XIX.

»Richter und Dichter«.

[261] So bin ich also zweiundvierzig und ein halbes Jahr im Staatsamte gewesen, die letzten fast neunzehn Jahre als Rat eines Oberlandesgerichts. Das Kammergericht ist auch ein solches und zugleich inbetreff gewisser Rechtsfälle oberste Instanz für Preussen.

Ich habe während dieser Zeit mehr als dreissig Theaterstücke, achtzehn Romane, viele davon drei-einer sogar fünfbändig, sechszig Novellen, eine nicht geringe Zahl von dramaturgischen, politisch-historischen und anderen Artikeln, Gedichten pp. verfasst, auch, was in solchem Fall unvermeidlich, eine umfangreiche Korrespondenz geführt – eine schriftstellerische Thätigkeit, die schon an sich für ausreichend erachtet werden könnte, einen nicht unfleissigen Arbeiter voll beschäftigt zu haben. Nun nimmt man aber, und mit gutem Grund an, dass der preussische Richter, auch wo er nicht überbürdet ist, doch genug zu thun hat, seinen Tag für ernst verbracht zu halten, wenn die amtlichen Geschäfte erledigt sind; es wird geklagt, dass nicht einmal genügend Zeit zu wissenschaftlicher und gar schönwissenschaftlicher Lektüre bleibe. Deshalb ist mir, wie man sich denken kann, sehr oft Verwunderung darüber ausgesprochen, dass es mir möglich sei, die juristische und schriftstellerische Thätigkeit miteinander[262] zu verbinden, und die Frage vorgelegt, wie mir beides in solchem Umfang zu betreiben habe gelingen können. Dass ich eben ungewöhnlich fleissig gewesen sei, wollte keine genügende Erklärung scheinen. Sie ist es auch nicht.

Ob ich als Schriftsteller Gediegeneres und Reiferes geleistet hätte, wenn ich nur Schriftsteller gewesen wäre, wird dahingestellt bleiben müssen. Ein solches Urteil könnte sich nur durch den Nachweis begründen lassen, dass meine dichterischen Fähigkeiten zu grösseren Erwartungen berechtigten und andererseits in meinen dichterischen Erzeugnissen die Flüchtigkeit bemerkbar werde, mit der sie wegen Zeitmangels hätten konzipiert und niedergeschrieben werden müssen. Ich darf jedenfalls versichern, dass mir, so wenig mich auch sonst die öffentliche Kritik geschont hat, der Vorwurf leichtsinniger Schreibweise nicht erinnerlich ist. Wer auch nur die Masse an Vorarbeit kennen würde, welche meine historischen Romane und Dramen erforderlich gemacht haben, könnte mir schwerlich das, an sich ja noch wenig bedeutende Lob treuer Pflichterfüllung auch in meinem schriftstellerischen Beruf versagen. Die meisten meiner dramatischen Arbeiten sind fünf- und mehrmal umgearbeitet und neu geschrieben worden, ehe ich sie herausgegeben habe, und auch meinen Novellen hat eine sorgfältige Feile nicht gefehlt. Dabei bin ich, auch im ersten Entwurf, nie ein Schnellschreiber gewesen, habe nie diktieren können; es war immer meine Gewohnheit, einen Satz nicht eher aufzuschreiben, bis ich ihn in Gedanken vollständig formuliert hatte, was Zeit kostet, wie jeder Sachkundige weiss.

Dass ich als Jurist, wenn ich nur Jurist gewesen wäre, wissenschaftlich gearbeitet und auch wohl meine praktischen Arbeiten mehr wissenschaftlich zu befestigen bemüht gewesen wäre, ist mir sehr wahrscheinlich. Damit würde ich dann aber schon meinen meisten Kollegen eine Stufe voraus gewesen sein. Als praktischer Jurist meine ich jederzeit meine Schuldigkeit gethan zu haben – freilich auch selten mehr.[263]

Dann bin ich also wohl nicht voll angespannt, sondern stets »geschont« worden! Dieser Meinung begegnete ich natürlich oft. Aber sie ist grundfalsch. In meiner Vorbereitungszeit habe ich wie jeder andere dafür sorgen müssen, die Examina bestehen zu können, (damals wusste man von meinen schriftstellerischen Neigungen auch noch nichts), und in der richterlichen Thätigkeit giebt es fest abgegrenzte Decernate, die von einem Arbeiter auf den andern übergehen, und eine bestimmte Zahl von Sitzungen, deren Wahrnehmung unerlässlich ist. Soweit die einzelnen Sachen von den Präsidenten zugeschrieben werden, wäre ja die Absicht einer Bevorzugung denkbar; aber es lässt sich dem ersten Eingang fast nie ansehen, welche Summe von Bemühungen erforderlich sein wird, den Fall zu erledigen, und in einem Kollegium würde auch die ungleiche Verteilung der Lasten gar nicht gewagt werden können. Ich glaube nicht, dass meine Kollegen mich jemals für begünstigt gehalten haben. Nur Leistungen, die besonders remuneriert wurden, bin ich stets von mir abzuwehren bemüht gewesen, nicht immer mit Erfolg. Was mir zu thun oblag, habe ich mit allem Fleiss verrichtet. Ich meine behaupten zu können, dass ich nie auf dem Restenzettel gestanden habe. Aus der eigenen Mitteilung meines letzten sehr verehrten Chefs weiss ich, dass er, um jedes leicht erklärliche Misstrauen zu beseitigen, meine Akten durchgesehen, sich dabei aber überzeugt hat, dass ich wie jeder andere meinen Strang gezogen und mir das Leben nicht bequem gemacht habe.

Wie erklärt sich also dieses Vollmass der Doppelarbeit?

Zunächst wohl aus der körperlichen Gesundheit, die mir mit geringen Unterbrechungen erlaubt hat, meine Zeit bis auf die letzte Minute auszunutzen, täglich vom Morgen bis meist über Mitternacht hinaus thätig zu sein. Wenn man in der günstigen Lage ist, dauernd im Durchschnitt zwölf statt sechs Stunden arbeiten zu können, so lässt sich in[264] einer Reihe von Jahren schon etwas fördern. Meine gewöhnliche Lebensordnung war auch darauf eingerichtet, Zeit zu sparen. Morgens pflegte ich mir nur die notwendigsten Kleidungsstücke überzuwerfen und erst kurz vor dem Ausgehen, wo dann schon alles zum Zugreifen bereit lag, oder in der sonst doch unbrauchbaren Stunde nach dem Mittagessen vollständige Toilette zu machen. Was Ermüdung sei, habe ich kaum gekannt; nur in ganz seltenen Fällen haben sich die Nerven merkbar gemacht, sodass ich mit Recht versichern konnte, ich besässe wahrscheinlich gar keine. Auch ist mir das übliche Erholungsbedürfnis eigentlich immer fremd gewesen; erst in den letzten Jahren bin ich dem Rat des Arztes gefolgt und täglich eine Stunde spazieren gegangen. Dazu suchte ich mir dann immer je nach der Jahreszeit diejenige Abendstunde aus, die zu anderen Dingen am schlechtesten nutzbar war. Selbst in der Sommerfrische konnte ich nie ganz ohne die gewohnte Beschäftigung sein. Erholung ist mir stets der Wechsel der Arbeit gewesen, in diesem Sinne oft auch die langweiligste Aktenarbeit nach starker produktiver Anspannung oder nach jener das Lesen eines nicht ganz leichten Buches. Irgend eine Freistunde hat sich fast an jedem Tage gefunden; ich habe aber auch selbst nach langen Gerichtssitzungen nur ein wenig Schlaf und eine Tasse Kaffee gebraucht, um gleich wieder leistungsfähig zu sein. Das »nulla dies sine linea« hat sich auch mir bewährt.

Dabei habe ich entweder von Anfang an die Fähigkeit besessen oder sie mir in langer Übung angewöhnt, geistig zwei Dinge nebeneinander in der Weise betreiben zu können, dass keins das andere störte. Ich hatte gleichsam zwei gesonderte Arbeitsräume zu meiner Verfügung, konnte aus dem einen in den andern gehen und die Thür so fest schliessen, dass gänzlich aus meinem Gedächtnis entschwunden war, was ich soeben noch in jenem getrieben hatte. Ich war also immer ganz bei der Sache und konnte auch beliebig[265] abbrechen, um mich später wieder ohne besondere Mühe auf den verlassenen Punkt zurückzufinden. Die produktive Stimmung ging nicht verloren, wenn sie auch längere Zeit ausgeschaltet werden musste, und ebenso war eine juristische Arbeit für mich gänzlich abgethan in dem Augenblick, in dem ich die Feder aus der Hand legte, wie es mir denn bei ihr auch zu statten kam, dass ich mich rasch zu entscheiden vermochte.

Nun hat aber auch die richterliche Thätigkeit das Besondere, dass sie, abgesehen von den Sitzungen und Terminstagen zwei- oder dreimal wöchentlich, nicht an eine vorbestimmte Zeit gebunden ist. Sie kennt glücklicherweise keinen Bureaudienst. Ich konnte mir daher die Aktenarbeit legen wie ich wollte, und ich legte sie mir so, dass sie mir nach Möglichkeit die Vormittage frei liess. Dies war freilich nur dadurch zu erreichen, dass ich abends so lange Dekrete, Voten und Erkenntnisse schmiedete, bis ich amtlich völlig aufgeräumt hatte, sodass ich dann am andern Tage nichts zu thun fand und gar keine Pflicht versäumen konnte. Sehr oft habe ich zu diesem lockenden Ziel noch lange gearbeitet, wenn ich aus der Gesellschaft oder dem Theater nach Hause kam. Nie aber bin ich »morgens auf's Bureau mit Akten, abends auf den Helikon« gegangen; meinen schriftstellerischen Arbeiten habe ich immer die frischeste Zeit des Tages gewidmet, wenn sie nicht überhaupt ruhen mussten.

Mich vom gesellschaftlichen Leben ganz fern zu halten, lag weder in meiner Neigung, noch wäre es ausführbar gewesen: Freunde und Kollegen wollten besucht und aufgenommen sein, bei öffentlichen Festlichkeiten durfte ich nicht fehlen, und später forderten die Töchter ihr Recht, auf Bälle geführt zu werden. Das Theater wurde häufig besucht (wenn auch oft nur für ein paar Akte), ein gutes Konzert nicht versäumt, und Schriftsteller-, Sänger- und Künstlervereine durften nicht vernachlässigt werden. Aber ich schränkte[266] mich freilich ein, so viel ich konnte. Und was mir besonders half: ein so starker Raucher ich stets gewesen bin, dem Kneipenleben habe ich nie einen Gefallen abgewinnen können, (Bier trinke ich überhaupt nicht), ebenso wenig dem Kartenspiel, damit aber viel Zeit erspart, sodass ich stets davon auch noch etwas für die Familie übrig hatte, wenn auch selten soviel, als ihr lieb sein mochte.

Dennoch hätte mir's kaum gelingen können, mein Talent fruchtbar zu machen, wenn meine häuslichen Verhältnisse nicht die glücklichsten gewesen wären. Obgleich wir uns anfangs und noch längere Zeit mit nur drei kleinen Stübchen begnügen mussten und die Kinderzahl wuchs, steht es doch in meiner Erinnerung fest, dass es immer still um mich war, wenn ich schriftstellerisch arbeitete. (Während der Aktenarbeit stand meine Thür immer offen und durfte auch nebenan gesprochen werden). Das habe ich der rücksichtsvollen Sorge meiner trefflichen und lieben guten Frau zu verdanken, die mir auch Aufregungen zu ersparen und mich selbst in den Jahren, in denen unser Einkommen noch recht karg bemessen war, vor allen drückenden Sorgen zu bewahren verstand. Wir sind in allen Lebenslagen gute, nicht nur durch innigste Herzensneigung, sondern auch durch echte Freundschaft verbundene Gefährten gewesen. Und wir wussten uns nach der Decke zu strecken; bei gutem Humor konnten wir uns einbilden, noch immer mehr zu haben, als wir brauchten, weil wir weniger brauchten, als wir hatten. Auch als später das Gehalt sich erhöhte, Honorare und Tantiemen zuflossen, steigerten wir unsere Bedürfnisse immer nur in bescheidenen Grenzen und bürdeten uns nichts auf, was uns künftig hätte lästig werden können. So befand ich mich dauernd in einem Zustande von Ruhe und Behaglichkeit, noch durch die zärtliche und pietätvolle Rücksichtnahme der sehr lieben Kinder verstärkt, und konnte innerlich ungestört mit dem beschäftigt bleiben, was meine Phantasie gestaltete. Ich war nicht einmal genötigt,[267] ängstlich darauf zu denken, dass meine Produktion auch einträglich würde: ich habe stets nur aufgeschrieben, was mir selbst des Aufschreibens wert schien, und dann erst gefragt, wie und wo es sich nutzbar machen liesse, deshalb hat es mich auch nie sonderlich beunruhigt, wenn sich etwas als verfehlt ergab oder der Erfolg ausblieb; ich hatte Zeit zu warten, ob etwas neues besser gelingen möchte. Regte sich einmal das bittere Gefühl der Entäuschung, so sorgten die Meinigen liebreich dafür, dass es nicht von langer Dauer war. Dabei herrschte stets in der Hauskritik meiner dichterischen Erzeugnisse volle Aufrichtigkeit; sehr oft hat der Eindruck der ersten Vorlesung im Familienkreise auf die Nacharbeit grossen Einfluss geübt. Zugleich wurde meiner Gewohnheit, über Werdendes nicht zu sprechen, allezeit freundlich Rechnung getragen.

Wenn mich hiernach die Juristerei nicht hinderte, meine dichterischen Neigungen zu betätigen, so kann ich ihr freilich auch nicht nachsagen, dass sie dieselben direkt fördernd beeinflusst hat. Die Annahme, dass interessante Rechtsfälle reichlich Stoffe zu Romanen und Novellen hergeben müssten, ist irrtümlich; wenigstens habe ich die Erfahrung gemacht, dass in den allerseltensten Fällen von daher auch nur ein Anstoss gegeben wird. Nicht zu leugnen aber wird sein, dass der Einblick in die verstecktesten Beziehungen des geschäftlichen Lebens und der inquisitorische Verkehr mit Leuten der verschiedensten Alter, Stände und Berufsarten bei prozessualen Verhandlungen und Zeugenvernehmungen viel Lebenserfahrung und Menschenkenntnis einbringt, die dann literarisch nutzbar werden können, und dass die fortwährende Nötigung, klar zu sehen, das Zufällige auszuscheiden und jeden Satz möglichst scharf zu formulieren, auch die Denk-und Schreibweise des Schriftstellers ergreifen mag, was dann freilich ihr ebenso gut Nachteil wie Vorteil bringen kann.

Wie mich gerade meine amtliche Stellung in Verhältnisse[268] brachte, die mir den Stoff zu Erzählungen, namentlich zu den litauischen Geschichten vermittelte, und wie frei ich mich in ihr fühlen und bewegen durfte, ist schon angedeutet. Alles in allem ist mir das Amt, wie schwer es mir auch manchmal durch seine Arbeitslast die Schulter gedrückt hat, ein Segen gewesen. Es gab mir einen festen Rückhalt, eine sichere Position in der bürgerlichen Gesellschaft, eine geordnete Thätigkeit, und beengte mich doch lange nicht so weit, als sich jeder andere, der für seinen und seiner Familie Unterhalt Dienste zu thun genötigt ist, (und von der Schriftstellerei allein zu leben, hat seine Schwierigkeit), zumal in der Abhängigkeit von Privatpersonen oder vom Publikum, beengt fühlen muss. Auf meine religiösen, politischen und sozial-politischen Anschauungen ist nie auch nur der leiseste Druck geübt, und die oft scharfe Beurteilung, die der Schriftsteller öffentlich erfahren hat, berührte, auch in den Augen der Oberen, den Richter nicht. Ich glaube, es wäre mir auch nicht schwer geworden, eine höhere Staffel in der Beamtenlaufbahn zu erreichen, wenn ich mich darum bemüht hätte; aber dann würden allerdings amtliche Rücksichtnahmen meinerseits sich haben geltend machen müssen, mit denen meine schriftstellerische Freiheit nicht gut bestehen konnte. Ein solcher Ehrgeiz hat mir stets ferngelegen. Ich mochte nicht in eine dirigierende Stellung, die mir eine Verantwortlichkeit für andere auflegte, und ich hatte auch keine Lust, eine ungemessene Arbeitsverpflichtung zu übernehmen. Dass ich aber das mir sonst so liebe Amt quittierte, sobald es ohne Verletzung irgend einer Pflicht geschehen konnte, wird verstanden werden: es forderte in den letzten Jahren zu oft den ganzen Arbeiter für sich, und das zunehmende Alter mahnte, die Kräfte zu sparen und fortan nicht mehr in zwei Diensten thätig zu sein. Da entschied ich mich selbstverständlich für den andern. –

Quelle:
Wichert, Ernst: Richter und Dichter. Ein Lebensausweis, Berlin und Leipzig 1899, S. 261-269.
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