IV.

[58] In schwarzer Nacht war der Zug in der Grenzstation Bodenbach eingefahren. Ich lugte neugierig aus dem Kupeefenster, und das Erste, was ich beim matten Schein der Gaslaternen erblickte, war das Manifest des Kaisers: »An meine Völker«. Auf der Station gab es viel Bewegung, viel wichtige Geschäftigkeit; abeo eine unheimliche, bleierne Beklommenheit lag über allem: Dey häßliche Auftakt des Krieges, dem gähnenden Hauch des Raubtieres vor dem Mordsprung ähnelnd. – Mein Vater war damals Direktor der großen Bierbrauerei in Fünfhaus bei Wien. Zu ihm reiste ich. Überall, auch in diesem Vorort, an allen Ecken und Enden, das mannshohe Plakat: »An meine Völker«. In allen Schaufenstern Karikaturen des Königs der »Butterbemmenesser« und seines Premiers Bismarck. Daneben sah man Napoleon III. als verhetzenden Reineke dargestellt, oder wie er auf der Spitze seines hochqedrehten Schnurrbarts die Erdkugel balanciert. Besonders beliebt war das zahllos reproduzierte Blatt: »Wo is Preiß?« Es stellte einen magyarischen Husaren mit schneidig ansaewichsier Schnauze dar, wie er auf feurigem Rössel voraussprengt und mit geschwungenem Säbel herausfordernd den Feind sucht. Ähnlich wie ein Stück, das keinen Beifall findet, langsam vom Spielplan verschwindet, so nach und nach dieser illustrierte Chauvinismus aus den Schaufenstern beim Eintreffen ungünstiger Kriegsnachrichten. Den Kaiser Franz Joseph, der in seinem Lustschlosse Schönbrunn residierte, sah ich täglich, 8 Uhr früh, in offener Kutsche, sein Söhnchen Rudolf ihm gegenüber, durch die Fünfhauser Hauptstraße nach der »Burg« fahren. Und je ungünstiger die Berichte aus dem Felde kamen, man könnte sagen in gleichem Tempo, steigerten sich die täglichen Kundgebungen der Sympathie für den Träger der Krone; ein Beweis vom Taktgefühl »seiner Völker«. Der siebentägige Bruderkrieg war[58] bereits entschieden, Österreich geschlagen, und noch erfand die Verzweiflung des Volkes Gerüchte wie: »Der Benedek hat's Zentrum g'sprengt.« Oder: »Er hat die Preußen absichtlich ins Reich gelockt, um sie bei Wien zu vernichten.« Das »Thalia-Theater«, ein riesengroßer, längst wieder abgebrochener Holzbau am »Lerchenfelder Grund«, brachte damals als Benefiz für unsere »braven Blessierten« einige Räuberaufführungen. Der Veranstalter hatte sich für die löbliche Sache vom Kriegsministerium Roß und Reiter zu verschaffen gewußt und annoncierte warm patriotisch, aber hochverräterisch im Stil: »unter Mitwirkung von sechzig Pferden und hundert Räubern aus der K. K. Alserkaserne«. Für einen Abend wurde mir die Rolle des Franz anvertraut. Im letzten Akt, da er gefangen seinem Räuberbruder ausgeliefert wird, wurde ich auf ein feuriges Ungarpferd gelegt. Ein sonnverbrannter Sohn der Pußta, in seiner Originaluniform, der typischen Figur auf jenem Bilde: »Wo is Preiß« nicht unähnlich, bestieg neben mir seinen Rappen und hielt mich am Kragen meines Überwurfes fest. Aus dem Hofraum ging es sodann in gestrecktem Galopp über die Auffahrt und Riesenbühne bis knapp an die Rampe. Schon glaubte ich, hinüber gehe es ins Publikum oder gar in die Ewigkeit – da, ein kurzer, bremsender Ruck der sehnigen Hand des katzengeschmeidigen Husaren, begleitet von einem schneidigen Prr, und die Pferde standen wie Bildsäulen. Darauf warf mich der Reitersmann, gleich einem erlegten Hafen, einer Gruppe von Räubern zu, die mich ihrerseits wieder in eine Ecke der Kolossalbühne schmissen, wo ich, um mich lerchenfelderisch auszudrücken, wie »a Schippel Boaner« (Häufchen Knochen) liegenblieb. Roß, Reiter und – als der Dritte im Bund – Franz fanden jubelnden Beifall. – Dr. Frankel, der Direktor des damals künstlerisch hochstehenden Stadttheaters in Brünn, erfuhr von meiner Lerchenfelder Karriere[59] zu Pferd und meine schauspielerische war angebahnt: er engagierte mich für erste Rollen an die von ihm mit Feinheit geleitete Bühne. Und so spielte denn der ohne Unterricht entlaufene Komödiant der Schmiere, noch nicht neunzehn Jahre alt, an einem Theater von Ruf das ganze Charakterfach. In der »Wiener Neuen Freien Presse« vom 24. Januar 1867 begann ein Referat: »Aus Brünn erhalten wir einen enthusiastischen Bericht über die Leistung eines jungen, am dortigen Stadttheater engagierten Schauspielers, Herrn Wohlmuth, als Richard III., der die Kühnheit hatte, Shakespeares Riesentragödie zu seinem Benefize zu geben. Wir sind gegen Provinzerfolge zwar mißtrauisch, dem ungeachtet ...« Aber »Prr«, wie es mein Husar mit seinem feurigen Rosse machte; denn nur das, wovon ich glaube, daß es mein bewegtes Leben besonders illustriert, will ich hier melden, nicht aber mit Lorbeeren, vergilbt und vermodert wie das aufbewahrte Blumensträußchen, mit dem uns die Geliebte vor fünfzig Jahren beglückt, den Leser ennuyieren. Was für Augen aber machten meine Lehrer, die profanen und die aus der Klosterzelle, bei dem Ereignis für Brünn! Wie lange war's her, da sie prophezeiten: »Der wird auch einmal auf dem Mist krepieren«, und nun, nach wenigen Jahren, prangte ich in Titelrollen auf dem Zettel des Königl. städt. Theaters. Einer von ihnen rief mir, sooft er mich sah, zu: »Sie sind meine liebste Blamage!« Ein Jahr spielte ich in Brünn, dann ergriff mich die Wanderlust, und trotz aller Vorstellungen Frankels verließ ich meine Vaterstadt. Zu meinem Unheil! Um bei der Bühne fortzukommen, gehören nicht nur Fähigkeiten, und das, was man »Kopf« nennt, sondern vor allen Dingen Hinterkopf: Lebensgeschick, Klugheit. Damit war's aber bei mir, wie man in München sagt, »weit g'fehlt«. Davon besaß ich nichts, radikal nichts. Blicke ich jetzt zurück, so muß ich mich wundern, daß die Sache noch so glimpflich abging;[60] denn das reale Leben war für mich ein Urwald, in dem ich planlos irrte. Dazu das ehrsüchtige Streben: ich muß ans Ziel kommen, augenblicks; ich fühle in mir das Recht, dazu ..., es verdarb vollends alles. Wer aber am Billettenschalter vorwärtsdrängt und die Vorstehenden überspringen möchte, wird zurückgewiesen, muß sich nochmals anstellen und kommt nur um so später an die Reihe. – Nach mancherlei Schicksalen kam ich im Herbst 1888 nach Wismar in Mecklenburg-Schwerin. Den Reisesack in der rechten, Stock und Regenschirm in der andern Hand, ein paar lange Degen und Rapiere unterm Arm, so trat ich ins Tor der Gastwirtschaft des Herrn Habich. Der kleine, rundliche Wirt zeigte sich freundlich und brachte mich auf ein Biedermeierzimmer, so behaglich lächelnd wie er selbst. – »Herr Neustätter zu sprechen?« Mit dieser Frage betrat ich das Zimmer des Theatermächtigen. Der Theaterdiener darauf: »Wen soll ich dem Herrn – mit Betonung – Direktor Schönerstätt melden?« O weh, gleich zwei Dummheiten in einem Atemzug! So ein Theaterdirektor ist gar ein großer Mann, ein Götzenbild; demnach ein schlimmes Entree. Mein Prüfstein war der Papa in dem zuckersüßen Rührstück »Muttersegen«, ein »fauler« Segner, der am Schluß die Hände der Liebenden unter Musikbegleitung – denn wo die Dummheit am höchsten, ist das Melodram am nächsten – ineinander zu fügen hat. Eine gar magere Gelegenheit, Talent zu beweisen! Das ganze Debüt war übrigens nichts als eine Falle; denn Direktor Schönerstätt wollte mich los sein, weil ich ihm für das Fach viel zu jung erschien; und zu leugnen war's nicht, daß ich mit fast zwanzig Jahren zu meinem Pech geradezu knabenhaft aussah. Nach vierzehn Tagen hatte ich also meinen Abschied.


»Doch dem Guten ist's zu gonnen,

Wenn des Abends sinkt die Sonnen,[61]

Daß er in sich geht und denkt,

Wo man einen Guten schenkt«,


singt der alte Barde Schartenmeier. In der Gaststube der Habichschen Wirtschaft befand sich ein großer, runder Tisch, an dem sich allabendlich ein biederer Kreis, dem es so recht »zu gonnen« war, zusammenfand: Schiffsreeder, Gutsbesitzer usw. Breite, gesunde Typen, an denen Fritz Reuter seine Freude gehabt hätte, ja von denen vielleicht schon einer oder der andere des Meisters ahnungsloses Modell gewesen; denn er kam ab und zu nach Wismar und dann auch ins Habichsche Lokal. Als ich nun dem Stammtisch, an dem auch ich jeden Abend saß, mein Mißgeschick eröffnete, herrschte Trauer; denn, ich weiß selbst nicht warum, aber diese ehrenfesten Männer waren mir alle herzlich gewogen. »Mut, mein guter Wohlmuth,« sagte einer der Gönner, der Gymnasialdirektor Dr. Ahnding, »fahren Sie nach Schwerin – in einem Tag sind Sie hin und zurück – und stellen Sie sich dem Intendanten des Hoftheaters vor, vielleicht haben Sie Glück.« Tags darauf, in aller Früh, ging's in die Residenz des Ochsenkopfes! Der Generalintendant, Freiherr Alfred von Wolzogen, aus dem durch Weimar zum zweiten mal geadelten Geschlecht, Vater des bayerischen Fahnenträgers Richard Wagners Hans und des schneidigen Chansonettenfängers Ernst, empfing mich in seiner Wohnung und ließ mich auf der Stelle loslegen. Ich sprach Zangas Kriegserklärung aus Grillparzers »Traum ein Leben« und den Monolog Richard III. aus dem fünften Akt, in welchem der Fürchterliche sich aus einem würgenden Alpdruck wachreißt. Als ich zu Ende war, sagte v. Wolzogen: »Sehr realistisch, sehr packend, sehr getroffen.« Und nach einer kurzen Pause des Nachdenkens: »Kommen Sie nachmittags ins Theaterbüro, vielleicht ...« In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Emil Devrient,[62] der zurzeit in Schwerin ein Gastspiel gab, trat ein. Zwei elastische Gestalten, mit allen Allüren vollendeter Aristokraten, schüttelten sich die Hände. Wolzogen stellte mich dem klassischen Helden mit der subtil-frisierten Perücke, einem Meisterwerk Dresdener Haarvirtuosen, mit den Worten vor: »Ein junger Österreicher, der mir soeben mit Shakespeare warm gemacht.« – Als ich mich zur angegebenen Zeit im Theaterbüro einfand – lag auch schon der Vertrag bereit. »Hier liegt der Kontrakt«, sagte v. Wolzogen, »hoffentlich unterzeichnen Sie! – Gleich freilich kann ich Sie leider nicht hier behalten: wir haben kein Geld. Aber im April können Sie kommen. Herr Hofpauer will gehen, und damit wird eine kleine Gage frei.« Es war von dem Münchner Schauspieler und Rezitator die Rede, der damals, noch im Flügelkleide, jugendliche Liebhaber säuselte. »Ein trauriger Winterschlaf, Herr Baron!« seufzte ich – unterfertigte aber. – Am Abend war ich wieder in Wismar, und schnurgerade ging's zu Habich. Als ich die altväterliche Kneipstube, wo meine wackeren Freunde, darunter lustige Schmerbäuche, die wie Falstaff seit einem Menschenalter ihr Knie nicht gesehen, Austern schlampampten, freudig bewegt betrat und meinen Kontrakt hochschwang: da war der Jubel groß, und der steife Grog floß und heizte wie ein Kachelofen. Die Tafelrunde, die merkwürdigerweise trotz meiner Wortkargheit und Weltbangigkeit Spaß an mir fand (besonders belustigte sie mein tägliches Abendessen, bestehend aus Kaffee und Bratkartoffeln), beschloß, daß ich den Winter in Wismar zubringen soll. In echt deutscher Weise wurde sogleich organisiert und eine Arbeitsteilung festgelegt: Habich, der Gastwirt, habe für den Magen zu sorgen und das magere »Kirlchen« mecklenburgisch herauszufüttern; ein Aufopfernder übernahm die Kehle, für den Kopf hatte der liebenswürdige, intelligente Gutsbesitzer Koch zu sorgen durch Herbeischaffung[63] von Büchern. Wenig Glück hatte ich mit der Wohnung. Die alternde Witwe, bei der ich ein kleines Zimmer gemietet hatte, schien über den Begriff Sauberkeit ähnlich philosophisch zu denken, wie Falstaff über den der Ehre: »Was ist Sauberkeit? Kann sie mir einen zweiten Mann schaffen? Kaum! Also weg mit ihr – ich mag sie nicht.« Leises Grauen überkam mich, wenn sie morgens erschien, mir den Kaffee zu bringen. Ach, wie viele Winterfliegen waren bereits in diese Monstre-Tasse todesmatt abgestürzt; arme Tiere! Aber ihr hattet überwunden – dagegen ich Ärmster ... Nein, getrunken wird die Brühe nicht. Was aber anfangen mit ihr? Stehen lassen? »Wer aber eine Witwe beleidigt, der sündigt zwiefach.« Aus dem Fenster schütten? Das Auge des Gesetzes wacht. Doch warum heftet sich mein Blick auf jene Stelle? – Lugen da nicht aus der Ecke die zwei Kolossalstiefel ihres Seligen, des Schiffslotsen?! Wink des Schicksals! Vorsichtig verriegelte ich jedesmal die Türe, um bei der schwarzen Tat nicht ertappt zu werden, und goß darauf den greulich grauen Absud in die einst wasser-, jetzt auch kaffeedichten Kolossalstiefel des Seemannes. Und das Tag für Tag, bis sie so voll waren, als sollten sie dem »von Rothenstein« kredenzt werden. Die Katastrophe blieb nicht aus: denn einst bei der leidenschaftlichen Rezitation eines Monologes erzitterte der Estrich, die Juchtenen gerieten ins Wanken, und weil mir, wie in allen wichtigen Momenten meines Lebens, auch hier die Geistesgegenwart gebrach, schnell einzugreifen, neigten sie sich und erbrachen ihre häßliche Fülle –, eine lehmfarbige Sintflut – richtiger, in Anbetracht meiner Missetat, wie das Volk sie sinnvoll umtaufte, Sünd flut – bildend. – Von meinen Freunden ermutigt, hielt ich im ersten Lokal der Stadt einen Shakespeare-Vortrag, der sehr viel Anklang fand. Im übrigen vertrieb ich mir damit die Zeit, Verschen zu schmieden unter dem Motto:[64] »Das Schlechte tadeln, heißt das Gute adeln.« In Decken gehüllt saß ich in meiner ungeheizten Stube oft bis zum Hahnschrei und leimte Epigramme. Das Beste davon, wenn auch in der Form mangelhaft, war das auf einen aufgeblasenen Schauspieler:


»Er ist die Sonne unter uns.

Nimmt euch das wunder?

Bei Tage glänzet sie,

Doch abends geht sie unter.«


Der bekannte Fritz Reuter-Verleger Hinstorff, der mir, seitdem er meinen Vortrag gehört, Interesse entgegenbrachte, erfuhr die Sache, ließ sich die kleinen Sprüche vorlesen und – verlegte sie! Mein Stolz war unbeschreiblich, das dünne Heftchen kam wochenlang nicht aus meiner Brusttasche. Eines Tages erschien der berühmte Buchhändler in meiner Zelle und sagte: »Ziehen Sie sich doch flink Ihren besten Rock an, Fritz Reuter kommt in einer halben Stunde mit dem Zug aus Rostock: wir beide und der Dichter Winkler, der schon zur Bahn gelaufen, wollen ihn empfangen.« Ich war zwar sehr glücklich, aber von der ungewöhnlichen Ehre, die mir durch die Aufforderung widerfuhr, davon hatte ich damals doch keinen vollen Begriff. Wir warteten auf dem Bahnhof – der Zug lief ein. – Wo ist er? ... Niemand steigt aus? ... Sollte er doch nicht –? – Winkler, der alle Kupees eifrigst abpatrouilliert hatte, ruft: »Doch, – da – – aber ...« – »Was denn?« – »Aber –«. »Ach so!« seufzte Hinstorff. Winkler: »Leider!« Hinstorff fast gerührt: »Mein alter, lieber Freund! – Na, heben wir ihn raus! ...« Es geschah –. Ich aber drückte mich; ein Jammer erfüllte meine Seele, daß mir die Tränen nahe waren. Abscheuliches Gefühl, einen Großen klein zu sehen! Hätte ich nur das Glück gehabt, ihn darnach noch einmal anders[65] zu sehen! Es war mir nicht beschieden, und ich kann, soviel ich mich auch bemühe, den damaligen Eindruck nicht loswerden. Armer Reuter! Wer wie Du sieben Jahre im Gefängnis um seinen Kopf gebangt, greift leicht zum Glas, das vergessen macht. Traurige Philisterseele, die das nicht begreift!

Nach einem unvernünftig vertrödelten Winter ging's mit dem Ostergeläute nach Schwerin. Wolzogen verstand es, mich schnell ins Repertoire einzuschmuggeln. Obgleich das Hoftheater einen Schauspieler hatte, der kontraktlich im Besitze des ersten Charakterfaches war, steckte er mir, wo nur möglich, Rollen zu. So z.B. den Geizigen, Gringoire, Hans Jürge, Michel Perrin – in dem gleichnamigen Stück usw. Auch den Questenberg im »Wallenstein« spielte ich. Wolzogen gehörte zu den Übeltätern, die die mächtige Trilogie in die spanischen Stiefel eines einzigen Abends zwängten. Recht und Pflicht des Gärtners ist es, den Baum zu beschneiden, nur muß es nicht allzu tief gehen, sonst verwundet und schädigt er seinen Schützling. Wolzogen nahm herzlichen Anteil an der Entwicklung des ihm zugelaufenen Schützlings und gab mir – der erste und einzige Mann während meiner schauspielerischen Laufbahn – nützliche Winke in technischen Dingen. Viel hielt er auf das dramatische R, das damals so etwas wie eine Lebensfrage beim deutschen Theater war. Aber ich hatte den berüchtigten Konsonanten, den die Chinesen gar nicht, die Engländer nur wenig, die Frösche dagegen im Hochzeitsjubel virtuos los haben, einmal nicht, und würde ihn auch nie bekommen haben, selbst wenn ich wie Demosthenes mit Kieselsteinen im Munde Übungen gemacht hätte. Wolzogen lud mich ab und zu in sein Haus, und seine später so berühmten Söhne, Hans und Ernst, saßen zu meinen Füßen, wenn ich Szenen aus Shakespeare vortrug. – Stachelreime zu drechseln war mir während meiner Muße in Wismar zur zweiten Natur geworden;[66] sie zu verleugnen in der kleinen mecklenburgischen Residenz, mit einem Dunstkreis, förmlich geschwängert von Stoffen für Epigramme, wäre dem Verlangen zu vergleichen gewesen, ein Kater soll sich in einem Hofe mit fetten Mäusen das Mausen abgewöhnen. Ich schoß auf Junker, Ritter, Höflinge, kurzum auf geheiligte Institutionen, die ein solider Hofschauspieler, der in die Höhe will, hätte respektieren müssen – und indem ich den Ochsenkopf verulkte, setzte ich mir unversehens selbst einen auf. Die Sache wurde ruchbar und Wolzogen erhielt von maßgebender Seite einen Wink: »Über die Grenze das infamichte Kirlchen!« Mein Chef hielt etwas auf mich, aber sich eines Mitgliedes wegen in Ungelegenheiten setzen, dazu reicht die Liebe eines Theaterintendanten (sofern es sich um das männliche Personal handelt) denn doch nicht aus – und so wurde mein Vertrag, der nur auf ein Jahr lautete, nicht weiter verlängert. Dagegen gab mir Wolzogen, da ich wieder nach Österreich reisen wollte, eine glänzende Empfehlung an den Intendanten des Wiener Hofburgtheaters Freiherrn von Münch-Bellinghausen (Friedrich Halm) mit. In Berlin, wo ich hielt, um mich den Theateragenten vorzustellen, arrangierte mir einer von ihnen, der mich in Schwerin als Eoban Hesse in Deinhardtsteins »Hans Sachs« gesehen, ein Probespiel auf der Bühne des Königl. Schauspielhauses vor dem Generalintendanten von Hülsen und seinen Regisseuren. Nachdem ich mich mit Monologen aus »Timon von Athen« und »Narziß« – um einen wunderschönen österreichischen Kriegsausdruck zu gebrauchen – »bravoureus« gehalten, besprach sich von Hülsen kurz mit seinen Räten (ich sehe es noch deutlich, wie der länglich-geschmeidige, preußisch-junkerliche, gutmütige von Strantz mit seinem pomadisierten Köpfchen lebhaft »ja« nickte), trat zu mir und engagierte mich. Er nannte eine bescheidene[67] Gage und reichte mir statt eines Kontraktes seine Hand als Abmachung. Bald durfte ich auch den alten Jeremias Knabe »Im Vorzimmer Seiner Exzellenz« spielen und fand Beifall. Der vornehmste Kritiker der Stadt, der neunzigjährige Genz in der »Voss. Zeitung«, zeichnete mich durch eine eingehende Kritik aus. In seinem wohlwollenden, schier väterlich gütigen Bericht rühmte er u.a., daß der »jugendliche Herr Wohlmuth durch Scheinalter der Natur Künstlichkeit angeprägt« – und sich an einen früheren erlauchten Mitarbeiter dieser ältesten deutschen Zeitung erinnernd, schloß er: »Und so hoffen wir sicher von dem Gast, er bewährt durch sein Schaffen umfänglich und entschieden den Denkspruch Lessings:


Kunst und Natur

Sind auf der Bühne eines nur;

Wenn sich Natur in Kunst verwandelt,

So hat Natur und Kunst gehandelt!«


Auch Döring lobte mich und lud mich an seine Seite zum berühmten Stammtisch bei »Lutter und Wegner«, wo ehedem Ludwig Devrient, E. Th. A. Hoffmann, Glasbrenner und andere Ritter vom Heiligen Geist gesessen. Der Alte schenkte ohne Einhalt Rotwein aus seiner Flasche in mein Glas, und wenn ich mich beklagte, daß keine Rollen für mich nachkamen, so beschwichtigte er mich: »Geduld, junger Mann, Geduld. Ihr jungen Leute habt keine Geduld; ich habe auch warten müssen.« Stolz war er auf zwei Dinge: auf sein Ordensbändchen, das nie aus seinem Knopfloch kam, und auf seine jugendlich-leuchtenden Zahnreihen: »Da sehen Sie, junger Mann, ich uralter Kerl – noch alle auf dem Posten, stehen da, wie die Garde bei der Parade, was?« Dabei klopfte er derb mit den Knöcheln seiner Rechten an das prächtige Gebiß. Wurde Döring von den Disputierenden des Stammtisches über das Wie und Warum[68] in schauspielerischen Dingen als Kompetenz befragt, so war seine stereotype Antwort: »Weiß nicht, machen, machen, das ist alles.« Gute Ratschläge sind bei alten Kindern, was die Decke in der Wiege für die Kleinen –: sie werden täppisch weggestrampelt. Sechs Wochen keine weitere Rolle, kein schriftlicher Vertrag, ein Empfehlungsschreiben an die Wiener Generalintendanz in der Tasche – leb' wohl Berlin! Ich hielt in meiner Vaterstadt Brünn und wurde von Direktor Frankel eingeladen, am Stadttheater zu gastieren. Der Prophet gilt nicht in seinem Vaterland – heißt es. Nicht immer! Es hat Launen und überschätzt ihn manchmal auch gern: »Der Lausbub' von der alten Brünn« eroberte sich im Flug viele Herzen und mehr als das: ein Herz! Die härtesten Bühnentyrannen erweichen merkwürdigerweise gerne die zartesten Frauenherzen: Franz mit seiner »Lappländernase« sticht nicht selten den schönen Karl mit seinem »Schwanenhals« aus. Richard III., der von sich sagt, er sei so mißgestaltet, daß Hunde bellen, wenn er an ihnen vorbeihinke, entzückte ein junges, stolzes Patrizierfräulein. Es war eine Freundin meiner Schwester, beide zählten zu Pater Glatzels »katholischen Schwestern«, und so war der Roman schnell eingeleitet. Die Rolle des Liebeshehlers wurde dem ehrwürdigen Pater selbst zugeteilt. Die Intrigue war von zwei jungen Mädchen und demnach gar schlau erdacht. Sie baten Glatzel, ihnen die Klosterbibliothek zu zeigen und auch mich zu der Besichtigung einzuladen. Eine achtzehnjährige, schlanke Blondine, den schönen, langgezogenen, weiblichen Gestalten verwandt, die uns in den skandinavischen Ländern so sehr entzücken, trat mir entgegen. Große, kluge, grau-blaue Augen, energische Züge wie von einem Meister der Steinschneidekunst geführt: Lessings Ernst ins Weibliche übersetzt! – Glatzel führte uns durch die altertümlichen Räume und erklärte und sprach über Stil. Aber[69] er hatte unaufmerksame Hörer. »Der Lebende soll hoffen« heißt es im »Faust«: was war mir romanisch, was gotisch im Anblick der goldig leuchtenden Flechten, die dem schönen Mädchen über Hals und Nacken niederhingen. Mit Impresariogeschick verstand es mein gutes Schwesterchen, aus dem Quartett zwei Duette zu machen: sie schob nämlich geistesgegenwärtig Bruder und Freundin in einen Nebenraum und lehnte flink die Türe desselben zu – sie dem Schicksal dadurch weit öffnend. Die blassen Wangen des Mädchens überflog leichte Röte; der verlegenere aber von beiden war der vielgereiste Komödiant. Ich starrte die lilienhafte Erscheinung dumm und stumm an, so daß sogar, wie mir vorkam, eine Sekunde ein leises, spöttisches Lächeln um ihre Mundwinkel spielte. Mir aus der Verlegenheit zu helfen, brach sie das Schweigen: »Gelt«, sagte sie, »ich bin keck, wie ich das ang'stellt hab', so einen Künstler kennen zu lernen?! Aber, wissen Sie, wir sind doch Landsleut', und weil auch ich nit in Brünn verspießen möcht', und wie Sie raus will, um mich der Kunst zu widmen –« »Sie wollen Schauspielerin werden, Fräulein?« »Am liebsten, aber das geben meine Eltern ja nie zu, – aber – – nein, hier, man traut sich doch nit –.« Und sie schlug mir für morgen früh im Blumengarten einer Gärtnerei der Vorstadt eine Zusammenkunft vor. Sie war vor mir da, kam mir heiter und unbefangen entgegen. Ihr ganzes Wesen hatte trotz ihrer zarten Jugend etwas Wohlwollend-Überlegenes. »Da«, sagte sie, »ein paar Rosen, die ich für Sie abgebrochen – bißl Blut von mir klebt daran; schadet nix, nehmen S' nur; es ist darum kein Pakt, denn bei mir da fehlt's noch weit bis zum Faust – und Sie sind nur auf dem Theater der Mephisto – da freilich ein ganzer.« – »Nein«, plauderte sie weiter, »zum Theater, weil Sie mich gestern gefragt, da willigt mein Vater, der gestrenge[70] Herr Oberbürgermeister von Brünn, sicher nit ein; aber ich glaub' auch zum Malen bißl Talent zu haben, und vielleicht setz' ich's durch, daß er mich nach Wien oder Niünchen in die Lehr gibt. Leicht wird auch das nit halten, aber da muß man halt betteln und betteln und schmeicheln – wissen S', so ein einziges Töchterl setzt am End' alles durch – alles – noch mehr ...« Ein zärtlicher Seitenblick, und ich verstand. Mußte verstehen; denn eine Güte leuchtete mir aus ihm entgegen, daß er mich traf wie ein ganzes Bündel heißer Sonnenstrahlen; unsere Hände berührten sich wie von selbst: es war der Hochzeitstag unseres Lebens. – Vor meiner Abreise nach Wien wurde ich noch zur »Assentierung befohlen«. Mit 80–90 Burschen stellte ich mich in dem kasemattenartigen Gewölbe einer Kaserne der Kommission. Kommissionen erzeugen, dieweil da viel geredet werden muß, trockene Kehlen; das wußte auch mein Vater, und als guter österreichischer Patriot beschloß er, in diesem besonderen Falle Abhilfe zu schaffen, und zwar durch gutes Märzenbier aus seinem Keller. Das feuchtete die Kehlen an und den Humor. »So a magerer Hund«, rief einer der Wohlwollendsten, »und sein Vater is Bierbrauer!« Da aber Länge und Breite stimmten, so hieß es: »Stellt's ihn z'ruck!« – »Ah was, der wird Euch sein Lebtag kein Soldat, laßt's 'n laufen.« – »Was sagen wir aber?« – »Sagen wir, na – wegen allgemeiner Abmagerung!« Ich war befreit. Flink sprang ich von der Tribüne und wünschte mir nie, weder im Leben noch auf der Bühne, einen schöneren »Abgang«. Einer aus der Kommission rief mir noch nach: »Daß S' uns aber nit blamieren und am End' einmal den Gambrinus spielen.« Den Gefallen hab' ich ihm getan. –

Der Generalintendant des Wiener Hoftheaters empfing mich und nahm mein Empfehlungsschreiben von Wolzogen entgegen.[71] Während er es las, sah er ab und zu vom Blatt auf mich mit verwundertem Blick, der da besagte: was, dieses bescheidene Männlein soll so ein Tausendsassa sein? »Hm, Wolzogen lobt Sie ja außerordentlich, – hm – schau eine förmliche Schilderung Ihrer ganzen Persönlichkeit in liebevoller Weise.« – Er las einzelne prägnante Stellen aus dem Briefe (die hier wiederzugeben ich mir begreiflicherweise versagen muß) mit lauter Stimme. – »Hm, dann sind Sie ja – aber warum ließ er Sie dann weg? Ach ja, da steht's: eine Spezialität – dafür haben wir kein Geld. Aber eine allererste Bühne wie das Hofburgtheater ... Ha ha ha – da irrt er sich: wir haben womöglich noch weniger Geld. Na, aber es war mir interessant, den individuellen Kerl kennen zu lernen. – Im Augenblick gibt's freilich keine Vakanz bei uns – vielleicht später einmal; na – also!« Damit reichte er mir, nachdem er zuvor in merkwürdiger Weise eine kleine, runde Drehung mit ihr beschrieben hatte, seine wuchtig breite Hand, und die kurze Stehaudienz war zu Ende. – Der Zufall fügte es, daß ich in Wien alles, was ich liebte und verehrte, hübsch beisammen fand: in demselben bürgerlich bescheidenen Hause aus der Biedermeierzeit, in dem Loewe im ersten Stockwerk wohnte, fand Emilie van der Straß, meine Angebetete, die es bei ihrem Vater flink durchgesetzt hatte, bei dem Maler Aigner in Wien Unterricht nehmen zu dürfen, in der zweiten Etage Pension. In Loewes Charakter lag es nicht, sich für junge Kollegen hitzig ins Zeug zu legen; immerhin behielt er mich seit jener Prüfung allzeit im Auge; am besten, glaube ich, bezeichne ich sein Verhalten mir gegenüber mit dem jetzt so geläufigen Ausdruck: »wohlwollende Neutralität«. Ich war Hausfreund, Famulus, lieb' Kind bei dem Alten. Da ich dadurch tagelang bei ihm war, so war es möglich, zwischen meiner Angebeteten und mir einen Mechanismus eigenster Art herzustellen:[72] kaum entführte der behäbige Theaterwagen den Altmeister zur Probe, so verließen im zweiten Stock zwei blonde Zöpfe das geöffnete Fenster, und eine Minute später schlüpfte meine Schöne durch die im ersten Stock für sie halbgeöffnete Türe. Die Köchin Löwes, die richtige alte Betschwester, wurde durch Gebetbücher und Rosenkränze bestochen. Sie protegierte unsere Liebe, was für alte Jungfern so etwas wie eine Nachlese einstiger Wonnen, nicht ohne sinnlichen Reiz, bedeutet. Sie erzählte uns, daß auch sie geliebt, daß aber das Schicksal anders entschieden, und daß sie ihrem begehrlichen Verehrer indigniert abgeschrieben: »Ich hätte nicht geglaubt, daß Sie mich durch platonische Liebe kränken wollen, leben Sie wohl!« – Löwe fand meine Braut, die sich ihm präsentiert hatte, »eines Kaisers würdig«, merkte aber, daß ich mich nur ihretwegen in Wien aufhalte und meine Zeit verliere. Eines Tages, ich glaube, es war Ende November, sagte er mir: meine Tochter Anna hat das Deutsche Theater in Lemberg übernommen, spielen Sie doch bei ihr. Ich folgte dem Rate. Das Theater der galizischen Hauptstadt stand damals im besten Rufe; nach den Wünschen seines Gründers, des Grafen Skarbeck, wurde nur an zwei Abenden in der Woche polnisch, sonst deutsch gespielt. Mit der Zeit freilich änderte sich die Sache, die zu einer polnisch-nationalen anwuchs. Trotz der klaren Bestimmung des gräflichen Mäzens wurden die Deutschen von der Bank, auf der sie mit den Polen saßen, von der Überzahl mehr und mehr zur Seite gedrückt, bis die Polen endlich die ganze Bank besaßen. – Dieselben soliden, bürgerlich-tüchtigen Eigenschaften, die Frauen zu berühmten Staatslenkerinnen gemacht haben, befähigen sie auch – weil beide Berufe innerlich verwandter sind, als der oberflächliche Blick es sieht –, auf Theaterthronen Ausgezeichnetes zu leisten. Beweis dafür: die berühmte Theatermama[73] Neuberin am Portal der deutschen Bühnenkunst, prächtig wie Monumentalgestalten vor der Freitreppe eines stolzen Palastes. Auch die Löwe verstand famos ihr Handwerk und hatte eine Truppe beisammen, die selbst bei den Polen einen Achtungserfolg errang. Ich durfte bei ihr die meisten großen Rollen meines Repertoires spielen, auch Richard III. Nach dem ersten Akt ließ mir einer im seidenen Kaftan – die Juden zählten zu den fleißigsten Besuchern des Theaters – einen Lorbeerkranz mit Schleife reichen. Aber bis zum Schluß der Tragödie dauert's lange. Einem von den »Technischen« in der Garderobe blieb dadurch Zeit, sich in den breiten Seidenstreifen zu verlieben. Und als das Stück zu Ende, lag nur mehr der Lorbeer auf meinem Platze – die Schleife war fort! Aber es gibt ein Wiedersehen! Acht Tage später auf einer Redoute, auf der die schönen Polinnen so lustig tanzten, wie, um mich schwäbisch auszudrücken, »der Lump am Stecken«, entdeckte ich das Band mit schwungvoller Widmung: »Für das Haupt des Meisters« vollgewürdigt bei einer Schönen als Krönung ihres »Cul de Paris«. Auch den Harpagon spielte ich in Lemberg und hatte Gelegenheit, an einem Kollegen von der Oper, der an der traurigen Leidenschaft Harpagons krankte, meine Beobachtungen zu machen. Nicht selten hört man fragen, warum hält, wenn es so geizig ist, das Geizgespenst Molières Livreediener, Equipage usw.? Aber der Meister wußte genau, aus welcher Sphäre er sich seinen Helden zu holen habe. Wie hätte er an einem Bettelmann die hundert charakteristischen Züge demonstrieren können; und er durfte einen aus der höheren Gesellschaft wählen, weil es seinem Genie bekannt war, daß es zu den unfehlbaren Eigenschaften des Geizigen gehört, nie seine gesellschaftliche Stufe zu verlassen. Auf dieser freilich entwickelt er im Sparen einen Scharfsinn, der etwas Verwandtes hat mit dem[74] Genie des Wahnsinns. Harpagon z.B. gibt, wie seine Standesgenossen, ein Mahl, aber er wählt mit Raffinement Schüsseln, »die den Appetit ersticken, anstatt zu reizen«, und er läßt die Reste der abgetragenen Schüsseln mit Argusaugen bewachen. Auch mein Kollege gab ein Abschiedsessen, aber er eroberte den Braten dazu, einen Hafen, von einem Jägersmann gegen ein Freibillett zur Oper. Er kaufte ein Fäßchen Landwein bei einem Schankwirt, zog ihn eigenhändig in Flaschen ab, klebte stolze Vignetten darauf und bestreute die Bouteillen mit Ofenstaub, als kümen sie aus einer Kellerei. Ferner durchlief er ganz Lemberg und suchte in den Tabaktrafiken aus hundert Kistchen dicke Zweikreuzer-Zigarren, die sich wie »Cuba L« präsentierten. – Dieser sonst kluge und liebenswürdige Kollege erzählte mir von dem großen Sänger Sontheim ein Lemberger Stückchen, das ich hier wiedergeben möchte. Der unvergleichliche Tenorist aus Stuttgart sang als Gast den Eleazar in der »Jüdin«. Die Lemberger Juden waren außer sich, riefen: »Gewaltig, gewaltig« und brachten ihrem berühmten Glaubensgenossen nach der Vorstellung vor dem Hotel eine begeisterte Ovation. Als das Hochrufen kein Ende nehmen wollte, sagte Sontheim, ganz Cäsar oder Bonaparte, zu meinem Freunde, der sein Gast war: »Ich werde mich doch noch auf der Altane zeigen müssen, damit das Volk sich beruhigt!« – Die Lemberger Saison war zu Ende! Vergebens besinne ich mich, was direkt darnach folgte; nie habe ich mir Aufzeichnungen gemacht, weil ich mir dachte, was wichtig, behält sich von selbst, und was durch's Sieb fällt, ist Spreu und nicht der Aufbewahrung wert. Ich weiß nur, daß ich nach Deutschland reiste, um Engagement zu finden, und in Berlin von einem österreichischen Theateragenten einen Brief vorfand, der mich einlud, nach Wien zu kommen und mit Strampfer zu unterhandeln, der ein neues Theater gründen[75] wolle. Gerne folgte ich dem Ruf. In Prag auf dem Perron erblickte ich Heinrich Laube, wie er seinen wimmernden Jagdhunden durch das Eisengitter des Hundekupees Trost zusprach. Da ich – natürlich zumeist aus Streberei – die Bekanntschaft des berühmten Bühnenherrschers machen wollte, so kaufte ich zu meinem Billett dritter Klasse flink die nötige Zuschlagskarte. Als sich der Zug in Bewegung setzte, saß ich an der Seite des kleinen, knorrig-knubbigen Mannes, dessen Gesicht etwas Mopsverdrießliches hatte, einzig verklärt durch die klugen Augen, hell und wie blitzblank geputzt. Laube hatte von Haus aus etwas Knurrig-Kantiges; absichtlich schien mir dagegen immer an ihm seine auf den dramatischen Knalleffekt abzielende Barschheit, wie man sie nicht selten von berühmten Ärzten in Kauf nehmen muß. Ein epigrammatisches, derbknapp hingeworfenes Wort wirkt doppelt. Er war der Mann, in einem ungeschminkten Gesicht auf den ersten Blick die Schminke zu erkennen, und so redete er mich mit den Worten an: »Sie sind Schauspieler, wo sind Sie engagiert?« Als ich bejahte und von dem Unternehmen Strampfers erzählte, sagte der ehemalige Direktor des Burgtheaters in seiner gehackten Manier: »So?! Na, dann wird Wien um zwei Theater reicher werden: auch ich gründe eins; wir brauchen keine Hoftheater! Stadttheater, unabhängige Bühnen brauchen wir. Mir ganz recht, daß Ihr Herr Strampfer ein Theater gründet: Konkurrenz ist gut, Konkurrenz fördert.« Laube plauderte in wohlwollender Weise weiter mit mir, bis ich mich verleiten ließ, meiner Begeisterung für Ludwig Löwe Ausdruck zu geben. Sofort war ich bei ihm, wie's in Sachsen heißt: »Ins Fettöpfchen getreten«, denn die beiden rauften sich bekanntlich seit Jahren mit einer Wut wie brünstige Hirsche um die Hindin. – In Wien mietete ich mir in der Vorstadt »Neubau« ein bescheidenes Zimmer bei zwei vor[76] Jahren aus Bayern eingewanderten Schwestern im Alter von dreißig und vierzig Jahren. Die jüngere der beiden gutherzigen Frauen besaß zwei bildschöne, kleine, uneheliche Mädchen. In das dreijährige Nesthöckchen vernarrte ich mich im Fluge. Bis auf ein kurzes Hemdchen war Emmy stets »Nackermandt« und hätte mit ihren weißen, rosigen Gliedern, den braunen Rehaugen und blonden Flatterlocken das lieblichste Büblein aus dem »Früchtekranz« von Rubens, den München so glücklich ist, in seiner Pinakothek zu besitzen, ausgestochen. Kam ein Brief für mich an, so schob sie die Mutter, die meine Leidenschaft für die Kleine kannte, ihn mir zu überreichen, ins Zimmer. Was auf eine Weise geschah, wie folgende Reime besagen:


»Klein Emmy strampelt nackt und bloß,

Mehr als ein Hemdchen trägt sie nicht;

Bringt sie die Post, hält sie aus Scham

Das kurze Hemdlein vors Gesicht.«


Selten kam ich heim, ohne dem Engelchen irgendein Spielzeug mitzubringen. Bald hatte sie so viel davon, daß sie zu ihrer Zerstreuung die ganze geleimte Welt auf den Boden warf, um mit ihren Füßchen darauf herumzustrampsen. Verschont blieben einzig die Puppen, für die die kleinen Mädchen eine Zärtlichkeit empfinden, daß man an ein Ahnen ihres künftigen Berufes denken möchte: nach der letzten Puppe, das erste Kind. –

Strampfer gab, nach Art und Manier kurzer, gedrungener Männer, seinem Rückgrat die möglichst strammste Haltung, ging, die Hände auf dem Rücken, im Büro auf und ab und sagte mir: »Ich bin – umgekehrt – der Geist, der stets das Gute will und stets das Böse schafft.« Und, seinen graumelierten Demokratenbart zausend, fuhr er fort: »Ich gründe ein Theater, um das höhere Drama zu pflegen – da kommt Laube und macht mir einen Strich durch die Rechnung. Nun bin ich,[77] ob ich will oder nicht, wieder der Operette verfallen.« – Demungeachtet war die Eröffnungsvorstellung des »Strampfer-Theaters« Hans Hopfens kraftvolles Drama »In der Mark«. Ich fand darin keine Beschäftigung. Bei der Besetzung von Stücken geht es zuweilen wie bei dem Kinderspiel »Schneider, leih' mir die Scher«: wer nicht geschickt auf einen Platz zu huschen versteht, irrt, ein Geprellter, umher und kommt um den Standplatz. – Strampfer hatte einen rechten Falkenblick für das Talent. Er war ein dramatischer Pfadfinder, Pfadmacher. Als er vordem das Theater an der Wien leitete, brachte er die Gallmeyer und die Geistinger; dann Blasel, Swoboda, Rott usw. Und er ließ sie sich nicht von Agenten »vermitteln«, nein, er kaufte sie entweder schon am Halm – womit ich den Lehrer und die Theaterschulen meine – oder er klaubte sie bei kleinen Truppen in Budweis, Troppau, Temesvar usw. aus der Spreu. Auch für sein jetziges Theater hatte er Schweighofer, Girardi, Gottsleben, Lebrecht u.a. aus Winkeln und Ecken Österreichs aufgespürt. Lauter Komiker! Die Operette dominierte! Ich kam wörtlich während der Saison »alle heiligen Zeiten« zum Auftreten: nämlich am Allerheiligen- und am Allerseelentag (täglich je zweimal) als alter Müller in Raupachs schwindsüchtigem Rührstück »Der Müller und sein Kind«: noch weniger als der Tropfen auf dem heißen Stein für die Spielwut eines jungen Mimen.

Quelle:
Wohlmuth, Alois: Ein Schauspielerleben. Ungeschminkte Selbstschilderungen von Alois Wohlmuth. München 1928, S. 58-78.
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