»Künstlers Erdenwallen«

»Künstlers Erdenwallen«

[11] Wenn die Natur einen Menschen zum Künstler bestimmt, alsdann setzt sie ihn in ein richtiges Milieu, das heißt, er wird dorthin geführt, wo er das Interessanteste für sich und sein Vorhaben finden wird. So wurde auch ich durch die allwaltende Mutter Natur in eine Umgebung gesetzt, welche an Charakteristik und Vielseitigkeit der verschiedenen Menschen nicht ihresgleichen hatte. Mein Kreis und demgemäß meine Erziehung war alles andere eher, nur keine gute Kinderstube. Eine kleine Stadt, wie mein Geburtsort war, bedingt nebst dem Betrieb eines Handwerkers, wenn man schon einigermaßen gut situiert ist, die Ackerwirtschaft. So konnte ich in meinem Geburtshause die Gerbergesellen meines Vaters, dann die Knechte, Dienstmägde und Tagelöhner für die Landwirtschaft beobachten. Das lebende und tote Inventar, welches der Betrieb einer Gerberei mit sich brachte, war mir bald vertraut. Dann kam die Kundschaft, zuerst kamen meine Verwandten, dann deren Freundschaft wieder! Die Bauern, welche Leder zum Ausarbeiten brachten, ferner die Fleischer, welche ihre frisch abgezogenen Felle verhandeln wollten, dann die Kaufmannschaft, die alles, Leder, Getreide, Leim, Heu und tausend Sachen, kaufen wollte.

Ein Patriarch mit langem weißen Bart mit Namen »Ehrenberg« ging bei uns ein und aus; er gab mir Kringel von einfacher runder Form, diese Kringel nannten wir alle die »Judenkringel«. Ferner bedingte die Wirtschaft bei uns Reparaturen in Stallungen, Remisen und Scheunen, daher kam ein fortwährender Verkehr mit den diesbezüglichen andern Handwerkern. Da war fast ein täglicher Gast bei uns der Riemer: er hatte einen Klumpfuß; er saß an einer langen Bank und stach mit dem Pfriemen heftig in die Siehlen und zog dann gepichtes Garn hindurch. An dem Webstuhl klapperte emsig eine alte Frau und warf das Weberschiffchen geschickt durch die Leinenfaden und trat dann mit dem Fuß, worauf sich die Faden verschoben und dann anders gestellt wurden. Dann hörte plötzlich das Klappern auf, und die Frau stocherte an dem Gewebe herum, weil irgendwas nicht ganz in der Ordnung schien. Der Fleischer kam zu bestimmten Seiten ins Haus: Kühe und fette Schweine mußten dran glauben. Gar nicht zu reden von den Mägden, welche plötzlich ein Huhn beim Kragen kriegten und den Kopf abhackten. Unerklärlich war mir, daß sie noch einige Zeit herumliefen, bis sie tot umfielen. Dasselbe probierte ich dann wohl mit den Fliegen aus, aber die bewegten sich so lange, bis es mir langweilig wurde. Das Schlachten bei den großen Tieren war anders; das erste Stadium konnte ich nicht sehen – ich versteckte mich. Aber dann später sah ich nicht mehr die Kreatur von früher, und ich ergötzte mich. So mancher würde mich wohl schelten, wenn ich die Augen aus dem Schweinskopf herauspolkte und ähnliche wißbegierige Dinge trieb; dagegen wurde das Kind, wenn es im Speicher aufgehängt hing, stets mit einer gewissen Ehrfurcht und Trauer betrachtet.

Vor unserm Haus lagen aufgestapelt roh zurechtgeschlagene Balken, welche wohl für ein Dach oder so was bestimmt waren, da war denn der Zimmermann Beekmann auch nicht weit davon. Mein erster Gang aus dem Hause war dann zu ihm. In aller Frühe trat ich dann schon aus dem Hause. Zwar war es kalt, der Reif lag wie Streuzucker auf dem Rasen, und die Hölzer waren[11] hartgefroren und klangen. Trotzdem half ich ihm geschäftig bei seiner Arbeit, denn Schöneres konnte ich mir gar nicht denken, als die Richtschnur mit dem gekohlten Holzscheit anzuschwärzen und dann der Lange nach an den Balken zu halten und fest auf einen Punkt mit dem Finger gedrückt. Er knipste, und die Grade war im Lot und rechtwinklig hergestellt. Dann fing er an, mit dem Beil das Holz zu bearbeiten, bis ein schöner, viereckiger, gleichmäßig grader Balken aus dem Baum sich herausschälte. Meine Freude an dieser Arbeit war groß, aber dennoch gab es das Allerschönste, und das war der eigentliche Magnet, welcher mich zu dem Zimmermann Beekmann hingezogen hatte: er zeichnete mir nämlich allerlei Tiere und Menschen auf. So wurde er unbewußt mein erster Lehrer in der Kunst, und ihm soll dieses Loblied gewidmet sein.

Der Zimmermann Beekmann war aus einem Dorf aus den Sanditter Fichten, ein kleiner viereckiger Kerl mit blauschwarzem, angeklatschten Haupthaar und langer Hängenase. Schade, daß ich seine Karikatur nicht mehr besitze, denn wir zeichneten uns auch gegenseitig. Er zeichnete mit seinem Zimmermannsbleistift, und ich schnitt aus Papier aus, was ich sah: Tiere – hauptsächlich Pferde waren mein Leibfach –, auch einige auffallende Bürger des Städtchens porträtierte ich mit der Schere, darunter war der dicke »Buchau«. Mein Freund Beekmann war der einzige Mensch, welchen ich nicht ob seines Könnens beneidet habe, denn nur zu meiner Freude entstanden seine Zeichnungen; ganz anders als der Barbier Feuersänger. Der schnitt gerade so geschickt aus wie ich, und wenn jemand meine Künste sah, kam er immer auf den Rivalen zu sprechen, statt mich zu bewundern. Ich gestehe, daß diese fremden Loblieder mich stets verärgert haben. Mit Beekmann war's dagegen ein richtiges kollegiales Verhältnis. Und was machte er alles! Einen Menschenfresser, groß wie einen Zeitungsbogen, mit Hörnern, rollenden Augen und Klauen, mit Zähnen und heraushängender Zunge. Ich entsetzte mich schrecklich vor dem Scheusal, als er ihn auf mich hetzte. Bis in die Gesindestube, wo die Knechte bei dem Abendbrot saßen, lief ich vor ihm fort und versteckte mich in einem finstern Winkel. Ich konnte nicht eher beruhigt werden, bis die Knechte das Ungeheuer an der Tranfunzel verbrannt hatten. Mein Erinnerungsvermögen war trotz des großen Schreckens, welchen ich empfing, so groß, daß ich den nächsten Tag fast ebenso geschickt denselben Teufel nachbilden konnte. Ich arbeitete im Schweiße meines Angesichtes, bis ich ihn endlich nach meiner Meinung mit allen seinen Schauerlichkeiten ebenso erfaßt hatte. Nun sollte der Haupteffekt kommen: ich hetzte das Kunstwerk auf meinen Altersgenossen, Schönlaubs Gustav. Nichts anderes dachte ich, als er müßte vor Schreck umfallen. Aber das Erstaunen war ganz auf meiner Seite, als er ruhig fragte, was das eigentlich zu bedeuten habe. Ich war blamiert! Da hatte ich doch noch größere Eindrücke trotz der Rivalität des Barbiers mit meinen Papierpferden erzielt. Ich wußte schon längst die drei Geschlechter der Tiere und wußte auch, zu welchem Zweck die Natur solche bestimmt hatte. Woran ein Hengst zu erkennen war – denn wir besaßen einen – und ein Robbel – so wurden die Stuten in Ostpreußen genannt – und ein Wallach. Unser Hengst hatte von Zeit zu Zeit eigenartige Beschäftigungen zu besorgen, und immer dann kamen Bauern mit einzelnen Pferden, und ich wurde in die Stube eingeschlossen, daß ich nicht auf den Hof kommen konnte. Die Neugierde[12] war so groß in mir und ich so schlau, daß ich dennoch einige Augenblicke erhaschen konnte. Diese Sehnsucht drückte ich dann – so gut es ging – in einem Stück Papier und mit der Schere aus. Oft zwang ich meinen Freund Beekmann, daß er mir einen Bullen mit all seinen Bestandteilen zeichnen mußte. Es half ihm nichts, auch wenn er hauptsächlich in Gegenwart von Frauen sich genierte. Dann wollte er wohl manches Mal die Kennzeichen der Bullen an anderer Stelle anbringen oder gar verstecken. Aber da kam er bei mir schön an; ich ruhte nicht eher, bis alles am ganzen Bullen an der richtigen Stelle stand. Das waren die ersten Studien in der ani malischen Anatomie.

Trotz all dieser künstlerischen Studien – denn ich möchte sie heute so benennen – wußten wir in dem Städtchen dennoch nichts von der Existenz eines »Kunstmalers«, diese blieb mir so lange fremd, bis ich nach Königsberg in das Gymnasium kam. In Königsberg war neben einem Tiermuseum mit wilden ausgestopfen Tieren auch ein Bildermuseum, dadurch hörte ich zum erstenmal etwas von »Malern«. Meine Tante, welche mich in Pension hatte, erzählte mir von den Bildern und Malern die reinsten Ammenmärchen. Fast so geheimnisvoll ging es dort zu wie bei den Freimaurern.

Meine Freundschaft mit Beekmann dauerte noch die Kinderjahre hindurch; wenn ich zu den Ferien eintraf, war auch meistens mein Freund da, um am Nötigsten herumzubasteln. Ich[13] kann heute fast annehmen, daß mein Vater, welcher mich sehr liebte, es immer so einzurichten verstand, daß gerade in dieser Ferienzeit derartige Reparaturen zu vollziehen waren.

Ich glaube, das letztemal waren wir zusammen, als ich ein Quartaner war. Beekmann hatte in einem von unsern Häusern einige verfaulte Fußböden neu zu machen. Natürlich war ich dabei sein Gehilfe. Das Haus lag aber in einer Straße, welche weitab von unserm Hof und Anwesen war. Deshalb war ich auch nie oder fast gar nicht in jene Gegend gekommen, und mir waren demnach alle Leute, welche dort wohnten, so gut wie fremd. Im Eifer des Arbeitens und Erzählens achtete ich auch nicht viel auf die Menschen, welche aus dem Hause und über den Hof gingen. Aber eine Person, älter als ich, machte dennoch einen Eindruck auf mich, daß mir Schillers Lied von der Glocke plötzlich erklärbar wurde. Die größte Sehnsucht sollte zuerst in Wirksamkeit treten, als die Ferien beendet waren und ich wieder in die Schule gehen mußte. Anstatt der Karikaturen unserer Lehrer machte ich nun auf den Schulbänken ein verschlungenes Initial mit einem Herzen.

Ich schrieb auch zum erstenmal in meinem Leben einen Brief an den Zimmermann, welcher auch nicht anders anmutete wie der Brief der frommen Helene von Wilhelm Busch. Der Zimmermann hat ihn wohl nicht verstanden oder hielt mich mindestens für verrückt.

Mit diesem wichtigen Lebensabschnitt versickerten unsere Beziehungen. Ob er noch lebt? Ich habe es nie erfahren können. Sobald ich meine Heimat aufsuchte, habe ich mich stets nach ihm, aber ohne Erfolg, erkundigt. Ich nehme an, daß ihn jetzt die Erde deckt.

Aber vielleicht werden wir uns, wenn der heilige Lukas ein Einsehen hat, im Malerhimmel wiedersehen und reden dann über die Erde, wo es so verrückt heute zugeht mit Morden und Schlachten. Wir werden unse re Zeiten loben, wo wir schon brutal gescholten wurden, wenn wir einer Fliege oder einem Huhn den Kopf abhackten.


  • Abbildung Seite 12
    Abbildung Seite 12

  • Abbildung Seite 13
    Abbildung Seite 13

  • Abbildung Seite 14
    Abbildung Seite 14

Quelle:
Corinth, Lovis: Gesammelte Schriften. Berlin: Fritz Gurlitt, 1920., S. 11-14.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Prévost d'Exiles, Antoine-François

Manon Lescaut

Manon Lescaut

Der junge Chevalier des Grieux schlägt die vom Vater eingefädelte Karriere als Malteserritter aus und flüchtet mit Manon Lescaut, deren Eltern sie in ein Kloster verbannt hatten, kurzerhand nach Paris. Das junge Paar lebt von Luft und Liebe bis Manon Gefallen an einem anderen findet. Grieux kehrt reumütig in die Obhut seiner Eltern zurück und nimmt das Studium der Theologie auf. Bis er Manon wiedertrifft, ihr verzeiht, und erneut mit ihr durchbrennt. Geldsorgen und Manons Lebenswandel lassen Grieux zum Falschspieler werden, er wird verhaftet, Manon wieder untreu. Schließlich landen beide in Amerika und bauen sich ein neues Leben auf. Bis Manon... »Liebe! Liebe! wirst du es denn nie lernen, mit der Vernunft zusammenzugehen?« schüttelt der Polizist den Kopf, als er Grieux festnimmt und beschreibt damit das zentrale Motiv des berühmten Romans von Antoine François Prévost d'Exiles.

142 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon