte, an wen ich mich wenden wolle und welche Bedingungen zu erwarten wären; aber das würde sich an Ort und Stelle gewiss finden, und einmal müsse doch ein Anfang gemacht werden.

Gegen Ende des August bestiegen wir mit leichtestem Gepäck ein Coupé dritter Klasse der Eisenbahn. Nachdem wir mit einem Fährboot über die Weichsel gesetzt waren, hielten wir uns leider im Wartesaal zu Dirschau so lange auf, bis auf der anderen Seite des Gebäudes der Zug abgegangen war. Diese Saumseligkeit kostete uns volle 24 Stunden, deren kleinster Teil doch nur durch die Besichtigung des kolossalen Holzgerüstes für die in Bau begriffene eiserne Brücke ausgefüllt werden konnte. Und dabei immer der peinigende Gedanke: jetzt könnten wir schon da und da, nun schon in Berlin sein!

Endlich langten wir aber doch wirklich dort an und nahmen Quartier in dem damals von Ostpreussen viel besuchten Voigts Hotel garni in der Dorotheenstrasse, wo man erstaunlich billig wohnte und den Morgenkaffee trank. Es war noch jenes alte Berlin, von wenig mehr als 400000 Einwohnern, das wir nun durchwanderten, nach der Versicherung meines Vaters im Gesamteindruck gegen das Berlin der dreissiger Jahre nicht wesentlich verändert. Ich gestehe, dass ich mich bei der ersten Umschau ein wenig enttäuscht fühlte. Ich hatte mir alles, was ich so oft für sich allein auf Bildern gesehen und beschreiben gehört hatte, viel, sehr viel grösser und imposanter gedacht. Das also waren die berühmten Linden, das Brandenburger Thor mit dem Siegeswagen, die Universität, das Zeughaus! Nur[73] das Schloss machte mir sogleich einen starken Eindruck und vor Schlüters grossem Kurfürsten auf der Brücke an der mittelalterlichen Rückseite desselben stand ich lange wie vor einer mächtigen Offenbarung. Tief ergriff mich das Mausoleum in Charlottenburg. Den Museen wurden täglich mehrere Stunden gewidmet. Im Opern- und Schauspielhause begnügten wir uns mit Plätzen im Stehparterre. Einen Tag brachten wir vom Morgen bis zum Abend in Potsdam zu. So oft hatte mein Vater von Friedrich dem Grossen und seinen Hunden erzählt, die der König auf der obersten Terasse von Schloss Sanssouci habe beerdigen lassen, wo er die Grabsteine gesehen. Von diesen Grabsteinen sprach er dann auch, als wir zum Schloss aufstiegen, und wollte mich, als ob sie das merkwürdigste dort oben wären, sogleich dahin führen. Sonderbar, die Steine waren nicht mehr da! Er wusste genau die Stelle, wo sie liegen mussten und nicht mehr lagen. Die Impietät, den Lieblingen des grossen Königsphilosophen ihre Denkzeichen zu nehmen, empörte ihn. Als wir nach der Besichtigung des Schlosses fortgehen wollten, begegneten wir einem Invaliden. Ich meinte, wir könnten ihn doch einmal nach den Steinen fragen, die vielleicht an einer anderen Stelle lägen. Mein Vater war etwas aufgebracht darüber, dass ich zweifeln könne, er wisse nicht, wo die Hunde Friedrichs des Grossen begraben lägen, liess aber doch die Frage zu. Der Alte behauptete, die Steine lägen, wo sie immer gelegen hätten, und führte uns hin. Nun gab's eine schlimme Szene. Mein Vater rief heftig, die Steine müssten verlegt sein, er wisse, was er wisse. Der Invalide fasste ihn am Rockknopf und entgegnete: »Männeken, ick bin hier seit dreissig Jahren un kenne det besser als Sie. Da haben die Steine gelegen un da liegen sie noch.« Sie konnten sich nicht vereinigen, und mein Vater war, als wir nach Berlin zurückkehrten, weit entfernt zu glauben, dass er sich geirrt hätte.

Das Bemühen, recht sparsam zu leben, führte uns auf[74] wunderliche Abwege. Ich weiss nicht, wie wir zu der Einbildung gekommen waren, einen Mittagstisch gebe es nur in den grossen Hotels. Jedenfalls fiel es uns gar nicht ein, nach einem billigen Speisehause zu fragen. Mein Vater kannte aber von früher her den Niquet'schen Keller und schwärmte von seinen Würsten. Dorthin gingen wir also täglich um die Mittagszeit und frühstückten kalt, was übrigens, da wir uns doch sättigen mussten, gar nicht wenig kostete. Endlich spürten wir doch das Bedürfnis, einmal warm zu speisen und gingen nun wirklich in ein Hotel, um uns jedoch ausdrücklich »ein reelles Fleischgericht und nichts weiter« auszubitten. Der Herr Oberkellner belächelte etwas mitleidig uns Hinterwäldler, brachte aber doch eine Schüssel mit Rinderbraten, der uns ohne Kartoffeln wenig mundete. Ein junger Mensch von heute wird solche Weltunerfahrenheit unbegreiflich finden.

Der Besuch im Ministerium dauerte nicht lange. Mein Vater war von dem Herrn Minister gnädig angehört und mit einigen freundlichen. Redensarten entlassen worden, deren Wert er nicht zu schätzen wusste. Er gab sich neuen Hoffnungen hin und war in heiterster Stimmung.

Nun schien auch mir die Zeit gekommen, für meine Manuskripte zu sorgen. Der Gedanke, sie einem unbekannten Manne anbieten zu sollen, der von mir nicht das mindeste wüsste, was ihn für mich interessieren könnte, war mir sehr peinlich, und ich hatte, je länger ich zögerte, um so mehr das Gefühl, der Schritt müsse erfolglos sein. Ich wurde auch immer bedenklicher, ob ich wirklich etwas geleistet hätte, was der Veröffentlichung wert wäre. Die Schwächen meines Huss waren mir sehr gegenwärtig, wenn ich mich auch scheute, dieses Drama in den Augen meines Vaters herabzusetzen, der soviel dafür gethan hatte. Mit etwas besserem Vertrauen blickte ich auf das jüngere Trauerspiel, schon weil ich es für theatralisch wirksamer halten durfte; aber es war damals kaum druckfertig zu nennen. Am[75] liebsten hätte ich also den Versuch ganz aufgegeben. Aber solchen Kleinmuts schämte ich mich doch wieder. So entschloss ich mich endlich, alle Kourage zusammennehmend, in eine grosse Offizin, ich glaube in der Wilhelmstrasse, hineinzugehen und nach dem Chef zu fragen. Ich befand mich in einem langen schmalen Saal, an dessen vielen Fenstern Pulte für je zwei Arbeiter, wie mir vorkam, in endloser Reihe standen. Ganz am anderen Ende sollte der Chef zu finden sein. Ich lief Spiessruten, denn natürlich sah mirs jeder an, wie ich mir vorstellte, dass ich ein junger Autor sei, der sein erstes Manuskript anbieten wolle, und lächelte über die Thorheit, einen Verleger für Dramen zu suchen. Und wie höhnisch würden sie alle hinter mir dreinschauen, wenn ich unverrichteter Sache die Gasse wieder zurück durchlaufen müsste! Ich war aber nun einmal soweit und musste weiter. Und ich erreichte auch wirklich den Herrn Verleger an seinem Stehpult in einem kleinen Nebenraum mit offener Thür, und er bot mir sogar einen Stuhl an. Ich brachte mein Anliegen mit möglichst leiser Stimme vor. Er lächelte ganz freundlich – wahrscheinlich über meine Verlegenheit – und antwortete in höflichster Form, er könne zu seinem Bedauern von meiner Offerte keinen Gebrauch machen, da er Dramatisches überhaupt nicht verlege. Dann würde es wohl auch nichts nützen, meinte ich, wenn ich ihm das Manuskript zur Durchsicht daliesse. Er verneigte sich zustimmend; und ich sah mich als entlassen an. Es war mir recht beruhigend, dass der Mann Dramatisches überhaupt nicht verlegte: nun hatte ich doch nicht gerade meine Stücke als abgelehnt anzusehen. Weitere Besuche bei Verlegern ersparte ich mir, dagegen stattete ich dem Schriftsteller Ernst Kossack, einem Landsmann, der damals an die Hartungsche Zeitung aus Berlins Theaterleben sehr ansprechend und oft humoristisch berichtete, eine Visite ab. In nähere Beziehung zu ihm brachte sie mich nicht.[76]

Der Appetit kommt mit dem Essen. Wir stellten es uns wunderschön vor, nach der immerhin etwas angreifenden Besichtigung der mit Kunstschätzen gesegneten Stadt auch noch einen Ausflug ins Gebirge zu unternehmen. Mein Vater stellte mir die Wahl, ob Harz, Thüringen, sächsische Schweiz oder Riesengebirge. Mir schien dieses letztere besonders lockend. Die Eisenbahn beförderte uns über Breslau hinaus nach einem Ort, von dem aus wir dann in einem Stellwagen ins Gebirge hinauf nach Schmiedeberg fuhren. Es war gegen Abend, und ich werde nie vergessen, wie wundersam es mich anmutete, durch die hinten angebrachte, zur oberen Hälfte offene Thür auf das sich mehr und mehr am Horizont hebende blaue Bergland auszuschauen. Eine solche Bläue hatten meine Augen noch nie gesehen. Ach, wie schön war die Welt! Aber wie schön wurde sie erst, als wir am andern Tage früh zu Fuss auswanderten, immer bergauf über die »schwarze Koppe« und dann den Kegel der »Schneekoppe« hinan über wüstes Geröll, dass uns der Schweiss von der Stirn tropfte. Das war doch einmal ein Berg! Oben hatten wir den herrlichsten Rundblick. Es war am 2. September, meines Vaters Geburtstag, der nun bei einer Flasche billigen Ungarweins gefeiert wurde.

Gegen Abend stiegen wir, jetzt den bequemen Zickzackweg benutzend, auf den Gebirgskamm hinab und setzten auf ihm unsern Weg, natürlich ohne Führer, fort; zu verirren schien ja nicht möglich. Wir meinten noch recht gut eine Baude erreichen und dort billiger, als auf der Koppe, nächtigen zu können. Aber wir hatten uns doch in der Zeit verrechnet, und ich hielt uns zum Überfluss noch dadurch auf, dass ich die merkwürdigen Steingebilde am Wege zeichnete. So erschreckte uns bald der tiefe Stand der Sonne. Sie ging unter, und wir waren noch weit vom Ziel. Es dunkelte schnell; von den sumpfigen Wiesen stiegen dichte Nebel auf und verhüllten die Aussicht ganz. Noch war der Weg über die eingelegten Steine hin, wenn auch oft undeutlich,[77] zu erkennen. Ich ging als Pfadfinder voran, immer räscher und räscher. Mein Vater, ziemlich beleibt, erklärte bald, nicht mehr folgen zu können. Auch gings jetzt am »hohen Rade« über gefährliches Steingeröll bergauf. Er schlug vor, in einen Heuhaufen zu kriechen und so zu übernachten. Das durfte ich unter keinen Umständen zulassen; er war sehr erhitzt, und ein kalter Wind strich über den Gebirgskamm, die Nebel vor sich herjagend. Weiter, nur weiter! Die Höhe war erreicht. Aber bergab verlor ich nun gänzlich den Weg aus den Augen, kletterte von Stein zu Stein, ohne auch nur eine bestimmte Richtung festhalten zu können. Zum Glück wurde jetzt aber in einiger Entfernung ein Licht sichtbar. Es musste von einem Hause kommen. Das Beste schien zu sein, darauf gerade los zu gehen, oder vielmehr zu klettern, ohne nach dem verlorenen Wege zu suchen. Es gelang mir, den alten Papa hinabzubringen. Nun aber gerieten wir in ein brüchiges Wäldchen, sanken ein paarmal bis zu den Knieen ein und retteten nur mit Mühe unsere Stiefel. Endlich lag das Haus jenseits einer kleinen Wiese vor uns. Von den Leuten hörten wir, dass wir ganz falsch gegangen seien und leicht hätten verunglücken können. Da wir mit heiler Haut davongekommen waren, freuten wir uns beim schmackhaften Abendessen des erlebten kleinen Abenteuers.

Am andern Tage setzten wir den Weg über den Kamm fort, stiegen hinab und blieben zur Nacht auf dem »Künast«, dessen Ruine ich zeichnete. Am nächsten Morgen steckten wir leider in dichtem Nebel. Nach einigen Stunden hob und teilte er sich jedoch; von oben her brach die Sonne durch, und es war nun, als ob in der silbergrauen Wand überall Risse und Öffnungen wie Gucklöcher entstanden, durch welche Teile des Gebirges, Wälder, Felder, Dorfschaften sichtbar wurden, bis der leichte Wind mehr und mehr den Nebelschleier durchlöcherte, sodass zuletzt nur noch Fetzen davon an der Gebirgswand fern, oder an den Tannen dicht unter[78] uns hingen. Ein so herrliches Naturspiel hatte ich noch nie erlebt.

Bei der Rückreise (über Posen) musste streckenweise noch der enge Postwagen benutzt werden. Als wir die Eisenbahn erreichten, war das Wetter umgeschlagen; in der Nacht fror ich in meinen Sommerkleidern erbärmlich und konnte kaum die Ankunft in Königsberg erwarten. Das war meine erste »Reise«.

Auf diese glücklichen Tage folgte leider wieder eine sehr trübe Zeit, über die ich möglichst schnell hinwegeilen möchte. Mein Vater beabsichtigte, sich wieder zu verheiraten, wobei, wie die Dinge einmal lagen, rein praktische Erwägungen massgebend sein mussten. Ich war tief unglücklich über seine durchaus freundschaftliche Eröffnung, die mir eine schöne Illusion zerstörte, und musste überdies bald in Sorge sein, dass die »praktischen« Erwägungen den so ganz unpraktischen Mann auf gefährliche Wege führten, von denen ihn abzubringen wirklich nur mit Mühe gelang. Er heiratete dann im Juli 1855 eine wohlhabende schon ältere Dame, die verwitwete Superintendent Minna Neumann geb. v. Horn, die ihm zwar die geliebte Frau und uns die gütige Mutter nicht ersetzen konnte, aber meinem Vater bis an sein Lebensende herzlich zugethan war und seinen Kindern viel Gutes erwiesen hat.

Inzwischen hatte ich mein zweites Examen bestanden und war nun wirklicher Referendar. Ich wurde dem Königsberger Stadtgericht zur weiteren Ausbildung überwiesen. Es befand sich in dem ehemaligen Altstädtischen Rathause, einem recht kahlen Bau, an dem nur der sog. »Japper« historisch interessant war, ein am Turm angebrachter Kopf, der beim Schlagen der Uhr die Zunge ausstreckte. Ich machte da meine Stationen in üblicher Weise durch. Von den Räten, denen ich zugewiesen wurde, hat kein einziger den jungen Juristen wesentlich beeinflusst. Eine sehr liebenswürdige Persönlichkeit war der alte Gisevius, dessen Kollege[79] ich später wurde. Er sass in der zweiten Abteilung und stand in dem Ruf, sehr viel Zeit zu brauchen, bis eine Erbschaftsregulierung zustande kam. Einen Termin abzuhalten kostete ihm meist schwere Überwindung. Man sah ihn Vormittags oft mit einem dicken Aktenstück durch die Terminzimmer wandern, in der Hoffnung, einen Referendar abzufangen, dem er es dann mit der Versicherung zuschieben konnte, es handele sich um eine Kleinigkeit. Obgleich allgemein bekannt war, dass sie stundenlange und meist doch unfruchtbare Arbeit verursachte, gewann es doch selten einer über sich, den freundlichen Alten abzuweisen. Sobald er merkte, dass ich in Grundbuchsachen gut geschult war, fehlte es mir nicht an Beschäftigung.

Persönlich näher trat ich dem späteren Tribunalsrat Dr. Rudolf Reusch. Er war der Verfasser einer sehr brauchbaren »Anleitung zum Referieren und Dekretieren«, dichtete aber auch, namentlich in plattdeutscher Sprache und dann mit gutem Humor. Er stiftete das »Königsberger literarische Kränzchen«, eine Vereinigung von Herren und Damen, die regelmässig zusammenkamen, um einander und ihren Gästen Gedichte und kleine Abhandlungen vorzulesen. Eines der thätigsten Mitglieder war ausser ihm Professor August, Hagen (»Kunsthagen« genannt), Verfasser einer sehr schätzenswerten Geschichte des Königsberger Theaters und der »Norica«, aber auch einer grossen Zahl langweiliger Schauspiele, die nie die Bühne gesehen haben. Ich wurde durch Reusch hineingezogen und auch mit seiner liebenswürdigen, aber etwas wunderlichen Familie bekannt. Seine Mutter, die Frau Geheime Rätin (ihr Mann war als Kurator der Königsberger Universität sehr geschätzt gewesen), war eine herzensgute, geistig angeregte Frau, hielt erstaunlich viel auf eine gute Küche und soll, wie erzählt wurde, dafür gesorgt haben, dass ihre Söhne, wenn sie nachts aufwachten, neben ihrem Bett stets etwas zu essen fänden, besonders die berühmten Königsberger »Klopse«. Ihre Tochter Auguste hatte viel klugen[80] Verstand und Witz. Eine zweite war an den Regierungsrat v. Besser, einen Nachkommen des bekannten »Hofpoeten«, verheiratet. Der jüngste Sohn, damals Stadtrichter, wurde allgemein der »kleine Reusch« genannt, weil er etwas kindlich Unausgewachsenes hatte; auch er bestieg mitunter den Pegasus. Die Reuschs gehörten mit den Hagens, Hilberts zu den Familien, die zuerst die Strandidylle der Fischerdörfer Neukuhren, Sassau und Rauschen an der samländischen Nordküste entdeckten, treffliche und liebenswürdig-harmlose Menschen, aber mit etwas engem Gesichtskreis und ein wenig verliebt in ihr Thun. In dem Kränzchen wucherte üppig der Dilettantismus. Rudolf Reusch hatte die grösste Neigung, ihm eine Organisation nach Art der schlesischen Dichterschulen des XVII. Jahrhunderts zu geben, und empfand nicht die Komik eines geschäftlichen Apparats, der ganz ausser Verhältnis zu den Leistungen stand. Ich wirkte eigentlich nur aus Gefälligkeit gegen ihn mit, dämmte nach Kräften seinen Übereifer ein und fand übrigens hier für meine Dichtungen ein stets dankbares Publikum.

Zum Juristen, soviel davon in mir war, hat mich vornehmlich mein Onkel, der Justizrat Eduard Marenski, erzogen. Er nahm mich als Hilfsarbeiter in sein Bureau und zahlte mir für die tägliche Arbeit von einigen Stunden monatlich dreissig Thaler, wovon ich meine Bedürfnisse recht gut selbständig decken konnte, ohne von meiner Stiefmutter etwas annehmen zu müssen und noch weiter Unterricht erteilen zu dürfen. Marenski war ein ausgezeichneter Rechtsanwalt, ein feiner und scharfer Kopf, auch literarisch ungewöhnlich gebildet, guter Redner und als solcher auch in der Loge hochgeschätzt, in der er zu den obersten Würden aufstieg, genial in seinem Wesen, gesellschaftlich stark beansprucht, ungemein freigebig und deshalb tausendfach missbraucht. Bei seiner übergrossen Praxis hatte er die Gewohnheit, Informationen auf irgend ein Stück Papier mit Blei- oder Blaustift in wahren Hieroglyphen zu schreiben,[81] und diese Zettel häuften sich dann in seinem Cylindre-Bureau zu wahren Bergen. Von Zeit zu Zeit, wenn er keine freie Schreibestelle mehr fand, wurde dieser Raum gesäubert; ganze Stösse von Papier wanderten auf meinen Schreibtisch, wonach ich nun versuchte, aus den Notizen die Schriftsätze herzustellen. Oft eine sehr schwierige Arbeit, da viel erraten sein wollte, aber die trefflichste Übung für den jungen Juristen. Mitunter war die Entzifferung doch nicht möglich, und nun galt es die Zeit abzupassen, in der mein Onkel mir ein halbes Stündchen widmen konnte. Es kam wohl vor, dass er seine Zeichen selbst nicht deuten konnte. Dann half ihm aber sein ausgezeichnetes Gedächtnis. Ich sehe ihn noch im Zimmer auf- und abgehen, die Hand am Kinn, die Augen in sich gekehrt. Kam er der Sache erst auf die Spur, so setzte er bald den ganzen verwickelten Rechtsfall in allen Einzelheiten mit entzückender Klarheit und Treffsicherheit auseinander. Oft wurde eine Art von Feldzugsplan entworfen, wie man dem Gegner am geschicktesten beikommen, erst einen Teil der Angriffsmittel bringen und Entgegnungen abwarten, nun ausweichen, nun zuschlagen solle. Dabei war allemal viel zu lernen. Er besass auch eine reichhaltige juristische Bibliothek, deren beste Benutzung er mir an die Hand gab. Ich hatte bald die Freude zu bemerken, dass er mit mir zufrieden war und mir grosses Vertrauen schenkte. Es gelang mir mit der Zeit, in sein Bureauwesen Ordnung zu bringen, leider nicht auch in seine Finanzverwaltung: er wirtschaftete zu gern aus der Westentasche. Ich arbeitete bei ihm, bis ich zum dritten Examen nach Berlin ging.

Quelle:
Wichert, Ernst: Richter und Dichter. Ein Lebensausweis, Berlin und Leipzig 1899, S. 65-82.
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