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[88] Unter den aushäusigen Vergnügungen, die mir in Halle zuteil wurden, stand eine Exkursion nach Friedeburg am Fuß des Petersberges obenan, wo ein älterer Bruder meines Lehrers Pastor war. Die Großeltern und Lorchen waren mit, und es fehlte nicht an jeder ländlichen Kurzweil, d.h., man ging spazieren, speiste im Freien, machte und empfing Besuche usw. Am besten gefiel es mir im Pfarrgärtchen bei den Stachelbeeren, in deren Dickicht ich und Lorchen auch meist anzutreffen waren. Da zehrten wir ärger als die bösartigsten Raupen. Als wir uns nun einmal bei diesem Geschäft der Geißblattlaube nahten, wo die Alten Kaffee tranken, rauchten und unserer nicht achten mochten, kam es vor, daß ich mit Essen feierte und auf die sonderbaren Geschichten horchte, die der ältere Bruder Senff und seine Frau zum besten gaben.
Diese Mitteilungen galten einer Erscheinung, die dazumal das allgemeinste Interesse erregte, weil man sie als endlichen Erfahrungsbeweis für die Selbständigkeit der Menschenseele begrüßen zu dürfen glaubte, und von der ich hier zum erstenmal Kenntnis nahm.
Daß die Friedeburger Senffs eine Tochter hatten, welche in jüngster Zeit langwierig krank gewesen und endlich auf rätselhafte Weise genesen war, wußte ich zwar schon aus Lorchens Munde. Sie wäre nämlich, erzählte diese, von ihrer Mutter so lange gestreichelt worden, bis sie geweissagt und selbst die Mittel zu ihrer Heilung angegeben hätte, und das wäre eine neue Methode. Hier unter dem Stachelbeerbusche erfuhr ich nun das Nähere.
Die Kranke nämlich, ein junges Mädchen von Lorchens Alter oder vielleicht auch ein paar Jahre älter, war ganz von selbst in jenen rätselhaften Zustand verfallen, da die Seele ohne sinnliche Vermittlung eine deutliche, stoffdurchdringende Wahrnehmung der objektiven Welt haben soll, und hatte sich selbst während dieser Clairvoyence eine fortgesetzte magnetische Kur verordnet, welche übrigens nicht der Arzt ausführte, sondern die eigens von jener angewiesene Mutter. Der Rapport, welcher sich infolgedessen zwischen Mutter und Kind gebildet hatte, war überaus lieblich, und wurde davon viel erzählt. Beide führten fortan unter gegenseitig gesteigerter Zuneigung ein gewissermaßen gemeinschaftliches Seelenleben, und schlafend sah die Kranke ihren mütterlichen Engel in so leuchtend herrlicher Gestalt, daß sie keine Worte fand, sie zu beschreiben. Wohl aber beschrieb sie klar und deutlich die Mittel zu ihrer Genesung und bestimmte Tag und Stunde, da sie wieder geweckt sein wollte. Unter diesem »Wecken« verstand sie[89] aber das, was man im gemeinen Leben besser »Einschläfern« nennen würde, denn merkwürdigerweise bezeichnete sie den todähnlichen, magnetischen Schlaf mit dem Worte »Wachsein«, während sie den normalen wachen Lebenszustand »Eßschlaf« nannte. Als sie nun, schon in der Besserung, zum letztenmal in ihrer Weise wach war, wußte sie dies und beklagte es bitter, daß ihr von nun an der Anblick der verklärten mütterlichen Gestalt entzogen sein sollte. »Erst im Himmel, Mutter«, hatte sie weinend gesagt, »werde ich dich wiedersehen wie heute, so schön, so herrlich schön!«
Die Kranke war nun schnell und vollständig genesen, und als wir nach Friedeburg kamen, befand sie sich – vielleicht zu einer Nachkur – bei einer befreundeten auswärtigen Familie im ununterbrochensten Eßschlaf, daher ich sie nicht sah.
Das war es, was ich damals aus dem Gespräch der Großen auffing und mir später, bei reiferen Jahren, von Senff bestätigt ward – immerhin genug, in dem Gehirne eines phantastischen Knaben die mannigfachsten Gedanken anzuregen. Namentlich glaubte ich jetzt den Schlüssel zu jener Glorie zu haben, die ich unlängst um meines Lehrers Haupt gesehen hatte. Ich konnte damals wohl ein wenig somnambul gewesen sein und durfte mich in diesem Falle einer Fähigkeit erfreuen, die ich gern einmal zur Perfektion gebracht hätte, namentlich um meine Mutter in ihrer himmlischen Gestalt zu sehen. Die Eindrücke jener Zeit drängten und verdrängten sich indes so rasch, daß ich am einzelnen nicht lange haften konnte.
So brachten wir, nach Halle zurückgekehrt, unter anderem einen Abend bei Senffs zweitem Bruder zu, welcher Anatom und Professor an der Klinik war. Was mir zuerst auffiel, war ein gewisses süßlich widerliches jenesaisquoi, das mir schon auf der Treppe auffiel und alle Räume der Wohnung durchwehte. Die Ursache lag übrigens zutage, denn an den Wänden des Vorsaales prangte eine reiche Sammlung anatomischer Präparate, die in wasserhellem Spiritus alle Gattungen und Arten des Unaussprechlichsten enthielt.
Kinder haben bei ihren Sammlungen kaum andere Zwecke als ästhetische, sie pflegen ihre Schmetterlinge und Siegel nur zur Augenweide aufzustellen; was aber einen erwachsenen Mann bewogen haben konnte, dergleichen ekelhafte Mißgeburten, Geschwülste und Geschwüre nicht nur sorgfältig zu bewahren, sondern obendrein noch damit zu prunken, wie das hier der Fall schien, war mir unverständlich. Inzwischen mußte diese Sammlung dennoch ihren Reiz haben; vielleicht war es der französischer Romane, der Reiz des Gräßlichen, denn während die Großen sich im Nebenzimmer lachend unterhielten, stand ich noch lange allein[90] vor jenen Gläsern und schaute mit genußvollem Abscheu an, was mir so sehr mißfiel. Schon etwas übelig, ward ich zum Essen gerufen, wo meiner eine neue Prüfung wartete. Man war glücklicherweise schon beim Nachtisch, als ein Bürgersmann hereintrat und dem Professor ein ansehnliches Paket in blauem Zuckerpapier überreichte. Dieser schien darüber in so hohem Grade erfreut, daß ich auf einen tüchtigen Pfefferkuchen oder Stollen schloß, den vielleicht ein dankbarer Bäcker für empfangenen ärztlichen Beistand spende. Statt dessen lag nach Entfernung aller Emballagen ein kleiner nackter Kinderleichnam auf dem Tische, mit grünem, hochaufgetriebenem Bauche. Sichtlich befriedigt befühlte und bestreichelte der Gelehrte diesen ohne Zweifel nicht wenig instruktiven Leib, gab dem Manne Geld und sprach zur Magd: »Trag's in den Keller!«
Ob nun noch andere Gründe hinzukamen, weiß ich nicht, kurz, in der Nacht fand in meinem Bette eine Eruption statt, die das ganze Haus alarmierte.