Rieseneck und Orlamünde

[192] Die Mutter war unter der Behandlung des seinerzeit berühmten Hofrats Stark in Jena so weit genesen, daß sie zu nachträglicher Stärkung eine Badereise antreten konnte. Sie wählte die ihr bekannte Radeberger Quelle, und der Vater mit dem Schwesterchen begleitete sie dahin. Warum mein Bruder und ich nicht auch von der Partie sein konnten, weiß ich nicht. Wir blieben in Hummelshayn zurück, wo es nun recht einsam ward; denn da nun auch der Oheim sich nach Karlsbad, Herr Bäring aber auf eine Vergnügungsreise begab, so war die Hausgenossenschaft sehr eingeschmolzen. Die liebenswürdige Tante war alles in allem; sie war aber auch Ersatz für alles, sie gab sich uns jetzt gänzlich[192] hin, wir arbeiteten und spielten meist unter ihren Augen und freuten uns den ganzen Tag auf die schönen Exkursionen, die sie des Abends mit uns machte.

Die Lage Hummelshayns begünstigte dergleichen. Ein prächtiger Hochwald, der die ganze Dorfflur einschloß, zog sich bis an den Hetzgarten heran. Dieser Wald war Anfang und Ende unserer Ausflüge. Wir pilgerten aufs Geratewohl durch dick und dünn, durch feuchte Gründe und über würzige Höhen, von denen sich mitunter die schönsten Fernsichten ergaben ins Saaltal hinein und auf die Leuchtenburg. An irgendeinem bequemen Platze ward gelagert. Aus Heidekraut und Moos bereiteten wir der Tante einen Sitz, schleppten Holz herbei, zündeten Feuer an, brieten mitgebrachte Kartoffeln in der Asche oder schmorten Steinpilze, die wir unterwegs gesammelt hatten. Durch Geplauder und Gesang ward das Mahl gewürzt, oder auch die Tante erzählte uns Geschichten aus alter Heldenzeit, die sie zum großen Teil selbst erfinden mochte, die uns aber immer für Vaterland, für Ehre und Manneswürde begeisterten.

Sehr liebten wir alle einen abgelegenen Ort im Walde, da vorzeiten ein im Dreißigjährigen Krieg zerstörtes Dorf gestanden hatte. Noch jetzt zirpten die Heimchen im Dickicht unter versunkenen Feuerstellen. Das Dorf hatte Rieseneck geheißen; jetzt trug diesen Namen eine von Tannen und Buchen umstandene Waldwiese, die mit Heuraufen und Krippen zum Behuf der Hirschfütterung versehen war. Ein einsames Jagdhaus stand am Rande, aus dessen Fenstern man die Wiese übersah. Von hier liefen unterirdische Gänge aus, dicht vor jener Futterstelle in kleine, mit Schießfenstern versehene Rasenhügel aufsteigend. Diese Vorkehrung hatte den Zweck, das Wild aus nächster Nähe zu betrachten oder auch fürstlichen Personen einen sicheren und mühelosen Schuß zu gewähren. Oh, welche Lust! wenn nun das Waldhorn seine weichen, langgezogenen Töne in den Forst hinausrief und die Hirsche sich stolz und langsam, einzeln und in Rudeln, der Fütterung nahten, und wir staken mit verhaltenem Atem in den Löchern so nahe, daß wir den Spiegel im Auge der edeln Tiere sahen! Sperlinge, Krähen und Rebhühner habe ich später genugsam und ohne sonderliche Kommiseration erlegt; die Hasen, die ich geschossen, taten mir schon leid; aber auf einen Hirsch zu schießen, hätte ich mich ohne Hungersnot nicht wohl entschließen können, und zwar wegen der näheren Bekanntschaft, die ich damals auf dem Rieseneck mit diesen edlen Tieren gemacht hatte.

Über den Rieseneck hinaus lag eine Höhe, von wo man über Tannenwipfel das ferne Orlamünder Grafenschloß erblickte. Hier lagerten wir[193] eines Abends im Heidekraut um das verglimmende Feuer. Die blasse Mondessichel hing am Himmel, und aus der Tiefe stiegen Dünste. Die Rede kam natürlich auf die Weiße Frau von Orlamünde, wie sie im Berliner Königsschloß, zu Weimar und anderwärts bis in die neueste Zeit unzweifelhaft gesehen worden. Und hier im Angesicht der alten Mauern, die sie bewohnt hatte, erzählte uns die Tante etwa die folgende Legende:

Vor alten grauen Zeiten, als in deutschen Landen noch die Faust regierte, lebte in jenem Schlosse eine junge verwitwete Gräfin mit zwei kleinen Knaben, deren Vormund der junge ritterliche Burggraf Friedrich von Hohenzollern war. Der kam bisweilen angeritten, um nach seinen Mündeln zu sehen, und weil er ein gar stattlicher Herr war, von edler Sitte und voll Achtung für die Frauen, so geschah es, daß die Gräfin ihn sehr lieb gewann. Wenn er daher nach Orlamünde kam, bezeigte sie sich so freundlich und demütig gegen ihn, daß sie auch sein Herz gewann und er sie gar zu gern zur Frau genommen hätte. Er war aber ein guter und getreuer Sohn, und da er merkte, daß seine Eltern gegen die Verbindung waren, so schwieg er still und wollte warten, bis die verehrten Alten anderen Sinnes würden. So verlief ein Jahr nach dem anderen – der Graf blieb immer stumm und dem Anschein nach so kalt wie ein Marmorstein gegen die schöne Witwe, die er doch von Herzen liebte.

Da hörte die tiefbetrübte Frau von einem Mönch, der ihr Vertrauter und in ihren Geschäften auf dem Hohenzollern gewesen war, daß der junge Graf geäußert habe, die Gräfin Orlamünde sei die schönste Blume in deutschen Auen; solange sich aber nicht vier Augen schlössen, könne er sie nicht in seine Krone flechten. Damit mochte er seine Eltern gemeint haben; die Gräfin aber deutete die Rede auf ihre Kinder. Da fuhr der Satan ihr ins Herz, daß sie dieselben heimlich erwürgte. Sie beweinte sie aber öffentlich und begrub sie mit Gepränge.

Inzwischen war die Sache ruchbar geworden und vor ein heimliches Gericht gebracht, das bei nächtlicher Weile einen Span aus dem Orlamünder Schloßtor hieb und die Gräfin verfemte. Graf Friedrich aber war Schöffe des Gerichtes und wurde mit der Ausführung des Spruches beauftragt, der auf Tod lautete. Er allein unter allen Richtern mochte den Grund des Verbrechens erraten und sollte nun diejenige opfern, die ihn mehr geliebt hatte als ihre eigenen Kinder. Aber er war ein Mann und pflichtgetreuer Richter. Die Gräfin fiel von seiner Hand. Als ruheloser Schatten durchwandert sie nun, Unheil verkündend, die Häuser derer, die von dem geliebten Mörder stammen.

Die Tante hatte uns diese tragische Geschichte so vorgetragen, daß wir[194] entzückt waren von der Tat des Grafen. Wir sprachen davon noch lange auf dem Rückwege und zweifelten nicht, daß wir uns bei ähnlicher Gelegenheit nicht weniger mannhaft zeigen würden.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 192-195.
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