[190] Meine arme Mutter war recht schwer erkrankt, und ich erinnere mich, daß ich bisweilen große Sorge um sie hatte und manche Träne weinte, besonders wenn ich sie so gar nicht sehen durfte, oder wenn der Arzt geheimnisvollen Angesichts aus ihrem Zimmer trat und mit dem Vater flüsterte. Aber Kinder sind nur momentaner Sorge fähig. Wenn ich dann wieder mit den anderen wilderte, sah mir kein Mensch was an. Die Mutter lag am Nervenfieber und war in ihren Phantasien umgeben von den Eindrücken der letzten Jahre, von Krieg und Kriegsgeschrei, sah Truppen ziehen und hörte die Fanfaren der Hörner und Trompeten unausgesetzt bis zur Erschöpfung.
Wir anderen erlebten unterdessen ähnliches in Wirklichkeit, was namentlich für die Tante nicht viel weniger erschöpfend als Phantasien sein mochte. Verschiedene auf dem Rückmarsch begriffene Kosaken- und Baschkirenregimenter passierten nämlich nacheinander Hummelshayn und rasteten daselbst. Das Schloß lag voll von fremden Reitern, und das arme Mühmchen hatte viel zu schaffen, um allen Anforderungen zu genügen, die aus Küche und Keller wie aus der Krankenstube ohne Unterlaß an sie ergingen.
Ich war durch diese friedlichen Kriegsszenen nur angenehm zerstreut. Wir Knaben trieben uns, soviel wir konnten, unter dem fremden Volk umher, befreundeten uns mit einzelnen der Leute und hatten sogar das Glück, daß ein besonders liebreicher Baschkire, ein unproportionierlich dicker Kerl, uns nicht allein den Gebrauch seines Bogens lehrte, sondern uns sogar selbst dergleichen schnitzte, die trefflich schossen. Der Dienst, den unser dicker Gönner uns damit erwies, war aber um so dankenswerter, als er nicht wie unsereiner so ohne weiteres zu seinem Taschenmesser kommen konnte, sondern erst viel Umstände damit hatte. Wir fahren brevi manu in die Tasche und holen heraus, was uns beliebt; jener Baschkire aber hatte zu unserem Erstaunen erst drei Paar weite Hosen ab- und drei lange Unterwesten aufzustreifen, ehe dasjenige Kleidungsstück erreicht war, in dessen Tasche seine sieben Sachen waren. Wie viele Hüllen unter dieser noch zu beseitigen gewesen wären, um bis zum Menschen an sich zu kommen, konnte nicht ermittelt werden; doch dachte ich, daß, wenn der Kerl erst ganz vollständig[190] abgewickelt wäre, so würde er vielleicht so schlank sein wie ein Aal.
Alle diese Asiaten schienen sich in Hummelshayn besonders zu gefallen. Denn nicht allein, daß die Tante jezuweilen mit ihnen in ihrer Muttersprache koste, sie beköstigte sie auch mit nationalen Speisen, mit Roggenbrei, mit Sauerkraut, mit Zwiebeln, Kohl und Salzfischen, so daß sie die meiste Zeit den Hof mit ihrem Jubel füllten, sangen, tanzten, auf dem Kopf standen und sich balgten.
Ein junger Kosak spielte die tatarische Leier, die Balalaika, als Meister und sang dazu wie Orpheus. Die anderen tanzten dann und waren dabei so natürlich, daß Rousseau seine Freude daran gehabt hätte. Sie glichen überhaupt dem Ideale jenes Philosophen ziemlich und hatten alle Eigenschaften der Wilden, mit Ausnahme des eigentlichen Kannibalismus. Ein Rest zwar war auch von diesem noch geblieben, aber doch nur in sublimiertester Gestalt, indem sie nicht sich selber verspeisten, sondern nur, etwa zum Nachtisch und während der Siesta, ihr gegenseitiges Ungeziefer. Mein Vater fand, es gäbe dies den wahren Kreislauf der Säfte, wie wenn Kühe mit ihrer eigenen Buttermilch gefüttert würden.
Mir hatte die Balalaika ganz außerordentlich gefallen. Sie klimperte so hell und lustig, und es erschien mir keine Hexerei, sie zu spielen. Ich fabrizierte mir daher auch eine, welche wohl gelang und, wenn auch gerade nicht fürs Auge und noch weniger fürs Ohr, doch ausreichend für mein Bedürfnis war. Ich befestigte nämlich ein Lineal auf eine alte Schachtel und spannte darauf freilich nicht zwei Saiten, als welche auf eine richtige Balalaika gehören, sondern nur eine, weil mehr nicht aufzutreiben waren. Auch brachte ich die Verschiedenheit der Töne nicht durch Fingerdruck, sondern dadurch zuwege, daß ich das gefällige Lineal mehr oder weniger zurückbog, wodurch die Spannung der Saite verändert ward. Ich hatte ein ganz neues Instrument erfunden, auf welchem ich so viel Geschicklichkeit erwarb, daß Hermann bisweilen, wenn auch mit Anstrengung, die Melodien erraten konnte, die ich vortrug. Die Kosaken lobten mich sehr ausdrucksvoll und legten mir nichts in den Weg, wenn ich den zweiten Diskant zu ihren Tänzen klimperte.
Kurz vor dem Abzug des fröhlichen Völkchens erlebten wir noch eine kleine Untat und deren Korrektion. Es wurden ein paar Löffel, ein Bettuch und andere Kleinigkeiten vermißt, die sich sämtlich in den weiten Hosen des Balalaikakünstlers wiederfanden. Dafür ließ ihn sein Hetman vor das Schloßtor führen und ihn ohne alle Kommiseration zerdreschen. Ein paar Kameraden packten den Delinquenten bei den[191] Haaren, rissen ihn zu Boden und walkten ihn dermaßen mit ihren Kantschus ab, daß der Jagdjunker von Ende ihm wenigstens hundert bleierne Kreuzchen als Äquivalent geschuldet hätte. Der arme Kerl wand sich im Staube wie ein Wurm, und seine Kleider, Bart, Haar und Gesicht überzogen sich mit allen Elementen des Fahrweges, bis die Fürsprache des zufällig dazu kommenden Oheims ihn befreite.
Es war das erstemal in meinem Leben, daß ich einer ernstlichen Prügelexekution beiwohnte. Der Eindruck war überaus empörend. Daß Menschen eine Gewalt über ihresgleichen übten wie über Hunde, schien mir schimpflich. Man hätte meiner Meinung nach den Mann vermahnen mögen so eindringlich und beweglich, als man irgend wollte, oder auch ihn einsperren bei gesunder Kost und in gesunden Räumen; sich aber an ihm vergreifen, das schien aller Menschenwürde hohnzusprechen und entehrend für beide Teile.
Mein Kosak schien sich inzwischen an seiner Ehre so wenig gekränkt zu finden als etwa ein Korpsstudent, der aus dem Karzer tritt. Als er sich kniend bei seinem Offizier für Strafe und bei dem Oheim für dessen Fürsprache bedankt hatte, zogen die Kameraden mit ihm davon. Sie achteten ihn gerade wie zuvor und tanzten auch am Abend wieder nach seiner Balalaika.