Hausbesuch.

[350] Wie sehr ein solcher erfreuen oder auch belästigen kann, haben wir alle wohl öfter erfahren. Das letztere ist in der Großstadt besonders häufig der Fall, da bei den hier herrschenden hohen Mietspreisen die Gastfreunde meist eine nur für den eigenen Bedarf genügende Wohnung, selten aber ein oder gar mehrere Fremdenzimmer haben. Das läßt sich indessen einrichten, falls der Gast nicht obenein große Ansprüche mitbringt. Schlimmer aber und für die Gastfreunde geradezu verletzend ist, wenn gar kein Hehl daraus gemacht wird, daß der Besuch eigentlich garnicht ihnen, sondern einzig und allein den Genüssen der Großstadt gilt. Gewiß läßt sich beides vereinigen und die ersteren werden sicherlich aus freien Stücken dafür sorgen, daß dem Gast soviel als irgend möglich alles Sehenswerte vor Augen kommt und er soviel genießt, als Zeit und – Geldbeutel es immer erlauben. Letzteres ist oft ausschlaggebend. Denn nicht nur die Vergnügungen der Großstadt kosten viel Geld – mehr, als der Provinziale sich in den meisten Fällen träumen läßt! – auch die scheinbar kostenlose Besichtigung der äußeren Stadt, ihrer Anlagen, öffentlichen Gebäude, Kunstsammlungen und Denkmäler ist niemals ganz ohne Kosten zu bewerkstelligen. Meist sind schon die[350] Wege zu weit, um sie zu Fuß zu unternehmen, außerdem heißt es Trinkgelder geben, Erfrischungen einnehmen und so weiter – jedenfalls kostet ein einfacher Spaziergang in der Großstadt mehr als ein Vergnügen in der kleinen. Freilich werden auch die meisten Menschen ersteren vorziehen.

Die Regel, daß der Gastfreund alle Ausgaben für den Gast zu bestreiten hat, gilt demnach nicht unbedingt. Kam jemand, hauptsächlich die Großstadt kennen zu lernen und macht von der Gastfreundschaft nur Gebrauch, die Gasthausrechnung zu ersparen, fällt wohl jede Verpflichtung fort, ihm außer kostenfreiem Aufenthalt und Verpflegung auch noch andere Genüsse mit unserm Gelde zu erkaufen. Trieb es aber einen lieben Freund, in erster Linie uns selber zu sehen und zu besuchen, ist es selbstverständlich, daß wir ihm auch außerhalb unseres Hauses an Genüssen bieten werden, was immer in unseren Kräften steht.

Ein anderes ist's mit dem Besuch in der Kleinstadt oder auf dem Lande. Dieser wird stets vor allem den Gastfreunden selber gelten, wenn auch in solchem Fall andere bestimmende Faktoren nicht ganz ausgeschlossen sein werden, wie z.B. der Wunsch nach Ruhe und Erholung für den Großstädter. Der große Unterschied jedoch ist, daß die Ruhe und gute Luft oder aber die etwa vorhandenen Naturschönheiten, die er zu genießen wünscht, eben kein Geld kosten und die Gastfreunde nur für Verpflegung – auch an einem Fremdenzimmer dürfte es da selten fehlen[351] und mithin Beschränkungen dieser Art wegfallen – zu sorgen haben. Dafür aber bringt ihnen der Gast Abwechslung und Unterhaltung in das ewige Einerlei des kleinstädtischen oder ländlichen Lebens und heißt es wirklich einmal, ein Vergnügen mitmachen, sind die Kosten meist so gering, daß sie garnicht in Betracht kommen.

Aber angenommen, ein Gast sei hochwillkommen – in den meisten Fällen wird es ja so sein! – ist es doch nötig, daß derselbe sich vorher anmeldet, ob er nun eingeladen oder uneingeladen kommt. So hübsch gedacht und zuweilen auch trefflich gelungen die Überraschungen sind, könnte es doch geschehen, daß ein Mißlingen derselben die Wiedersehensfreude trübt oder gar verdunkelnde Schatten über den ganzen Aufenthalt wirst. Es können der unberechenbaren Zwischenfälle da ungezählte sein und kein tückischer oder komischer Zufall ist dabei ausgeschlossen. Um einen für viele anzuführen, dürften z.B. nur Bauhandwerker in der Wohnung sein, die das Oberste zu unterst gekehrt und kaum den Familienmitgliedern notdürftigsten Raum zum wohnen und schlafen gelassen haben – wo bleibt dann der Gast und mit welchen langen Gesichtern wird er empfangen werden!

Aber selbst wenn alles sich verhältnismäßig günstig trifft, wird die Sorge für Unterbringung des unerwarteten Besuchs und die dafür nötigen Vorkehrungen die ersten Stunden des Wiedersehens zu höchst unruhigen machen und auch das muß vermieden[352] werden. Jede Daseinsfreude so ungeschmälert als irgend möglich zu genießen und sowohl Störungen als Mißbehagen nach Kräften abzuwenden, ist erstes Gesetz weiser Lebenskunst.

Es ist also durchaus anzuraten, einen Hausbesuch vorher anzumelden. Die Gastfreunde können dann in Ruhe alles vorbereiten und werden sicher nicht versäumen, das ganze Heim, besonders aber das Zimmer des Gastes so einladend als nur immer möglich herzurichten. In letzterem dürfen Blumen sicherlich nicht fehlen, auch wird man bemüht sein, den Gewohnheiten des zu Erwartenden Rechnung zu tragen, soweit dieselben uns bekannt. Zu rechter Zeit ist dann der Weg zum Bahnhof anzutreten, wiederum nicht ohne Blumen, auch ein Wagen muß bereit sein, den Gast aufzunehmen und ihn nach Haus zu führen. Wenn alles so vorbereitet, wird man sich auf beiden Seiten ungestört der Freude des Wiedersehens hingeben können. Und wenn dann im Verlauf des Besuchs die Gastfreunde auch nicht gerade mit klaren Worten aussprechen werden: »Gebiete über mich und mein Haus, ganz wie es dir gefällt«, so wird doch ihr liebenswürdiges und entgegenkommendes Wesen dies ausdrücken. Auch wenn der Gast der Abreise gedenkt, müssen freundliche Bitten ihn zu längerem Bleiben auffordern und, muß es dann doch endlich geschieden sein, der Abschied so herzlich und frohmütig, als unter bestehenden Verhältnissen möglich, gestaltet werden.

Ein Abschied frohmütig? fragt da wohl mancher.[353] Ja – so viel als eben möglich, wie der Nachsatz ergänzt. Nichts peinigender und zweckloser für beide Teile, als durch übergroße Rührseligkeit die schwere Stunde noch schwerer machen, wie manche Menschen es so gerne thun. Abschiednehmen greift immer mehr oder minder ans Herz, selbst wenn es nicht ein teurer Freund oder Verwandter, sondern nur ein lieber Kamerad, ein heiterer Gesellschafter ist der da scheidet. Denn wenn man sich überhaupt wieder sieht – unter veränderten Verhältnissen ist's gewiß! Abgesehen davon, daß beide um so viel älter geworden – was doch in den meisten Fällen auch um so viel stumpfer und gleichgültiger heißt. Aber das alles hat jeder selber schon erfahren, zudem haben unsere Dichter und Künstler Trennungsschmerz und Abschiedsstimmung in tausendfältigen Variationen ergreifend ausgedrückt. Und weil es nun einmal so ist und immer so sein wird, daß scheiden weh thut, soll sich der Lebenskünstler so leicht als möglich darüber hinwegzusetzen oder doch hinwegzutäuschen suchen und in solchen Stunden ja nicht die trostlos graue Brille des Pessimisten aufsetzen, sondern die rosenrot optimistische. Denn was auch die Zukunft bringt – es muß getragen werden und es wird getragen! Nur nicht im voraus auch schon darum grämen!

Wie der Ankunft werden auch dem Abschiede niemals Blumen fehlen dürfen und besonders feinfühlige Gastfreunde denselben ein Gedenkzeichen der gemeinsam verlebten Stunden beifügen. Es braucht ja nichts[354] Kostbares zu sein, ein Bild, ein Buch oder was es immer sei – die Sitte der Gastgeschenke ist ja ebenso schön als uralt.

Nun aber zu den Pflichten des Gastes, denn selbstverständlich entfallen nicht nur auf den Gastfreund solche. Daß ein Anmelden ratsam, ist bereits erörtert worden; aber auch der Gast wird, besonders zu längerem Besuch, nicht mit leerer Hand kommen und auch hier nie die Kostbarkeit der Gabe deren Wert bestimmen – es gilt hier eben dasselbe, was anläßlich der Geburtstagsgeschenke gesagt wurde. Vor allem aber hat sich der Gast in allen Dingen streng der Hausordnung anzupassen, sei sie ihm nun bequem und seinen Gewohnheiten gemäß oder nicht. Nie darf er irgend etwas daran tadeln oder bemängeln – aber gar irgend welche Wünsche nach Änderung oder Forderungen aufzustellen, wäre ebenso unberechtigt als unschicklich und kein wohlerzogener Mensch wird sich einen derartigen Verstoß zu schulden kommen lassen. Unbedingtes Anpassen an die eigenen Gewohnheiten werden gebildete und liebenswürdige Gastfreunde ohnehin nie fordern und gilt es als Regel, namentlich in den Morgenstunden gegenseitig volle Freiheit des Thuns zu lassen. Es wäre geradezu barbarisch, etwa vom Gast zu verlangen, daß er unser Frühmahl teile, wenn wir vielleicht Frühaufsteher sind und seine Gewohnheit oder schwache Gesundheit längeres Schlafen wünschenswert machen – ebenso umgekehrt. Aber zu den Hauptmahlzeiten des Tages hat sich der Gast stets[355] mit größter Pünktlichkeit einzufinden, andernfalls eine Verhinderung rechtzeitig anzuzeigen. Wie der Gastfreund auf ihn, hat er umgekehrt auch auf diesen stets peinlichste Rücksicht zu nehmen, ebenso die Dienstboten des Hauses sehr höflich und nicht als eigene Bedienstete zu behandeln. Daß beim Abschied jedem derselben ein nicht zu knapp bemessenes Trinkgeld zu geben ist, wird allgemein bekannt sein, ebenso erscheint es überflüssig, darauf hinzuweisen, daß den Gastfreunden herzliche Worte des Dankes für alles genossene Gute und alle empfangene Liebe zu sagen und solche nach wenigen Tagen brieflich zu wiederholen sind. Wo ein solcher Dankbrief ausbleibt oder auch nur lange auf sich warten läßt, darf der Gastfreund sicher annehmen, daß die Aufnahme den Gast nicht befriedigt oder ihn sonst irgend etwas verletzt hat. Wer aber da nach Kräften und vielleicht über diese hinaus seine Schuldigkeit gethan hat, wird das zwar schmerzlich überrascht, aber doch ruhigen Gewissens als neue Bestätigung der uralten Regel hinnehmen, daß Undank eben der Welt Lohn ist – am besten und klügsten ist jedenfalls, auch hier nie auf Dank zu rechnen.[356]


Quelle:
York, B. von: Lebenskunst. Leipzig [1893], S. 350-357.
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